5. Das Gesangbuch (Teil 1)

Bei der Feier des Gottesdienstes benutzen die Gottesdienstteilnehmer ein Gesangbuch. Gesangbücher werden überall dort gebraucht, wo die Gemeinde Lieder im Gottesdienst singt, deren auswendige Kenntnis nicht bei allen vorausgesetzt werden kann. So sind Gesangbücher in den Gottesdiensten der orthodoxen Kirchen in aller Regel nicht bekannt; auch im römisch-katholischen Gottesdienst vor der Reformationszeit waren Gemeindelieder kaum im Gebrauch; Gesangbücher gab es nur für die liturgischen Gesänge, die der Chor vortrug.

Erst Anfang des 16. Jahrhunderts wurden erste Gemeindegesangbücher in der Vorreformation zusammengestellt; diese Praxis wurde von Martin Luther übernommen, dessen Reformation sich ganz wesentlich auch über gesungene Kirchenlieder verbreitete, zu denen auch er selber eine ganze Reihe beitrug. Die feste Integration des Gemeindegesangs in den Gottesdienst führte dazu, dass auch viele Kirchenlieder gedichtet wurden. Bereits im 16. Jahrhundert enthielten viele Gesangbücher Anleitungen zum privaten Gebet und zur häuslichen Andacht; sie sollten nicht nur als Gottesdienstbuch, sondern auch als Gebetbuch verwendet werden. Ebenfalls bereits im 16. Jahrhundert wird vielen Gesangbüchern der Kleine Katechismus Martin Luthers beigefügt, dazu auch andere Bekenntnisse. Die kirchlichen Gesangbücher sind von daher seit der Zeit ihrer Entstehung konfessionell geprägt und bringen in besonders anschaulicher Weise zum Ausdruck, was in der Kirche, in der sie gebraucht werden, gelehrt und bekannt wird. So sind die Gesangbücher im Verlauf der Geschichte auch ein Spiegel kirchlicher Lehre und kirchlichen Lebens gewesen: Dies gilt für die Blütezeit der deutschsprachigen Dichtkunst im 17. Jahrhundert, der lutherischen Orthodoxie, der wir Lieder von Dichtern wie Paul Gerhardt oder Johann Heermann verdanken, ebenso wie für den Pietismus im 18. Jahrhundert, in dessen Zeit eine Flut neuer Lieder entstand, die vor allem die persönliche Frömmigkeit des einzelnen Beters thematisierte und zur Entstehung umfangreicher Gesangbücher führte; das bekannteste Gesangbuch des Pietismus umfasste in zwei Bänden nicht weniger als 1500 Lieder. Im Zeitalter der Aufklärung und des Rationalismus wurden viele bereits existierende Lieder nach rationalistischen Wertmaßstäben überarbeitet und verhunzt; dazu gab es ebenfalls zahlreiche Neudichtungen, die zum größten Teil heute nur noch als Kuriositäten angeführt werden können. Im 19. Jahrhundert fand dann eine Rückbesinnung auf die Lieder der Reformation und die Liturgie der Kirche statt; es ist die Zeit, in der überall in Deutschland auch freie lutherische Kirchen entstehen. Seit dem 19. Jahrhundert gibt es in Deutschland auch Tendenzen, überregionale Gesangbücher zu erstellen, die nicht nur in einem bestimmten Territorium in Geltung sein sollten. Einen großen Durchbruch stellte in dieser Hinsicht die Erstellung und Einführung des Evangelischen Kirchengesangbuchs (EKG) in allen deutschen Landeskirchen und in Österreich um das Jahr 1950 dar. Auch in der altlutherischen Kirche wurde dieses Gesangbuch mit einem eigenen Anhang übernommen, während die Evangelisch-Lutherische Freikirche ein eigenes Gesangbuch, das sogenannte „Lutherische Kirchengesangbuch“ (LKG) erstellte. 