11. - Artikel 10: Vom heiligen Abendmahl

Vom Abendmahl des Herrn wird so gelehrt, dass der wahre Leib und das wahre Blut Christi wirklich unter der Gestalt des Brotes und Weines im Abendmahl gegenwärtig sind und dort ausgeteilt und empfangen werden. Deshalb wird auch die Gegenlehre verworfen.

Der zehnte Artikel des Augsburger Bekenntnisses, „Vom heiligen Abendmahl“, ist einer der kürzesten. Das bedeutet jedoch gerade nicht, dass er einer der unwichtigsten wäre. Vielmehr bringt Melanchthon mit dieser Kurzfassung zum Ausdruck, dass in der Frage des heiligen Abendmahls zwischen den Bekennern von Augsburg und den „Altgläubigen“ kein wesentlicher Diskussionsbedarf besteht.

Um dies recht verstehen zu können, müssen wir uns zunächst noch einmal vergegenwärtigen, was denn das Heilige Abendmahl eigentlich ausmacht, worin das Wesen dieses Sakraments besteht. Martin Luther hatte es im Jahr zuvor in seinem Kleinen Katechismus auch für Gemeindeglieder meisterhaft zusammengefasst: „Es ist der wahre Leib und Blut unseres Herrn Jesus Christus, unter dem Brot und Wein uns Christen zu essen und zu trinken von Christus selbst eingesetzt.“ Das Heilige Abendmahl wird also nicht als ein gemeinschaftliches Ritual beschrieben, bei dem es eigentlich nur irgendwelche spitzfindigen Theologen näher interessiert, in was für einem Sinne denn dabei auch von dem Leib und dem Blut Christi gesprochen wird, ob das denn nur ein Bild sein soll oder vielleicht doch noch etwas mehr. Sondern das Sakrament des Altars ist der wahre Leib und Blut unseres Herrn Jesus Christus. Das macht Sinn, Inhalt und Wesen dieses Sakraments aus, dass es der wahre Leib und Blut Jesu Christi ist, der von denen, die am Sakrament teilhaben, mit ihrem Mund empfangen wird. Eine wie auch immer geartete Mahlfeier, bei der geleugnet oder verdunkelt wird, dass es der wahre Leib und Blut unseres Herrn Jesus Christus ist, der da unter dem Brot und Wein den Christen ausgeteilt wird, ist also nach unserem lutherischen Bekenntnis nicht das Mahl des Herrn, nicht das Sakrament, das Christus selbst eingesetzt hat.

In derselben Weise konzentriert sich auch Philipp Melanchthon hier im 10. Artikel des Augsburger Bekenntnisses auf die Realpräsenz, die wirkliche Gegenwart des Leibes und Blutes Christi im Heiligen Mahl. Die ist das Entscheidende, worum es im Abendmahl geht. Eindrücklich betont der 10. Artikel, dass es im Altarsakrament nicht bloß um Symbolik, um Erinnerung, um Gefühl oder Einbildung geht: Es wird gelehrt, dass der wahre Leib und das wahre Blut Christi wirklich unter der Gestalt des Brotes und Weines im Abendmahl gegenwärtig sind. „Wahr“ meint hier nicht das Gegenteil von „falsch“, sondern das Gegenteil von „symbolisch“, „bildlich“: Ausgeschlossen werden soll die Vorstellung, dass im Heiligen Mahl eigentlich nur Brot und Wein ausgeteilt werden und die Empfangenden sich in ihrem Geist oder Herz dadurch an die Hingabe des Leibes und Blutes Christi erinnert werden oder sie in ihrer Einbildung, durch ihren Glauben zum Leib und Blut Christi werden lassen. Das Heilige Mahl ist kein Spiel.

Bemerkenswert ist, dass der 10. Artikel des Augsburger Bekenntnisses Leib und Blut Christi zu den Elementen von Brot und Wein so in Beziehung setzt, dass er die Formulierung „unter der Gestalt des Brotes und Weines“ wählt. Es handelt sich hier genau um die Wortwahl, mit der auch das IV. Laterankonzil 1215 das Wunder der Realpräsenz beschrieben hatte, wobei es dann allerdings versuchte, dieses Wunder mithilfe antiker philosophischer Begrifflichkeit zu umschreiben: Während die Äußerlichkeiten von Brot und Wein (Gestalt und Geschmack usw.) unverändert bleiben, wird ihr Wesen in den Leib und das Blut Christi verwandelt. Melanchthon verzichtet bewusst auf die Aufnahme dieser philosophischen Begrifflichkeit, verwendet aber die Formulierung „unter der Gestalt“, um deutlich zu machen, dass man sich in der Frage der Realpräsenz mit der römischen Seite in der Sache vollkommen einig ist. Eben dies wurde auch von der anderen Seite anerkannt. In der Confutatio, der Erwiderungsschrift der römischen Seite auf das Augsburger Bekenntnis, wird an der Formulierung dieses Artikels keine Kritik geübt. Und Melanchthon seinerseits unterstreicht diesen Konsens noch einmal in der Apologie des Augsburger Bekenntnisses, wenn er dort auch die orthodoxen Kirchen des Ostens mit in den kirchlichen Grundkonsens hineinnimmt, der zwischen den Bekennern von Augsburg, der römischen und der orthodoxen Kirche besteht: „Wir haben erfahren, dass nicht nur die römische Kirche die leibliche Gegenwart Christi bejaht; sondern derselben Meinung ist jetzt und war einst die griechische Kirche. Denn das bezeugt bei ihnen der Kanon der Messe, in dem der Priester deutlich betet, dass der Leib Christi infolge der Verwandlung des Brotes Wirklichkeit wird. Und Vulgarius sagt klar, dass das Brot nicht nur Symbol ist, sondern wirklich in das Fleisch verwandelt wird.“ (Apologie X,2) Das lutherische Bekenntnis scheut sich also nicht, das Wunder der Realpräsenz, der wirklichen Gegenwart des Leibes und Blutes Christi in den Elementen von Brot und Wein, mit dem Begriff der „Verwandlung“ zu beschreiben.

