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4. Ordinarium und Proprium

4.Ordinarium und Proprium
In unserem sonntäglichen Hauptgottesdienst, der Lutherischen Messe, gibt es bestimmte Stücke, die jedesmal identisch sind, und andere, die in jedem Gottesdienst wechseln. Diejenigen Stücke, die feststehen und in jedem Gottesdienst gleich sind, nennt man mit einem lateinischen Fachausdruck „Ordinarium“, das, was dem Gottesdienst eine feste Ordnung verleiht; diejenigen Stücke, die jeweils wechseln, nennt man „Proprium“, das, was jedem Gottesdienst seine eigentümliche Gestalt gibt. Sowohl Ordinarium als auch Proprium haben ihren guten Sinn und ihre Bedeutung für die Feier des Gottesdienstes: Das Ordinarium gibt dem Gottesdienst seinen „Wiedererkennungswert“; es sorgt dafür, daß der Gottesdienst ein festes Gerüst hat, an dem sich die Gemeinde orientieren kann, und ermöglicht vor allem der Gemeinde die aktive Beteiligung an der Liturgie, weil diese feststehenden Stücke von ihr auch auswendig mitgebetet und -gesungen werden können. Umgekehrt könnten wir es uns aber auch nur schwer vorstellen, wenn wir die Gottesdienste ohne Proprium feiern würden, wenn wir also jeden Sonntag dieselben Lesungen hören, dieselben Gebete sprechen, dieselben Lieder singen würden – und vielleicht sogar jeden Sonntag dieselbe Predigt hören würden … So ermöglicht die Zuordnung von Ordinarium und Proprium im Gottesdienst eine lebendige Mitfeier des Gottesdienstes. In den Gottesdiensten freikirchlich geprägter Gemeinschaften gibt es oft kaum ein erkennbares Ordinarium; hier ist im Gottesdienst fast alles nur „Proprium“, wobei dieses Proprium sich dann oftmals noch nicht einmal am Kirchenjahr orientiert, sondern an irgendwelchen „Themen“, die vom Leiter des Gottesdienstes oder anderen Gottesdienstmitarbeitern bestimmt worden sind. Auf der anderen Seite ist der Gottesdienst in den orthodoxen Kirchen ganz stark vom Ordinarium bestimmt; im Vergleich zu den Gottesdiensten der westlichen Kirche treten Propriumsstücke ganz stark zurück: Ein Gesangbuch, wie wir es in der lutherischen oder der römisch-katholischen Kirche kennen und in dem sich die „Propriumsstücke“ finden, die von der Gemeinde mitgebetet werden können, gibt es in der orthodoxen Kirche eben in dieser Weise nicht.

Die zentralen Stücke des Ordinariums sind uns aus der Musik von unzähligen Vertonungen der „Messe“ bekannt, etwa aus der h-Moll-Messe Johann Sebastian Bachs. Es handelt sich dabei um das Kyrie (Herr, erbarme dich), das Gloria in excelsis (Ehre sei Gott in der Höhe), das Credo (Nizänisches Glaubensbekenntnis), das Sanctus (Heilig, heilig) mit dem Benedictus (Gelobt sei, der da kommt) und das Agnus Dei (Christe, du Lamm Gottes). Diese Stücke, die von der Gemeinde und/oder vom Chor übernommen werden, bilden das „Rückgrat“ des Gottesdienstes, wobei auch hier noch einmal unterschieden werden muß: Das Gloria fällt in der Fasten- und Passionszeit weg; es wird dann – abgesehen vom Gottesdienst am Gründonnerstag – erst wieder in der Heiligen Osternacht von neuem angestimmt. Als besonderer Lobgesang hat es seinen Platz in den Gottesdiensten an Sonn- und Festtagen; dagegen fällt es in Sakramentsgottesdiensten an Wochentagen, die kein eigenes Proprium haben, weg. Gleiches gilt für das Glaubensbekenntnis. Auch dieses gilt eigentlich als Lobgesang; Martin Luther konnte von daher von drei Glaubensbekenntnissen sprechen: dem Apostolischen Glaubensbekenntnis, dem Nizänischen Glaubensbekenntnis und dem Te Deum (in Liedform: Großer Gott, wir loben dich). Für Martin Luther war es noch selbstverständlich, daß das Glaubensbekenntnis gesungen wurde; erst in späteren Zeiten wurde es nur noch gesprochen – an bestimmten Tiefpunkten der Geschichte des Gottesdienstes schließlich sogar nur noch vom Pastor allein. Im Beiheft zu unserem Evangelisch-Lutherischen Kirchengesangbuch sind nun wieder vertonte Versionen des Apostolischen und Nizänischen Glaubensbekenntnisses angeboten. Es wäre schön und sinnvoll, wenn diese mittelfristig auch in unserer Kirche wieder in Gebrauch kämen. Weil das Glaubensbekenntnis als Lobgesang gilt, wird es ebenfalls in Wochengottesdiensten ohne besonderes Proprium fortgelassen; der Sonntagsgottesdienst wird dadurch noch einmal in besonderer Weise gewichtet.

