Gott spricht.

Gott spricht.

 

1. Der redende Gott und die stummen Götzen
Wenn wir die Heilige Schrift recht verstehen wollen, müssen wir zunächst und vor allem eines wissen: Der Gott, der sich in der Heiligen Schrift zu erkennen gibt, ist ein redender Gott, ein Gott, der sich durch Worte zu erkennen gibt und sich uns durch diese Worte, die Er spricht, zuwendet. Daß Gott redet, unterscheidet Ihn von den anderen „Göttern“, so macht es die Heilige Schrift immer wieder deutlich: „Als ihr Heiden wart, zog es euch mit Macht zu den stummen Götzen.“ (1. Korinther 12,2) – So schildert der Apostel Paulus die religiöse Einstellung der Christen in Korinth vor ihrer heiligen Taufe. Schon im Alten Testament machen sich Propheten und Psalmbeter immer wieder lustig über die heidnischen Götzen: „Sie haben Mäuler und reden nicht, sie haben Augen und sehen nicht, ... und kein Laut kommt aus ihrer Kehle. Die solche Götzen machen, sind ihnen gleich, alle, die auf sie hoffen.“ (Psalm 115,4.7.8) Gott der HERR jedoch redet. Er spricht am Anfang der Heiligen Schrift: „Es werde Licht“ (1. Mose 1,3), und Er spricht ganz am Ende der Heiligen Schrift: „Es spricht, der dies bezeugt: Ja, ich komme bald.“ (Offenbarung 22,20) Und dazwischen redet Er auch immer wieder, spricht Menschen an, redet zu ihnen auf ganz unterschiedliche Weisen – aber eben immer so, daß Er sie Sein Wort hören läßt. Und wenn Gott spricht, dann redet Er nicht bloß etwas daher, sondern „wenn Er spricht, so geschieht’s; wenn Er gebietet, so steht’s da.“ (Psalm 33,9)

Gott spricht zu uns; Er ist kein stummer Götze – darum ist auch die Heilige Schrift nicht bloß eine Sammlung von tiefgründigen religiösen Gedanken, die sich Menschen über einen letztlich stummen Gott gemacht haben. Sondern die Heilige Schrift ist Anrede Gottes an uns; Er selber kommt darin zu Wort und spricht in unser Leben hinein. Wenn wir mit der Heiligen Schrift umgehen, haben wir es also mit keinem Geringeren als mit dem lebendigen Gott selber zu tun.
 

2. Gott redet durch Menschen.
Wenn Gott in der Heiligen Schrift redet, dann tut Er dies in der Regel nicht so unmittelbar, wie Er es damals am ersten Schöpfungstag getan hat, sondern Er läßt sein Wort ausrichten durch Menschen, die Er dazu berufen hat. Im Alten Testament redet Er durch Mose zu Seinem Volk; später sind es die Propheten, die im Namen Gottes auftreten und verkündigen: „So spricht der HERR.“ Und im Neuen Testament bevollmächtigt Christus selber diejenigen, die Er in seinem Namen aussendet, und sagt zu ihnen: „Wer euch hört, der hört mich.“ (St. Lukas 10,16) Entsprechend freut sich auch der Apostel Paulus darüber, „daß ihr das Wort der göttlichen Predigt, das ihr von uns empfangen habt, nicht als Menschenwort aufgenommen habt, sondern als das, was es in Wahrheit ist, als Gottes Wort, das in euch wirkt, die ihr glaubt.“ (1. Thessalonicher 2,13) Daß Menschen mit ihrer Eigenart, mit ihrer besonderen Sprache das Wort Gottes ausrichten, bedeutet also gerade nicht, daß das, was sie sagen, in Wirklichkeit gar nicht Gottes Wort, sondern nur ihre unvollkommenen Gedanken über Gott darstellt. Gott bindet sich an das menschliche Wort derer, die in seiner Vollmacht sprechen, läßt ihr Wort Sein Wort sein. Gewiß müssen wir dabei beachten, daß diese Worte jeweils in eine ganz bestimmte geschichtliche Situation hineingesprochen worden sind und ein ganz bestimmtes Gegenüber haben. „Es ist alles Gottes Wort, wahr ist es. Aber, Gottes Wort hin, Gottes Wort her, ich muß wissen und Acht haben, zu wem das Wort Gottes geredet wird“, so betont es schon Martin Luther in einer Predigt. Nicht alles, was in der Heiligen Schrift geschrieben steht, gilt auch uns. Aber andererseits stimmt es auch nicht, daß das, was in der Heiligen Schrift steht, uns darum nicht betrifft, weil dies ja alles „geschichtlich bedingt“ sei. Gott bindet sich an dieses „geschichtlich bedingte“ Wort und macht es damit auch für uns bedeutsam; Er redet durch dieses „geschichtlich bedingte Wort“ auch heute noch zu uns, so daß dieses Wort der Heiligen Schrift auch für uns „alleine die einige wahrhaftige Richtschnur ist, nach der alle Lehrer und Lehre zu richten und zu beurteilen seien“, wie es unser lutherisches Bekenntnis in der Konkordienformel formuliert. Auch in seiner schriftlichen Form ist dieses Wort Gottes also kein „toter Buchstabe“, sondern eine wirksame Form der Selbstmitteilung Gottes.
 