Ausdrücklich unterscheidet das Augsburger Bekenntnis hier zwischen „gegenwärtig sein“ und „ausgeteilt und empfangen werden“. Das heißt: Leib und Blut Christi werden nicht erst in dem Augenblick gegenwärtig, in dem der Christ das Sakrament empfängt. Sondern Leib und Blut Christi sind schon zuvor kraft der Worte Christi gegenwärtig und werden dann anschließend ausgeteilt und empfangen. Entsprechend ist es angemessen, den gesegneten Elementen auch vor und nach dem Empfang der Kommunion Ehrfurcht und Anbetung zu erweisen. Denn Leib und Blut Christi sind in ihnen gegenwärtig – auch unabhängig von meinem Empfang, und erst recht unabhängig von meinem Glauben. Eben darum werden die gesegneten Elemente am Schluss der Sakramentsfeier in der lutherischen Kirche auch verzehrt und nicht etwa wieder mit ungesegneten Elementen vermischt oder weggeschüttet: Die Konsekration der Elemente kennt kein „Verfalldatum“.

Dem Bekenntnis zur realen Gegenwart des Leibes und Blutes Christi unter den Gestalten von Brot und Wein im Heiligen Mahl entspricht in der Negation die Verwerfung anderer, entgegenstehender Lehren. Ich kann nicht zugleich bekennen, dass Brot und Wein wirklich und wahrhaftig Leib und Blut Christi sind, und zugleich die Lehre, dass Brot und Wein nur ein Symbol für den Leib und das Blut Christi sind oder nur durch unseren Glauben zu Leib und Blut Christi werden, als ebenso richtig anerkennen.

Doch genau solch eine Fiktion versuchte man schon zu Lebzeiten Martin Luthers und seitdem immer wieder bis zum heutigen Tag zu schaffen: Zumeist aus kirchenpolitischen Gründen versuchte man, das lutherische Sakramentsbekenntnis aus dem Konsens mit der römischen Kirche und den orthodoxen Kirchen herauszulösen und ein angebliches gemeinsames „evangelisches“ Abendmahlsbekenntnis einem „katholischen“ Abendmahlsbekenntnis gegenüberzustellen. Dies versuchte schon 1529 Landgraf Philipp von Hessen; dies versuchten später immer wieder Vertreter des Calvinismus, bis hin zur preußischen Union im 19. Jahrhundert, in der die Lutheraner mit den Reformierten in eine gemeinsame Kirche gezwungen werden sollten, in der die Unterschiede im Verständnis des Altarsakraments als „unwesentlich“ beiseite getan werden sollten. Die Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland, auch diejenigen, die sich als „lutherisch“ bezeichnen, sind diesen Weg konsequent weitergegangen bis hin zur sogenannten „Leuenberger Konkordie“, einem gemeinsamen Bekenntnis, in dem von den klaren Aussagen zur wirklichen Gegenwart des Leibes und Blutes Christi unter den Elementen von Brot und Wein praktisch nichts übrig geblieben ist und die Unterscheidung zwischen „gegenwärtig sein“ und „ausgeteilt werden“, auf die das Augsburger Bekenntnis so großen Wert legt, als gefährliche „Verdunkelung“ des Sinnes des Abendmahls kritisiert wird.

Seit dem 16. Jahrhundert lässt sich beobachten, dass es offenbar möglich ist, eine von den Aussagen des Augsburger Bekenntnisses deutlich abweichende Lehre und Praxis des Altarsakraments so geschickt mit Worten zu ummänteln, dass unbefangene Zuhörer beim ersten Hinhören gar nicht merken, dass hier in Wirklichkeit etwas ganz Anderes gemeint und praktiziert wird, als was das Augsburger Bekenntnis als gemeinsame Lehre der Kirche beschreibt.