1987 führte unsere SELK dann das Evangelisch-Lutherische Kirchengesangbuch (ELKG) ein, das im Stammteil dem EKG entspricht und einen eigenen Liederanhang hat. In das ELKG wurden unter anderem auch die Introiten und Lesungen aller Sonn- und Feiertage aufgenommen; dazu hat es einen ausführlichen Anhang mit Psalmen und Gebeten. 1994 wurde in der Evangelischen Kirche in Deutschland das Evangelische Gesangbuch (EG) eingeführt, das in den einzelnen Landeskirchen jeweils durch einen eigenen Anhang ergänzt worden ist. Das EG hat viele Lieder aus dem EKG übernommen; daneben hat es aber auch viele neuere Lieder und nicht zuletzt auch verstärkt Lieder aus der reformierten Tradition aufgenommen; es ist von seiner theologischen Prägung her ein klassisches evangelisch-uniertes Gesangbuch. Die Kirchensynode unserer Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche hat darum im Jahr 2007 beschlossen, dass es nicht möglich ist, das EG mit einem SELK-Anhang als Gesangbuch unserer Kirche zu verwenden, und beschlossen, ein eigenes SELK-Gesangbuch erarbeiten zu lassen, das den Arbeitstitel ELG (Evangelisch-Lutherisches Gesangbuch) trägt. Dieses ELG wird den Vorteil haben, dass es einen geschlosseneren Entwurf mit einem einheitlichen Liederteil bieten kann im Vergleich zu der bisherigen Notlösung des EKG mit SELK-Anhang. Mit den Arbeiten an einem neuen Gesangbuch steht unsere SELK im Übrigen nicht allein da: Auch in der Vergangenheit wurden etwa nach 30 Jahren in aller Regel in den Kirchen wieder neue Gesangbücher in Gebrauch genommen, wobei die Vielfalt in der Vergangenheit oftmals noch viel größer war: Eine wissenschaftliche Untersuchung hat ergeben, dass es seit der Reformationszeit in Deutschland nicht weniger als 28.000 (!!) verschiedene Gesangbuchausgaben gegeben hat. Auch andere Kirchen arbeiten zurzeit an neuen Gesangbüchern, allen voran die römisch-katholische Kirche, die in den kommenden Jahren ein Buch mit dem Arbeitstitel „Gemeinsames Gebet- und Gesangbuch“ (GGB) herausbringen wird, das das bisherige „Gotteslob“ von 1975 ablösen soll. Neue Gesangbücher wurden in den letzten Jahren beispielsweise in unserer amerikanischen Schwesterkirche, der Lutheran Church – Missouri Synod, der altkatholischen und der methodistischen Kirche eingeführt.

Der Gesangbuchausschuss unserer Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche hat dem Allgemeinen Pfarrkonvent unserer Kirche im Jahr 2005 wichtige Kriterien benannt, von denen die Erstellung eines Gesangbuchs für unsere Kirche bestimmt sein sollte. Als Zielgruppe für ein Gesangbuch werden gleichermaßen die evangelisch-lutherische Gemeinde vor Ort als auch der einzelne evangelisch-lutherische Christ benannt, der das Gesangbuch als „Hausbuch“ verwenden kann. Entscheidendes theologisches Kriterium für ein lutherisches Gesangbuch ist natürlich die Übereinstimmung mit den Aussagen der Heiligen Schrift und der Theologie der Lutherischen Bekenntnisschriften, „insbesondere im Blick auf ein biblisches Gottesbild, die Erlösung durch Jesus Christus als Mitte der Schrift und das Wirken des Heiligen Geistes in Wort und Sakrament“. Dabei soll ein genuin „lutherisches Profil“ gestärkt und bewahrt werden, das in der Vorlage des Gesangbuchausschusses mit den Worten „Orientierung auf den Gottesdienst, Wertschätzung des Sakraments, Singen als Ausdruck