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2. Die Geschichte des Gottesdienstes

2. Die Geschichte des Gottesdienstes

 

Mit der Feier ihrer Gottesdienste knüpften die ersten christlichen Gemeinden an die jüdischen Gottesdienste an: Neben dem Opfergottesdienst im Tempel gab es im Judentum die Gottesdienste in den Synagogen, deren wesentliche Elemente die Schriftlesung und das (Psalm-)Gebet waren. Zu diesen Elementen kamen im christlichen Gottesdienst jedoch von Anfang an zwei spezifische neue Elemente hinzu: die apostolische Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus – zunächst in mündlicher Form, bald danach aber dann auch in schriftlicher Gestalt – und die Feier des Herrenmahls. So werden die wesentlichen Elemente des christlichen Gottesdienstes bereits in der Schilderung des Lebens der Urgemeinde in Jerusalem genannt: „Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet.“ (Apostelgeschichte 2,42) Einige Kapitel weiter heißt es bereits ganz selbstverständlich: „Am ersten Tag der Woche aber, als wir versammelt waren, das Brot zu brechen, predigte ihnen Paulus.“ (Apostelgeschichte 20,7) Die christliche Gemeinde versammelt sich im Unterschied zur jüdischen Gemeinde am Auferstehungstag Christi, dem Sonntag, dem Tag des HERRN, der damals natürlich noch kein Feiertag war, weshalb der Gottesdienst natürlich am Abend, nach jüdischer Zählung am Vorabend, also am Samstagabend, stattfand. Der Inhalt dieser gottesdienstlichen Versammlung besteht darin, „das Brot zu brechen“, also das Herrenmahl zu feiern, und zu dieser Mahlfeier gehört dann auch die apostolische Predigt des Paulus. In den Gemeinden, die durch die Predigt des Paulus entstanden waren und in denen er nicht selber anwesend war, wurden statt dessen seine Briefe verlesen (vgl. Kolosser 4,16; in 1. Korinther 16,20.22 finden wir sogar Elemente des Beginns der Sakramentsfeier, die sich an die Verlesung des Briefes anschloß.)

Bereits aus dem zweiten Jahrhundert sind uns ausführlichere Beschreibungen des christlichen Gottesdienstes bekannt: Deutlich erkennbar ist die Zweiteilung des Gottesdienstes in einen Wortteil und einen Sakramentsteil, die aber fest miteinander verbunden sind. Dabei wurden die Ungetauften am Schluß des Wortteils mit einem Segenswort entlassen, sodaß bei der Sakramentsfeier die Getauften unter sich waren. Die liturgischen Rufe in der Liturgie der Ostkirchen zu Beginn der Sakramentsfeier: „Die Türen, die Türen“ und „Das Heilige den Heiligen“ gehen noch auf diese altkirchliche Praxis zurück. Selbstverständliche Elemente der Sakramentsfeier waren dabei die Einsetzungsworte und das Vaterunser.

In der Kirchenordnung des Hippolyt finden wir Anfang des 3. Jahrhunderts dann bereits feste Formulierungen des Beginns der Sakramentsliturgie, die wir auch heute noch kennen: „Der Herr sei mit euch …“, „Die Herzen in die Höhe …“, „Lasset uns Dank sagen …“. Auch die Predigt hat in dieser Zeit im Gottesdienst noch ein großes Gewicht.

Ab dem 4. Jahrhundert läßt sich dann in den verschiedenen Bereichen der damaligen Kirche die Herausbildung eigener gottesdienstlicher Traditionen und Liturgietypen deutlich beobachten, die natürlich in ihrer Grundstruktur miteinander übereinstimmen, aber doch je ihre ganz eigene Gestalt entwickeln. So entstehen eigene Liturgien in Ägypten, Alexandrien, Antiochia, Jerusalem, Rom, Byzanz (Konstantinopel), Mailand und später auch im westeuropäischen Bereich („gallikanische“ Liturgien in Gallien, Britannien und Irland sowie in Spanien). Das Auseinanderdriften des weströmischen und des oströmischen Reiches befördert diese selbständigen Entwicklungen. In der Folgezeit tritt die Predigt in ihrer Bedeutung immer mehr zurück; statt dessen gewinnen die symbolischen liturgischen Handlungen ein neues Eigengewicht. Dies läßt sich besonders in der Liturgie der Ostkirchen beobachten, die aus der byzantinischen Liturgie erwachsen ist und ihre heutige Endgestalt im wesentlichen im 15. Jahrhundert erhalten hat. Auch in der römischen Liturgie, die in der Westkirche im Laufe der Zeit eine immer größere Bedeutung gewinnt, verliert die Predigt zunehmend an Gewicht. Ab dem 5. Jahrhundert läßt sich in der römischen Liturgie die Vorschaltung eines Eröffnungsteils mit Introitus, Kyrie und Kollektengebet, später auch mit dem Gloria („Ehre sei Gott“) erkennen. Der Charakter der Sakramentsfeier verschiebt sich zugunsten eines Verständnisses des Altarsakraments als Opferhandlung: Leib und Blut Christi werden in der Sakramentsfeier Gott als Sünden tilgendes Opfer dargebracht. Damit verliert die Kommunion der Gemeinde zugleich zunehmend an Bedeutung.