Entscheidend bei den Ordinariumsstücken ist jedoch nicht, ob sie nun gesprochen oder gesungen werden. Sie können im Gottesdienst in ganz unterschiedlicher Weise ausgeführt werden. So singen wir beispielsweise in der Fasten- und Passionszeit andere Versionen des Kyrie, des Sanctus und des Agnus Dei, als wir dies sonst während des übrigen Kirchenjahrs tun. Dennoch bilden diese Stücke, auch wenn sie unterschiedliche Melodien haben, eine feste Ordnung, in die die Stücke des Propriums dann eingefügt sind. Auch der Liturg, der Leiter des Gottesdienstes, führt bestimmte Ordinariumsstücke aus: die Gruß- und Segensworte des Liturgen einschließlich der Wechselgrüße mit der Gemeinde, weitere Teile der Sakramentsliturgie wie das Präfationsgebet zu Beginn der Sakramentsfeier (Der Herr sei mit euch …, Wahrhaft würdig ist es …), die Einsetzungsworte (Konsekration) und das Vaterunser, auf das die Gemeinde mit der Doxologie, dem Lobpreis (Denn dein ist das Reich …) antwortet. Das Präfationsgebet bildet dabei eine Art von Grenzstück zwischen Ordinarium und Proprium: Es hat zwar einen festen Aufbau, doch werden in diesen Aufbau in der Mitte des Gebets je nach Kirchenjahreszeit verschiedene Sätze eingefügt.

Das Proprium des Hauptgottesdienstes setzt sich aus drei Hauptbestandteilen zusammen: aus Lesungen der Heiligen Schrift (und ihrer Auslegung in der Predigt), aus Gebeten und Gesängen. Diese verändern sich von Gottesdienst zu Gottesdienst und lassen somit die Gemeinde etwas vom Reichtum der Heiligen Schrift und des Gebetslebens der Kirche erfahren und ermöglichen es der Gemeinde zugleich, immer wieder den Weg Jesu von seiner Ankunft und Geburt über sein Leiden, Sterben und Auferstehen, seine Himmelfahrt und Sendung des Geistes bis zu seiner Wiederkunft mitzubedenken und mitzufeiern.

Das Kirchenjahr ist von daher das wichtigste Gestaltungsprinzip der Propriumsstücke; an ihm orientieren sich die Lesungen, Gesänge und Gebete in aller Regel. Neben dieser Orientierung am Kirchenjahr, dem sogenannten „proprium de tempore“, gibt es aber auch eine weitere Propriumsordnung, die sich an den besonderen Gedenktagen der Heiligen orientiert („proprium de sanctis“). In der Reformationszeit strich Martin Luther die große Zahl der Heiligengedenktage zusammen und beschränkte sich im wesentlichen auf die biblischen Heiligen. Dieser Praxis ist die lutherische Kirche auch im weiteren gefolgt, ohne daraus ein starres Gesetz zu machen; sie hat zudem als feste Gedenktage den Gedenktag des Augsburger Bekenntnisses (25. Juni) und den Gedenktag der Reformation (31. Oktober) in ihren Kalender aufgenommen. Während die Sonn- und Feiertage des Proprium de tempore wegen ihrer Bindung an einen Sonntag oder auch wegen ihrer Abhängigkeit von dem jeweils sich verändernden Ostertermin datumsmäßig schwanken, liegt das Datum der Gedenktage des Proprium de sanctis immer fest. Dies bedeutet aber auch, daß es immer wieder einmal zu Überschneidungen zwischen Proprium de tempore und Proprium de sanctis kommen kann, wenn ein Gedenktag mit festem Datum auf einen Sonn- oder Feiertag des Kirchenjahrs fällt. In aller Regel hat dabei das Proprium de tempore den Vorrang, während das Proprium de sanctis in der Regel nur an Werktagen gefeiert wird. Ausnahmen bilden die Marienfeste, die als Christusfeste gefeiert werden und außerhalb der Fastenzeit zumeist das Proprium des Sonntags ersetzen können. Das gleiche gilt für St. Johannis (24. Juni) und St. Michaelis (29. September). Auch kann vor allem in den festlosen Zeiten des Kirchenjahrs beispielsweise ein Aposteltag, der auf einen Sonntag fällt, das Proprium des Sonntags bilden. In manchen Fällen kann man auch auswählen: So kann man beispielsweise den 26. Dezember sowohl als Zweiten Weihnachtsfeiertag (Proprium de tempore) als auch als Tag des Erzmärtyrers St. Stephanus (Proprium de sanctis) feiern; beides ist in unserem Gesangbuch als Möglichkeit gegeben.