heilsgewisser Frömmigkeit“ beschrieben wird. Zugleich soll das Gesangbuch den Willen „zu verantworteter und auszuhaltender Spannung zwischen ökumenischer Weite und dem eigenen lutherischen Profil“ zum Ausdruck bringen. Auch sprachliche und musikalische Kriterien sollen bei der Auswahl der Lieder natürlich angewandt werden: So soll die dichterische Qualität der Lieder (z.B. Sprache, Reim, Bildhaftigkeit, Versmaß, Sinnfolge der Texte in der Strophenfolge) ebenso bedacht werden wie die Verständlichkeit der Aussagen im Kontext der gottesdienstlichen Gemeinde; Floskeln und Leerformeln sollen nach Möglichkeit vermieden werden. Ebenso soll darauf geachtet werden, dass Sprache, Melodie und Rhythmus einander entsprechen und Tonumfang und Tonlage in der Regel im Rahmen der Möglichkeiten des Gemeindegesangs bleiben. Wo es sinnvoll und möglich ist, sollen Textgestalt und musikalische Entscheidungen des EG übernommen werden, um das im Zusammenhang mit dem EG erarbeitete Notenmaterial so weit wie möglich verwenden zu können. Textrevisionen der Lieder sollen dabei behutsam vorgenommen werden; die Entgleisungen der Aufklärungszeit bleiben bis heute ein warnendes Beispiel. Zugleich soll das Liedgut im neuen ELG eine größere Formenvielfalt aufweisen: Strophenlieder, Kehrverse, Psalmgesänge, Gregorianik, Kanons und Taizégesänge sollen darin gleichermaßen ihren Platz haben.

In dem neuen Gesangbuch sollen die biblischen Bezüge der Lieder erkennbar werden und entsprechend auch markiert werden. In ihm werden sich die Lieder und Gesänge aus dem ELKG und dem blauen Beiheft, die sich in unserer Kirche im Gebrauch befinden, wiederfinden, während Lieder, die den Gemeinden fremd geblieben oder geworden sind, entfallen werden, wenn nicht andere gewichtige Gründe dagegen sprechen. Auch in dem neuen Gesangbuch werden wir dabei eine ganze Reihe von gelungenen Texten und Melodien aus dem Bereich unserer eigenen Kirche finden, die jetzt schon bei uns in Gebrauch sind. Selbstverständlich werden auch manche neuen und alten Lieder aus anderen Gesangbüchern, die den theologischen Kriterien entsprechen, in das neue ELG aufgenommen werden, wenn sie sich als erprobt und singbar herausgestellt haben; dies gilt auch für einzelne Kinder- und Jugendlieder. Das neue Gesangbuch wird etwa 600 Lieder umfassen; dabei wird man sich voraussichtlich von dem bisherigen Gebrauch der „0-Nummern“ bei der Nummerierung verabschieden, weil diese bis heute bei nicht wenigen Gottesdienstteilnehmern immer noch für einige Verwirrung sorgen. Die Gesangbuchkommission überlegt, künftig möglicherweise alle Lieder und Stücke im Gesangbuch durchzunummerieren, auch um das Durcheinander von Seitenzahlen und Liednummern zu vermeiden. Überlegt wird zugleich, inwiefern Lieder, die sich auch in Gesangbüchern anderer Kirchen finden, entsprechend als „ökumenisch“ markiert werden sollen, um ein einfacheres gemeinsames Singen der Lieder zu ermöglichen. Die Erstellung eines Gesangbuches macht gewiss immer eine Menge Arbeit; eine Fertigstellung des ELG ist kaum vor dem Jahr 2015 zu erwarten. Der Aufwand lohnt sich jedoch, denn Gesangbücher prägen mit ihren Liedern den Glauben und die Frömmigkeit der Gemeindeglieder in besonderer Weise. Von daher ist größte Sorgfalt bei der Gesangbucherstellung allemal angemessen.