8. - Artikel 7: Über die Kirche

Es wird auch gelehrt, dass allezeit die eine, heilige, christliche Kirche sein und bleiben muss. Sie ist die Versammlung aller Gläubigen, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente dem Evangelium gemäß gereicht werden. Denn das genügt zur wahren Einheit der christlichen Kirche, dass das Evangelium einmütig im rechten Verständnis verkündigt und die Sakramente dem Wort Gottes gemäß gereicht werden. Für die wahre Einheit der christlichen Kirche ist es daher nicht nötig, überall die gleichen, von den Menschen eingesetzten kirchlichen Ordnungen einzuhalten – wie Paulus an die Epheser schreibt: „Ein Leib und ein Geist, wir ihr auch durch eure Berufung zu einer Hoffnung berufen seid, ein Herr, ein Glaube, eine Taufe“ (Eph 4,4f).

Am 29. Juli 1928 predigte der gerade 22jährige Vikar Dietrich Bonhoeffer in der evangelischen Auslandsgemeinde von Barcelona über 1. Kor 12: „Es gibt ein Wort, das bei dem Katholiken, der es hört, alle Gefühle der Liebe und der Seligkeit entzündet, das in ihm alle Tiefen des religiösen Empfindens von Schauer und Schrecken des Gerichtes bis zur Süßigkeit der Gottesnähe aufwühlt, das ihm aber ganz gewiss Heimatgefühle wachruft, Gefühle wie sie nur ein Kind der Mutter gegenüber in Dankbarkeit, Ehrfurcht und hingegebener Liebe empfindet; Gefühle, wie sie einen überkommen, wenn man nach langer Zeit einmal wieder sein Elternhaus, seine Kinderheimat betritt. Und es gibt ein Wort, das bei den Evangelischen den Klang von etwas unendlich Banalem hat, etwas mehr oder weniger Gleichgültigem und Überflüssigem, das einem das Herz nicht höher schlagen lässt, mit dem sich so oft Gefühle der Langeweile verbinden, das aber zum mindesten unseren religiösen Gefühlen keine Flügel verleiht. Und doch ist unser Schicksal besiegelt, wenn wir nicht diesem Wort einen neuen oder vielmehr den uralten Sinn wieder abzugewinnen vermögen. Weh uns, wenn uns dies Wort – das Wort von der Kirche – nicht in Bälde wieder wichtig, ja, ein Anliegen unseres Lebens wird. Ja, ‚Kirche’ heißt dies Wort, dessen Sinn wir vergessen haben und von dessen Herrlichkeit und Größe wir heute etwas schauen wollen.“

Um nicht weniger geht es auch heute, wenn wir als lutherische Christen auf der Basis des 7. Artikels des Augsburger Bekenntnisses danach fragen, was denn die Kirche sei und was sie für uns und unseren Glauben bedeutet: Wenn wir von Kirche sprechen, dann haben wir auf der einen Seite ein Selbstverständnis von Kirche vor Augen, wie es in der römisch-katholischen Kirche vertreten wird, wonach Kirche im Vollsinn eigentlich nur in der Gemeinschaft mit dem Papst als dem Oberhaupt der Kirche vorhanden ist. Auf der anderen Seite sind wir konfrontiert mit dem protestantischen Missverständnis von Kirche, wonach Kirche sich bildet „durch das Zusammentreten der einzelnen Wiedergeborenen zu einem geordneten Aufereinanderwirken und Miteinanderwirken“, wie es der Kirchenvater des modernen Protestantismus, Friedrich Schleiermacher, so treffend formuliert hat. Kirche geht ihm zufolge auf die Initiative der einzelnen Gläubigen zurück; sie muss sich immer wieder erst hier und da „bilden“ und gründet sich letztlich auf die Gläubigkeit ihrer einzelnen Mitglieder. Kein Wunder, dass Kirche auf diesem Hintergrund als etwas mehr oder weniger Gleichgültiges empfunden wird und sie nur hier und da einmal gebraucht wird, wenn man ein „Bedürfnis“ nach ihr verspürt!  