Martin Luther hat Christen, die ihn darauf ansprachen, dass sie nicht genau wüssten, ob ihr Pfarrer eigentlich noch am Bekenntnis zur Realpräsenz festhielt, einen ganz einfachen praktischen Rat gegeben: Sie sollten ihren Pfarrer fragen, was er denn bei der Austeilung der gesegneten Gaben eigentlich in der Hand hält. Wenn der Pfarrer antwortet: Ich teile Brot aus (das dann vielleicht durch den Glauben oder durch die Berührung der Gläubigen zum Leib Christi werden mag), dann sollen die Christen aus der Hand dieses Pfarrers das Sakrament nicht empfangen. Wenn der Pfarrer aber antwortet: Ich halte den Leib Christi in der Hand, dann sollten sie getrost bei ihm zum Sakrament gehen.

Später hat man diese Entscheidungsfrage mit zwei theologischen Fachausdrücken umschrieben, der sogenannten manducatio oralis und der sogenannten manducatio impiorum.

Manducatio oralis heißt: Empfang des Leibes und Blutes Christi mit dem Mund. Auch der reformierte Theologe Johannes Calvin konnte davon sprechen, dass wir den wahren Leib und das wahre Blut Christi im Sakrament empfangen. Doch er verstand dies so, dass wir hier auf Erden mit unserem Mund bloß Brot und Wein empfangen, dass sich aber unsere Seele im Augenblick des Empfangs in den Himmel aufschwingt und dort mit Christus Gemeinschaft hat. Doch dort, wo sich die Seele eben nicht so aufschwingt, empfängt der Kommunikant am Altar nur Brot und Wein und mehr nicht. Dagegen hält die lutherische Kirche daran fest, dass wir den Leib und das Blut Christi tatsächlich hier auf Erden am Altar mit unserem Mund empfangen, dass Christus sich für uns so klein macht, dass er mit seinem Leib und Blut in unserem Mund, in unserem Körper Wohnung nimmt.

Und damit sind wir schon bei der manducatio impiorum, also bei der Frage, was denn jemand im Sakrament empfängt, der gar nicht glaubt, dass er Leib und Blut Christi empfängt. Die Vertreter der „entgegenstehenden Lehre“, also die Vertreter der reformierten oder unierten Theologie, würden antworten: Jemand, der nicht glaubt, empfängt im Sakrament nur Brot und Wein. Doch die lutherische Kirche hält daran fest: Auch ein nicht Glaubender empfängt im Sakrament wirklich und wahrhaftig den Leib und das Blut Christi, weil die Gegenwart des Leibes und Blutes Christi nicht von uns Menschen abhängt, sondern allein durch die Worte Christi bewirkt wird.

Warum ist unserer lutherischen Kirche das Festhalten am Bekenntnis zur Realpräsenz des Leibes und Blutes Christi so wichtig? Zunächst einmal ist es schlicht und einfach der Gehorsam gegenüber dem Wort der Heiligen Schrift, das so klar und deutlich bezeugt, dass wir im Sakrament tatsächlich leibhaftig Anteil am Leib und Blut Christi bekommen. Daneben ist es aber ein eminent seelsorgerliches Anliegen: Mein Heil hängt nicht an meiner Glaubensstärke; ich kann ganz von mir wegschauen, wenn ich das Sakrament empfange. Und mein Heil hängt auch nicht daran, dass ich etwas richtig „verstehe“. Mein Heil besteht vielmehr darin, dass ich mit Christus verbunden werde, dass ich mit ihm leibhaftig eins werde: „Mein Fleisch ist die wahre Speise und mein Blut ist der wahre Trank. Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich in ihm“, so sagt es Christus selber (St. Johannes 6,55+56). Eben darum geht es beim Heiligen Mahl auch nicht um theologische Spitzfindigkeiten, sondern um das Herzstück unseres Glaubens: die leibhaftige Gemeinschaft mit Christus. Dass wir eben dies mit dem größten Teil der Christenheit gemeinsam bekennen, sollten wir immer klar vor Augen haben, auch und gerade wenn wir nicht zuletzt wegen dieses Abendmahlsbekenntnisses als Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche unseren Weg nicht gemeinsam mit der Evangelischen Kirche gehen können. Davon, dass wir als lutherische Kirche im Übrigen bewusst noch „katholischer als die römischen Katholiken“ sind, die zwar mit uns bekennen, dass das Blut Christi unter der Gestalt des Weines gegenwärtig ist, dieses Blut aber unter der Gestalt des Weines in den meisten Fällen den Gemeindegliedern vorenthalten, spricht das Augsburger Bekenntnis dann noch später im 22. Artikel. Und im 24. Artikel setzt es sich mit dem Verständnis des Sakraments als „Messopfer“ in der römischen Kirche auseinander. Es gibt also auch Differenzen zur römischen Kirche in der Frage des Altarsakraments. Doch diese betreffen gerade nicht die Frage der Realpräsenz. Dies betont das Augsburger Bekenntnis sehr eindrücklich.