11. Ich kann auch ohne Kirche Christ sein.

Von denen, die diesem Satz zustimmen und sich danach entsprechend dann auch verhalten, wird dieser Satz in aller Regel nicht als „Argument gegen den christlichen Glauben“ verstanden, im Gegenteil: Man will ja durchaus selber Christ sein, für den christlichen Glauben sein – nur: für die Kirche ist in diesem Glauben eben keinen Platz; es geht doch scheinbar auch ohne sie.

Nun ist die Bezeichnung „Christ“ kein registriertes Markenzeichen, für das jemand die Rechte besitzt und dessen Gebrauch er entsprechend anderen streitig machen könnte. Natürlich kann sich grundsätzlich auch ein Atheist als „Christ“ bezeichnen, weil er unter „Christ“ vielleicht nur jemanden versteht, der sich moralisch anständig zu verhalten versucht und sich besonders für die Armen und Schwachen einsetzt. In der Tat wird der oben genannte Satz häufig genau in diesem Sinne verwendet. Statt „Ich kann auch ohne Kirche Christ sein“ gibt es den Satz ja auch in der Variante „Ich kann auch ohne Kirche ein guter Mensch sein.“

Gegen die Behauptung in der letzteren Fassung haben wir auch als Christen nichts einzuwenden: Wir kommen keinesfalls auf die Idee, dass nur derjenige ein guter, anständiger Mensch sein kann, der an Jesus Christus glaubt. Auch Atheisten, Muslime und Agnostiker können sehr nette, angenehme, hilfsbereite Menschen sein, auch wenn sie die Motivation für ihr Handeln nicht aus dem Glauben an Jesus Christus schöpfen. Ja, es geschieht nicht selten, dass Nichtchristen mit ihrem moralischen Verhalten uns Christen sogar beschämen. Das ist möglich, auch wenn diese Menschen vielleicht in ihrem Leben noch keine Kirche von innen gesehen haben.

Doch genau das würden wir bestreiten, dass „Christ“ zu sein nichts anderes bedeutet als „ein guter Mensch“ zu sein. Gewiss sollten wir uns auch als Christen darum bemühen, liebevoll und freundlich mit unseren Mitmenschen umzugehen. Ja, man kann und darf auch sehr wohl behaupten, dass der christliche Glaube eines Menschen sich insgesamt sehr positiv auf sein Verhalten gegenüber anderen Menschen auszuwirken vermag – auch wenn es hierfür leider auch immer wieder bedauerliche Gegenbeispiele gibt. Doch Christ zu sein, bedeutet eben noch einmal etwas ganz Anderes, so macht es zumindest das Neue Testament deutlich, das ja zweifelsohne die grundlegende Urkunde des christlichen Glaubens darstellt.

Der Name „Christen“ wird dem Neuen Testament zufolge zuerst offenbar von Nichtchristen angewendet – und zwar bezeichnenderweise auf eine christliche Gemeinde, die Gemeinde in Antiochien. „Christen“ werden sie genannt, weil sie offenbar immer von „Christus“ reden, also davon, dass Jesus von Nazareth nicht bloß ein guter Mensch war, sondern der von Gott gesandte Herr und Retter. „Christ“ zu sein, bedeutet also, in einer Beziehung zu Christus zu stehen, die darüber hinausgeht, dass man Jesus von Nazareth als großes Vorbild oder als Weisheitslehrer verehrt. Genauer gesagt wird diese Beziehung zu Christus dadurch bestimmt, dass Christus der Gekreuzigte ist, der durch seinen Tod das Verhältnis von uns Menschen zu Gott in Ordnung gebracht hat. Christ zu sein bedeutet also gerade nicht: sich anständig zu verhalten, selber etwas Gutes zu tun. Sondern Christ zu sein bedeutet: davon zu leben, dass mir Gott um Christi willen vergibt, dass ich in Wirklichkeit kein guter Mensch bin.