Dagegen formuliert der 7. Artikel des Augsburger Bekenntnisses gleich zu Beginn ganz klar und eindeutig: Kirche „bildet“ sich nicht erst hier und da; sondern die Kirche geht immer schon dem Glauben und dem einzelnen Glaubenden voraus. Sie ist ihrem Wesen nach „katholisch“, das heißt: alle Zeiten und den gesamten Erdkreis umfassend. Eine Kirche, die in diesem Sinne nicht „katholisch“ ist, sondern sich erst Jahrhunderte oder gar erst 1500 Jahre nach dem ersten Pfingstfest gebildet hat, ist ganz gewiss nicht Kirche Jesu Christi, sondern eine Sekte. Melanchthon macht dagegen im 7. Artikel des Augsburger Bekenntnisses ganz deutlich: Wir sind keine neue Kirche, und wir gründen keine neue Kirche. Sondern was wir lehren, ist Lehre der einen, heiligen, christlichen Kirche aller Zeiten. Wir klinken uns nicht aus der Tradition der Kirche aus, sondern stehen ganz bewusst in ihrer Einheit, auch und gerade da, wo wir Missstände in ihr kritisieren. Und zugleich wissen wir: Die Zukunft der Kirche hängt nicht an uns und unseren Bemühungen; sie lebt von der Verheißung des Herrn, dass die Pforten der Hölle sie nicht überwältigen werden. Mit den Worten Martin Luthers: „Wir sind es doch nicht, die da könnten die Kirche erhalten, unsere Vorfahren sind es auch nicht gewesen, unsere Nachkommen werden es auch nicht sein, sondern der ist’s gewesen, ist’s noch und wird es sein, der da spricht: Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“  

Doch wo und wie kann man nun diese Kirche erkennen, die unserem Glauben immer schon vorausgeht und die „die Mutter“ ist, „die einen jeglichen Christen zeugt und trägt“, wie es Martin Luther im Großen Katechismus formuliert? Das Augsburger Bekenntnis beantwortet diese Frage weder mit dem Hinweis auf eine kirchliche Hierarchie noch mit dem Hinweis auf die Gläubigkeit derer, die glauben, sie könnten sich zu einer Kirche zusammenschließen. Sondern es verweist ganz konsequent auf den Gottesdienst als den Ort, wo die eine heilige katholische Kirche erkennbar und sichtbar wird: Kirche ist ihrem Wesen nach „Versammlung“; sie ist geschart um Wort und Sakrament. Nicht die Gläubigen versammeln „sich“, sondern Christus versammelt seine Herde (dies Wort steckt im lateinischen Wort für „Versammlung“), um sie mit seinen Gaben zu beschenken. Das Augsburger Bekenntnis entfaltet also, mit einem Fachausdruck formuliert, eine sogenannte „eucharistische Ekklesiologie“, eine Lehre von der Kirche, die ganz von der gemeinsamen Feier des Heiligen Mahles in der Gemeinde vor Ort ausgeht – ganz ähnlich übrigens, wie dies heutzutage auch in der orthodoxen Theologie beschrieben wird. Statt „Versammlung der Gläubigen“ formuliert der lateinische Text des Augsburger Bekenntnisses „Versammlung der Heiligen“ und macht damit deutlich, dass nicht die Kirche durch den Glauben ihrer Mitglieder erschaffen wird, sondern die Gottesdienstteilnehmer durch Wort und Sakrament „geheiligt“ werden, in die Gemeinschaft mit Christus eingebunden werden und eben dadurch glauben.

Weil Christus die Gaben seines Heils durch Menschen austeilen lässt, geht er damit zugleich das Risiko ein, dass eben diese Menschen seine Gaben verfälschen und verdunkeln. Wo dies geschieht, da wird die eine, heilige, christliche Kirche nicht mehr erkennbar, da ist sie eben dort nicht mehr oder zumindest nicht mehr eindeutig zu finden. Die Kirche Jesu Christi ist dort, wo das Evangelium „rein gepredigt“ und die Sakramente „dem Evangelium gemäß“, also der Stiftung Christi gemäß gereicht werden, betont der 7. Artikel des Augsburger Bekenntnisses; sie ist nicht unbedingt dort, wo einfach „irgendetwas“ gepredigt wird und wo die Sakramente „irgendwie“ gefeiert werden. Von daher kann es geschehen, dass sich eine Institution Kirche nennt, ohne es in Wirklichkeit noch zu sein. Dort, wo nicht Christus, sein Sterben und Auferstehen uns zugut, verkündigt wird, dort, wo Menschen nicht mit dem Zuspruch der Vergebung der Sünden getröstet werden, sondern stattdessen nur darüber belehrt werden, was sie als Christen zu tun haben – vielleicht gar, welche politischen Auffassungen sie zu vertreten haben, dort ist nicht die Versammlung derer, bei denen das Evangelium rein gepredigt wird, sprich: dort ist nicht die Kirche, von der das Augsburger Bekenntnis hier spricht. Dort, wo aus dem Gnadengeschenk der Taufe ein Bekenntnisakt des Menschen gemacht wird, wo aus der Speise des heiligen Leibes und Blutes Christi ein Mahl der mitmenschlichen Gemeinschaft gemacht wird, wo die Vergebung der Sünden nicht mehr vollmächtig zugesprochen wird, sondern durch Formen menschlicher Seelenmassage ersetzt wird, dort ist nicht die Versammlung derer, bei denen die Sakramente dem Evangelium gemäß gereicht werden. Damit soll nicht denen, die in ihrer konkreten Gemeinde von solchen Missständen betroffen sind, grundsätzlich der Glaube an Christus abgesprochen werden. Martin Luther hat gerade mit Verweis darauf, dass es die eine, heilige, christliche Kirche zu allen Zeiten gegeben hat und gibt, betont, dass auch in den dunkelsten Zeiten der Verfälschung des Evangeliums in der Kirche Christus dennoch immer wieder Wege gefunden hat, Menschen mit seinem Wort und Sakrament zu erreichen und sie dadurch selig zu machen.