Auch wenn das Proprium der Sonn- und Feiertage jeweils wechselt, prägt sich das Proprium des jeweiligen Sonn- und Feiertages durch seine jährliche Wiederkehr den regelmäßigen Gottesdienstteilnehmern im Laufe der Jahre doch ebenfalls in besonderer Weise ein. So hat die lutherische Kirche die Praxis der „einjährigen“ Leseordnung beibehalten, das heißt, daß in jedem Jahr an einem betreffenden Sonntag jeweils dieselbe Epistel und vor allem dasselbe Heilige Evangelium verlesen wird, das jeweils dem Sonntag seinen besonderen Charakter verleiht. Dagegen hat die römisch-katholische Kirche nach ihrer Liturgiereform Ende der 60er Jahre eine dreijährige Lesereihe eingeführt, das heißt: Nur alle drei Jahre wird wieder dieselbe Epistel und dasselbe Evangelium verlesen. Dadurch hören die Gottesdienstteilnehmer zwar mehr Abschnitte aus der Heiligen Schrift; die Prägung der Sonntage durch ein bestimmtes Evangelium geht dabei jedoch leider verloren. In den evangelischen Kirchen und auch in unserer lutherischen Kirche wird dies wiederum durch eine sechsjährige Ordnung der Predigttexte ausgeglichen, das heißt: Der Pastor predigt nur alle sechs Jahre über denselben Predigttext. Eine zusätzliche Prägung haben die Sonn- und Feiertage in der evangelischen und in der lutherischen Kirche seit dem 19. Jahrhundert durch die sogenannten „Graduallieder“ oder „Wochenlieder“ erhalten, die jeweils zwischen der Verlesung der Epistel und der Verlesung des Heiligen Evangeliums gesungen werden. Dieses Gradual- oder Wochenlied steht fest, wird jedes Jahr an diesem Sonn- und Feiertag an dieser Stelle gesungen und hilft den Gottesdienstteilnehmern auch noch einmal, den jeweiligen Sonntag im Laufe der Jahre „wiederzuerkennen“.

Zu den Stücken des Gottesdienstes, die sich jährlich wiederholen, gehören  auch der Introitus, dessen Beginn auf lateinisch vielen Sonntagen der Fasten- und Osterzeit ihren Namen gegeben hat, sowie das Kollektengebet, das als Abschluß des Eingangsteils vom Liturgen am Altar gebetet wird. Dagegen besteht beispielsweise beim Allgemeinen Kirchengebet am Schluß des „Wortteils“ des Gottesdienstes eine größere Auswahlmöglichkeit.

Im Verlauf der Gottesdienstgeschichte hat es immer wieder Versuche gegeben, das Proprium de tempore und das Proprium de sanctis durch allgemeine „Themen“ zu ersetzen, in denen sich in vielen Fällen der jeweilige Zeitgeist sehr viel deutlicher zu erkennen gab als der Heilige Geist. Die Gottesdienste wurden dabei regelmäßig zu Schulveranstaltungen umfunktionalisiert. In der lutherischen Kirche sind wir mit Recht gegenüber solchen neuen Propria sehr zurückhaltend, weil in ihnen die Rückbindung an die biblische Heilsgeschichte oftmals nur schwer nachzuvollziehen ist. Nur in einzelnen Fällen haben „außerbiblische“ Ereignisse und Feste ihren Platz im kirchlichen Kalender gefunden; dazu zählen beispielsweise das Erntedankfest oder der Gottesdienst am Silvesterabend.