Und diese Vergebung ist dem Neuen Testament zufolge keine allgemeine Wahrheit, an die man sich zur Not auch einfach ganz allein im stillen Kämmerlein erinnern kann, sondern diese Vergebung wird Menschen durch ganz bestimmte Vollzüge zuteil, die Christus selber gestiftet hat.
Und damit sind wir nun schon ganz direkt bei dem Thema, warum wir ohne Kirche nicht Christen sein können. Die Kirche ist nichts Anderes als eben dieser Ort, an dem Menschen durch bestimmte Vollzüge Gottes Vergebung geschenkt wird, die sie zu Christen macht.

Das geht schon ganz grundlegend los mit der Taufe: Ich kann schon deswegen nicht ohne Kirche Christ sein, weil mein Christsein begründet ist in meiner Taufe. Es gibt genau genommen keine ungetauften Christen – allerhöchstens Menschen, die sich darum im weiteren Sinne als Christen bezeichnen können, weil sie sich auf dem Weg zur Taufe befinden. Das in unserer St. Mariengemeinde besonders beliebte Lied: „Lasset mich voll Freuden sprechen: Ich bin ein getaufter Christ“ enthält von daher in der Tat einen Pleonasmus, also einen Ausdruck, in dem mit zwei Wörtern jeweils dasselbe ausgesagt wird: ein „getaufter Christ“. Doch kann ein solcher Pleonasmus in der Rhetorik bewusst zur Verdeutlichung eingesetzt werden: Christ bin ich eben darum, weil ich getauft bin. Und taufen kann ich mich nun mal nicht selber, sondern ich muss von jemand anders getauft werden – und schon brauche ich die Kirche in Gestalt dieses anderen, der mich tauft. Zudem werde ich durch die Taufe zugleich auch immer Glied am Leib Christi, Glied der Kirche – und diese Zugehörigkeit zum Leib Christi lässt sich auch durch den Austritt aus einer kirchlichen Organisation nicht aufheben oder rückgängig machen.

Ohne Kirche können wir nicht Christen sein, weil wir auch nach unserer Taufe Gottes Vergebung benötigen und weil wir uns diese Vergebung ebenso wenig selber spenden können, wie wir uns die Taufe selber spenden können. Ich brauche das Gegenüber, das mir die Vergebung zusagt – und schon brauche ich wieder die Kirche in der Gestalt dieses Anderen, der mir die Sünden vergibt – in der Vollmacht, die Christus selber Seiner Kirche gegeben hat.

Als Christ brauche ich also die Kirche gleichsam als „Gegenüber“, die an mich weiterreicht, was ich mir nicht selber besorgen kann. In diesem Sinne hat der heilige Cyprian treffend formuliert: „Niemand kann Gott zum Vater haben, der die Kirche nicht zur Mutter hat.“ Und ich brauche die Kirche zugleich auch in der Gestalt der Brüder und Schwestern, die mit mir gemeinsam glauben. Gewiss hat es in der Geschichte der Kirche immer wieder Notzeiten gegeben, in denen Christen völlig auf sich allein gestellt waren, weil sie von ihren Brüdern und Schwestern getrennt wurden, zum Beispiel in Zeiten der Christenverfolgung. Doch diese Existenz ohne Brüder und Schwestern wurde von den Betroffenen stets als nicht normal, sondern als große Not empfunden, in der die Betroffenen letztlich von ihren Erfahrungen zehrten, die sie zuvor in der Gemeinschaft mit anderen Christen gemacht hatten. Und es ist von daher nur folgerichtig, dass gerade auch in Verfolgungszeiten Christen immer die Gemeinschaft mit anderen Christen gesucht haben, um eben so geistlich überleben zu können. Wer dagegen freiwillig auf die Gemeinschaft mit anderen Christen in der Kirche verzichtet und glaubt, ohne diese Gemeinschaft leben zu können, begibt sich damit völlig unnötig in eine geistliche Notsituation hinein, die oft genug dazu führt, dass man selber gar nicht mehr wahrnimmt, wie unbiblisch die eigene Existenzweise als Christ ist, die man mit seiner Absonderung als Christ selber gewählt hat.