Doch als Christen, die in Gottes Wort unterrichtet sind, haben wir in der Tat die Aufgabe, darauf zu achten, dass wir uns zu einer Kirche und Gemeinde halten, in der tatsächlich das Evangelium rein gepredigt wird und die Sakramente nach der Einsetzung Christi gereicht werden. Maßstab meiner Zugehörigkeit zu einer Kirche darf nicht die äußere Größe einer Kirche sein, auch nicht die Gewohnheit, dass ich doch immer schon zu einer bestimmten Kirche gehört habe. Sondern es darf immer wieder nur um diese eine Frage gehen: Wird hier das Evangelium unverfälscht gepredigt, werden hier die Sakramente so gereicht, wie dies der Stiftung Christi entspricht? Und da kann es sehr wohl sein, dass sich Christen genötigt sehen, „ihre“ Kirche zu verlassen, eben um in der Einheit der einen, heiligen, katholischen Kirche zu bleiben und diese Einheit nicht preiszugeben.

Die Existenz verschiedener „Kirchen“ ist keine Frage der Folklore, sondern ein Skandal, der dem Wesen der Kirche Jesu Christi, eine zu sein, ganz und gar widerspricht. Und doch lässt sich dieser Skandal nicht dadurch beseitigen, dass man Kirchen, die Unterschiedliches lehren und praktizieren, organisatorisch einfach zusammenschließt zu einer Union. Sondern wahre Einheit der Kirche ist nur da vorhanden, wo Einmütigkeit in der Verkündigung des Evangeliums und in der Lehre und Verwaltung der Sakramente besteht. Diese Einheit kann nicht von Menschen geschaffen, sondern immer wieder nur erbeten und geschenkt werden – und soll dann auch dankbar wahrgenommen und anerkannt werden, wo sie besteht. In diesem Verständnis von Ökumene sind wir uns als lutherische Christen mit dem jetzigen Papst Benedikt XVI. sehr einig, der eben dies bei seinem Besuch im Augustinerkloster in Erfurt im vergangenen Jahr noch einmal deutlich zum Ausdruck gebracht hat.

Die Einheit der Kirche kann nicht durch kirchliche Ordnungen gesichert werden, wenn ihre innere Einheit nicht besteht oder längst zerbrochen ist, so macht es das Augsburger Bekenntnis hier abschließend deutlich. Umgekehrt ist die wahre Einheit der Kirche so stark, dass sie auch unterschiedliche kirchliche Ordnungen ertragen kann und nicht auf Einheitlichkeit in allen Ordnungsfragen drängen muss. Melanchthon musste damals verteidigen, weshalb die Nichtbefolgung bestimmter kirchlicher Ordnungen und Traditionen nicht bedeutet, dass man sich damit aus der Einheit der Kirche Christi ausschließt. Dies darf für uns heute aber kein Argument sein, der „Häresie der Formlosigkeit“ zu verfallen, die der Schriftsteller Martin Mosebach mit Recht in der Kirche beobachtet und beklagt hat. Gerade wenn wir um die Fortdauer der einen, heiligen, katholischen Kirche durch alle Zeiten hindurch wissen, tun wir gut daran, diese Fortdauer auch in der Art und Weise deutlich werden zu lassen, wie wir unsere Gottesdienste feiern: Nicht wir schaffen die Kirche durch unser „Zusammentreten“, durch unsere Gestaltung von Gottesdiensten. Sondern wir leben als Christen von dem, was uns schon vorgegeben ist, wir leben von der Kirche, die schon vor uns da war und in der allein wir bekommen, was wir brauchen, um selig zu werden: Gottes Geist, Gottes Vergebung durch Gottes Wort und Sakrament. Doch jede Form wäre hohl, wenn sie nicht mit dem Inhalt dessen gefüllt wäre, was allein Kirche als Kirche erkennbar werden lässt: mit der unverfälschten Verkündigung des Evangeliums und der rechten Verwaltung der Sakramente. Alles andere wäre in der Tat „Brimborium“.