Im 8. und 9. Jahrhundert bildete sich aus römischen und gallikanischen Elementen der Typus der Messe heraus, wie ihn auch Martin Luther in der Reformationszeit kennenlernte: Der Wortteil des Gottesdienstes verkümmerte zu einer Vorbereitung auf den Sakramentsteil („Vormesse“); die Messe selber erfährt zunehmend eine dramatische Ausgestaltung. Der Altar rückt immer weiter von der Gemeinde weg; die lateinische Sprache, die seit dem 4. Jahrhundert zur Gottesdienstsprache in der Westkirche wurde, wurde immer weniger von den Gottesdienstteilnehmern verstanden. So ist die Gemeinde schließlich gar nicht mehr auf das gottesdienstliche Geschehen bezogen, sondern widmet sich während der Messe ihrer privaten Andacht. Im Jahr 1215 muß auf dem IV. Laterankonzil per Kirchengesetz festgelegt werden, daß die Gläubigen wenigstens noch einmal im Jahr in der österlichen Zeit die Kommunion zu empfangen haben. Immer größere Bedeutung erhalten die Privatmessen, in denen außer dem Ministranten keine Gemeinde anwesend ist; entscheidend wichtig ist in ihnen die Darbringung des Meßopfers, vor allem auch für die Verstorbenen. Daneben entwickelt sich im ausgehenden Mittelalter aber auch eine tief innerliche Frömmigkeit bei vielen Gläubigen, die von einer intensiven Christusmystik geprägt und auf den Empfang der Kommunion bezogen ist. Beispiele hierfür sind die heilige Gertrud von Helfta (deren Bild bei uns in der Taufkapelle hängt) oder auch Thomas von Kempten.

Martin Luther hat keinen neuen Gottesdienst geschaffen, sondern bewußt die Ordnung der Messe beibehalten – bis hin zu den „Äußerlichkeiten“ der liturgischen Gewänder, der gesungenen Liturgie und der liturgischen Gesten. Damit brachte er zum Ausdruck, daß er sich bewußt in die Tradition der Kirche stellen und eben keine neue Kirche gründen wollte. Sein Anliegen bestand vielmehr in der Reinigung der Messe von unbiblischen Zuwächsen, die sie im Laufe der Zeit erfahren hatte, sowie in der Wiedergewinnung der altkirchlichen Praxis. So weist er der Predigt im Gottesdienst wieder einen zentralen Ort zu. An die Stelle der lateinischen Sprache tritt die deutsche Sprache, die der Gemeinde den Mitvollzug des Gottesdienstes ermöglicht (wobei Luther auf lateinische Gottesdienstelemente dort, wo sie verstanden wurden, nicht verzichten wollte!). In der Sakramentsliturgie streicht Luther alle Gebete, die dem Altarsakrament den Charakter einer Opferhandlung verleihen, und konzentriert alles auf die Einsetzungsworte Christi und die Kommunion der Gemeinde, die er eng zusammenrückt. Mit diesen Maßnahmen gelingt Martin Luther eine Wiedergewinnung der sonntäglichen Kommunion der Gemeinde. Die Gottesdienstreform Luthers hat ihren Niederschlag dann auch in den lutherischen Bekenntnisschriften gefunden, wenn es dort heißt: „Zuerst müssen wir vorausschicken, daß wir die Messe nicht abschaffen, sondern gewissenhaft beibehalten und verteidigen. Denn Messen werden bei uns gefeiert an allen Sonntagen und anderen Festtagen, an denen das Sakrament denen gereicht wird, die es empfangen wollen, nachdem sie geprüft und losgesprochen wurden. Auch die üblichen öffentlichen Riten werden beibehalten: die Ordnung der Lesungen, der Gebete, der Gewandung und ähnliches anderes.“ (Apologie XXIV,1)

In der Zeit nach der Reformation entwickelte sich in den lutherischen Kirchen ein reiches gottesdienstliches, sakramentales Leben. Noch zu Zeiten Johann Sebastian Bachs (1685-1750) fanden in den Kirchen Leipzigs mehrfach in der Woche festliche Sakramentsgottesdienste statt, bei denen Hunderte von Kommunikanten gezählt wurden. Teile der Liturgie wurden weiterhin auf Latein gebetet, wovon ja auch z.B. die bekannte h-moll-Messe Bachs Zeugnis ablegt, die natürlich, wie auch seine Kantaten, für den Einsatz im Gottesdienst komponiert wurde.

Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts erfolgt dann in der evangelischen Kirche Deutschlands jedoch innerhalb weniger Jahrzehnte eine fast völlige Auflösung der gottesdienstlichen Formen. Mehrere Faktoren haben dazu beigetragen: Zum einen sind hier reformierte Einflüsse zu nennen. Im Unterschied zu Luther hatten die Schweizer Reformatoren Zwingli und Calvin mit der überlieferten Liturgie radikal gebrochen und ganz eigene Gottesdienstentwürfe geschaffen, in denen sich die Abwesenheit Christi „im Himmel“ nach reformierter Tradition widerspiegelte. Der Predigtgottesdienst ohne Abendmahlsfeier wurde in der reformierten Kirche zur Normalform des Gottesdienstes; „Äußerlichkeiten“ wie Kerzen, Gewänder, Orgeln, Kruzifixe, ja auch Altäre verschwanden. Vor allem aber wurde der gottesdienstliche Niedergang in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch die „Zwillingsschwestern“ Pietismus und Aufklärung beschleunigt: Der Pietismus betonte die persönliche Herzensfrömmigkeit und wandte sich gegen gleichbleibende „äußerliche“ gottesdienstliche Vollzüge; Liturgie und Sakrament wurden ihm zunehmend fremd. Gesteigert wurde diese Entwicklung dann noch durch das Aufkommen der Aufklärung: Die Verkündigung wurde auf rationalistische Moralpredigten verkürzt; die Gesangbuchlieder wurden in schauerlicher Weise auf den Geschmack des „modernen Menschen“ umgedichtet; die Pastoren fingen an, sich ihre eigenen „Privatagenden“ für den Gottesdienst zusammenzubasteln. Am Ende gruben sie der Gottesdienstteilnahme aber selber das Wasser ab, da ein „aufgeklärter Christ“ letztlich die Belehrungen in der Kirche nicht mehr brauchte. So ging der Gottesdienstbesuch innerhalb kurzer Zeit dramatisch zurück; die Verbindung zur tradierten Liturgie der Kirche ging weitgehend verloren; das Heilige Abendmahl wurde zu einem selten, „im Anschluß an den Gottesdienst“ gefeierten Anhängsel. Von diesem Zusammenbruch hat sich das gottesdienstliche Leben in den evangelischen Kirchen Deutschlands bis heute nicht recht erholt.

Im 19. Jahrhundert gab es dann als Reaktion auf die Aufklärung in verschiedenen Gegenden konfessionelle Erweckungen, aus denen auch die Vorgängerkirchen der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche entstanden. Diese konfessionellen Erweckungen waren oftmals mit liturgischen Erweckungen und der Wiederentdeckung der Liturgie der Kirche und ihres sakramentalen Lebens verbunden. Letztlich ist dieser Prozeß aber in unserer lutherischen Kirche immer noch im Gange; weitere Impulse zu dieser Wiederentdeckung gab es vor allem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Hier profitierten auch die Vorgängerkirchen der SELK von gründlichen liturgischen Arbeiten in den damaligen lutherischen Landeskirchen, die ihren Ausdruck vor allem in dem lutherischen Agendenwerk fanden, das in den Jahren 1951-1963 veröffentlicht wurde und Gottesdienstordnungen für den sonntäglichen Hauptgottesdienst sowie die sonstigen Gottesdienste und Amtshandlungen enthielt. Dieses Agendenwerk wurde auch in den Vorgängerkirchen der SELK weitgehend übernommen und setzte weitere liturgische Entwicklungen in Gang.  Die zunehmende Wiedergewinnung der sonntäglichen Sakramentsfeier und das allmähliche Verschwinden des schwarzen Talars als gottesdienstlicher Kleidung, der hier in Preußen von dem „Unionskönig“ Friedrich Wilhelm III. für Pfarrer, Rabbiner und Richter eingeführt worden war, sind hierfür Indizien.

Die römisch-katholische Kirche erlebte nach dem II. Vatikanischen Konzil (1962-1965) eine grundlegende Liturgiereform: Der Wortteil des Gottesdienstes wurde wieder aufgewertet und die Landessprache als liturgische Sprache eingeführt; die Mitwirkung der Gemeinde am Gottesdienst wurde in vielfältiger Weise erweitert. Leider schoß man in der Umsetzung der Liturgiereform nicht selten über das Ziel hinaus, sodaß die Messe für viele Gläubige nur noch schwer wiederzuerkennen war. Dennoch wurden mit der Liturgiereform unzweifelhaft wichtige liturgische und theologische Anliegen Martin Luthers aufgenommen.

In evangelischen, zum Teil auch in lutherischen Kirchen lassen sich heutzutage wieder oftmals ähnliche Entwicklungen beobachten wie zur Aufklärungszeit: Gottesdienste werden nach dem Privatempfinden des Pastors oder auch der Gemeindeglieder „neu gestaltet“ und dienen wesentlich den Zwecken der Belehrung oder auch Unterhaltung. Kenntnisse über Sinn und Geschichte der Liturgie sind dabei oft nur rudimentär vorhanden. Gegenüber den damit produzierten „Eintagsfliegen“ tun wir gut daran, die Erfahrungen nicht leichtfertig beiseite zu schieben, die die Kirche in den letzten 2000 Jahren in der Feier des Gottesdienstes gemacht hat, und wahrzunehmen, wie wir mit der Liturgie in der Einheit der Kirche aller Zeiten und aller Länder bis heute stehen – auch über Konfessionsgrenzen hinweg.