Damit sind wir schon bei einem weiteren Argument, weshalb es schwerlich möglich ist, ohne Kirche Christ zu sein: Die Kirche und ihre Verkündigung dienen mir immer wieder als heilsames Korrektiv zu meinen eigenen Versuchen, mir selber einen Glauben nach meinen Wünschen und Vorstellungen zusammenzubasteln. Genau in dieser Gefahr stehen wir als Menschen ohnehin immer wieder, dass wir selber das, was wir glauben, für christlich halten, ohne wahrzunehmen, wo wir uns mit unseren Vorstellungen längst vom biblischen Glauben entfernt haben. Nicht umsonst liegt der Ursprung fast aller Sekten darin, dass Menschen meinten, auch ohne Kirche Christen sein und die Heilige Schrift ohne Kirche verstehen und auslegen zu können. Dagegen ist es wichtig und hilfreich, wahrzunehmen, dass es auch schon vor mir Christen gegeben hat, die die Heilige Schrift studiert haben, die in ihrem Glauben an Christus Erfahrungen gemacht haben, die auch mich in meinem Glaubensleben voranbringen oder eben auch korrigieren können. Es ist von daher kein Zufall, dass man bei vielen Menschen, die behaupten, sie könnten auch ohne Kirche Christen sein, auf geradezu abstruse Glaubensvorstellungen stößt, die sich nur dadurch entwickeln konnten, dass die Betreffenden keinerlei Austausch mit anderen in Fragen des Glaubens und auch keine Anregungen und Korrekturen durch den Glauben der Kirche bekommen haben.
 
Im Neuen Testament wird aber auch noch aus einem anderen Grunde bestritten, dass man auch ohne Kirche Christ sein kann: Die Kirche ist der Ort, an dem wir unseren Glauben und unsere Liebe zum Nächsten ganz konkret bewähren sollen. Es gibt ja das schöne Sprichwort: Freunde kann man sich aussuchen, Geschwister nicht. Eben darum geht es in der Kirche: Sie ist kein Freundeskreis oder ein Kreis von Gleichgesinnten, sondern ein Kreis von sehr unterschiedlichen Menschen, mit denen wir dennoch dadurch verbunden sind, dass sie durch die Taufe unsere Brüder und Schwestern sind. Und um diese ganz konkrete Gemeinschaft geht es auch im Neuen Testament, wenn es im 1. Johannesbrief heißt: „Wenn jemand spricht: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner.“ (1. Joh 4,20) Ich kann nicht Gott lieben und seine Familie dabei ausklammern. Sondern das Leben in der Familie Gottes ist die Existenzform, die Gott für unser Leben als Christen und für unseren Glauben vorgesehen hat. 

Gewiss kann man sich über Vertreter der Kirche und über kirchliche Organisationen ärgern und von ihnen distanzieren. Doch diese Distanzierung entbindet nicht von der Frage danach, wo man denn nun selber sein eigenes geistliches Zuhause hat, in dem einem Gottes Vergebung zugeeignet wird und in dem man sein Christsein in der Gemeinschaft der Brüder und Schwestern praktiziert, indem man sich selber dort mit seinen Gaben einbringt. „Kirche“ sind eben nicht bloß die anderen; „Kirche“ sind auch wir selber.

„Kirche“ wird aber vor allem immer wieder daran erkennbar, dass in ihr das Evangelium so verkündigt wird, wie es der Heiligen Schrift entspricht, und dass in ihr die Sakramente nach der Einsetzung Christi verwaltet werden. Das – und nicht bloß die Frage, ob man sich irgendwo „wohlfühlt“ – sollte der Maßstab dafür sein, wo unser Zuhause ist, das wir als Christen brauchen. Und wer einmal erkannt und erfahren hat, wie ohne das Wort und die Sakramente und ohne die Gemeinschaft mit den Brüdern und Schwestern der eigene Glaube verkümmert und vertrocknet und höchstens noch als intellektuelle Gedankenübung oder als private Frömmigkeit existiert, der wird dann auch ganz von selber bekennen: „Ohne die Kirche, ja, ohne meine Kirche, kann und will ich nicht Christ sein. Und weil ich Christ bin und bleiben will, bin ich froh, die Kirche zu haben und ihr Glied zu sein.“