3. Gott wirkt durch Sein Wort.
Wenn Gott spricht, dann will Er uns nicht bloß über irgendwelche Sachverhalte informieren. Sondern Sein Wort ist schöpferisches, wirksames Wort, das uns nicht unverändert läßt, wenn es uns trifft. „Der HERR tötet und macht lebendig, führt hinab zu den Toten und wieder herauf“ (1. Samuel 2,6), so bekennt es schon Hanna in ihrem Lobgesang, und genau so wirkt das Wort der Heiligen Schrift in der Tat immer wieder: Es führt uns immer wieder zur Erkenntnis unserer Schuld und läßt gerade so den „alten Menschen“ in uns, der mit Gott nichts zu tun hat, sterben. Und es wirkt in uns den Glauben an den Gott, der Seinen Sohn für uns hat sterben und auferstehen lassen, und schenkt uns gerade so ein neues, unzerstörbares Leben in der Gemeinschaft mit Christus.

Das Wort der Heiligen Schrift ist also nicht bloß ein antiker „Text“, sondern es ist vom Heiligen Geist gewirkt und vom Heiligen Geist erfüllt; es ist, wie die Theologen dies zu formulieren pflegen, „inspiriert“. Inspiriert sind dabei nicht bloß diejenigen, die diese Worte verkündigt und aufgeschrieben haben, sondern diese Worte selber sind vom Geist Gottes gewirkt und erfüllt; sie sind, mit einem Fachausdruck, „verbal inspiriert“. Wenn ich also die Heilige Schrift höre oder lese oder meditiere, dann darf ich gewiß sein: Der Geist Gottes ist darin am Werk an mir und in mir, denn „alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Zurechtweisung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, daß der Mensch Gottes vollkommen sei, zu allem guten Werk geschickt.“ (2. Timotheus 3,16+17) Die Heilige Schrift „wird“ also nicht hier und da für mich einmal zum Wort Gottes; das Wort Gottes „ereignet“ sich nicht bloß je und dann einmal, wenn ich mit der Heiligen Schrift umgehe, sondern Gottes Geist hat sich an dieses Wort der Heiligen Schrift gebunden; in der Heiligen Schrift wird Gottes Wort als wirksames Wort faßbar.

Weil Gott durch das Wort der Heiligen Schrift an uns wirkt, gehört die Heilige Schrift zunächst und vor allem in den Gottesdienst der Kirche. Dort hatte sie auch historisch gesehen ihren ursprünglichen Platz im Leben der christlichen Gemeinde. Die ersten Christen waren keine „Hausbibelkreisbewegung“ – in aller Regel besaßen die einzelnen Gemeindeglieder ja gar keine eigenen biblischen Schriften –, sondern sie kamen im Gottesdienst zusammen, um dort auf die Worte der Apostel und Propheten zu hören. Und dort im Gottesdienst erfuhren sie eben auch immer wieder, daß das Wort der Heiligen Schrift sakramentales Wort ist, daß in ihm der erhöhte Christus zu seiner Gemeinde spricht, sie mahnt und ihr durch dieses Wort zugleich Vergebung der Sünden, Leben und Seligkeit schenkt. Und so können auch wir die Heilige Schrift heute nur recht verstehen und gebrauchen, wenn wir sie von dem her verstehen, was wir Sonntag für Sonntag im Gottesdienst erfahren. Die persönliche Lektüre der Heiligen Schrift kann von daher die Teilnahme am Gottesdienst nicht ersetzen.
 

4. Gott erwartet Gehorsam.
Wenn Gott selbst im Wort der Heiligen Schrift zu uns redet, dann bestimmt dies natürlich auch die Haltung, mit der wir an die Heilige Schrift herangehen. Es ist die Haltung, die der Priester Eli dem jungen Samuel ans Herz legt: „Rede, HERR, denn dein Knecht hört.“ (1. Samuel 3,9)

Wir gehen nicht in der rechten Weise an die Heilige Schrift heran, wenn wir meinen, wir könnten darüber urteilen, was uns in der Heiligen Schrift paßt und was nicht, was wir für uns akzeptieren und was nicht, ja was wir für richtig halten und was für falsch. Wir befinden uns gerade nicht in der Position des Richters über die Heilige Schrift, sondern wir erfahren durch sie im Gegenteil, wie wir von Gott beurteilt und gerichtet werden. Nicht wir haben die Heilige Schrift zu kritisieren, sondern die Heilige Schrift kritisiert uns – und tröstet uns noch viel mehr.

Gehorsam erwartet Gott daher von uns – die Bereitschaft, aufmerksam auf das zu hören, was Gott uns in Seinem Wort sagt, und das Gesagte  auch an uns heranzulassen und es nicht mit allen möglichen Ausreden und Argumenten abzuwimmeln. Gewiß gibt es in der Heiligen Schrift nicht wenige Stellen, die schwer zu verstehen sind, und doch hat Mark Twain sehr recht, wenn er einmal feststellte: „Mir bereiten nicht diejenigen Stellen in der Heiligen Schrift die größten Schwierigkeiten, die ich nicht verstehe, sondern diejenigen, die ich verstehe.“ Gott bestätigt uns in Seinem Wort nicht einfach das, was wir immer schon gedacht und für richtig gehalten haben; sondern Er stellt uns in Seinem Wort auch immer wieder ganz grundlegend in Frage, leitet uns dazu an, Ihn und unser Leben noch einmal ganz neu und anders zu sehen. Und das gilt nicht nur ganz am Anfang, wenn wir gerade Christen geworden sind und gerade begonnen haben, die Heilige Schrift zu lesen, sondern das bleibt so unser Leben lang. Gerade wenn wir meinen, wir würden die Heilige Schrift doch schon gut kennen, sollen wir aufmerksam hinschauen und hinhören, damit wir in der Heiligen Schrift nicht bloß uns selbst, sondern wirklich Gott reden hören. Mögen auch wir so stets aufs neue die Erfahrung Gregors des Großen machen: „Die Bibel ist wie ein Strom, der so flach ist, daß ein Lamm daraus trinken kann, und so tief, daß ein Elefant darin baden kann."