Neues Testament Teil I: Die Evangelien.

Neues Testament Teil I: Die Evangelien.

 

Im Zentrum des Neuen Testaments steht die Person Jesu von Nazareth: Er wird von den Schriften des Neuen Testaments als der Messias Israels, als der Christus, der Sohn Gottes verkündigt. Gleich vier Lebensberichte Jesu finden wir im Neuen Testament, und doch wird darin die eine frohe Botschaft, auf Griechisch: das eine Evangelium verkündigt von Matthäus, Markus, Lukas und Johannes.

Wie es bei einem Verkehrsunfall hilfreich ist, wenn es mehrere Augenzeugen gibt, die dasselbe Geschehen aus unterschiedlichen Perspektiven beschreiben und es so genauer erkennbar werden lassen, gerade auch wenn sich die Zeugenaussagen in Details unterscheiden, so ist es auch mit den vier Evangelien: Unverkennbar beschreiben sie dasselbe Geschehen, dasselbe Leben Jesu, schildern zunächst mehr oder weniger kurz seine Herkunft und Geburt und setzen dann ausführlicher an beim Beginn seiner Wirksamkeit nach seiner Taufe durch Johannes den Täufer. Im weiteren schildern sie, wie Jesus zunächst im Norden Israels, in Galiläa, umherzieht und die frohe Botschaft vom Kommen des Reiches Gottes verkündigt, Jünger in seine Nachfolge ruft, Menschen an Leib und Seele gesund macht, dem Volk mit Beispielgeschichten, Gleichnissen, von Gott, seinem Vater, erzählt, die Jünger unterweist und Streitgespräche mit seinen Gegnern führt, die daran Anstoß nahmen, daß Jesus sich mit seiner Verkündigung gerade auch an die wandte, die in den Augen der Frommen als „Sünder“ galten, als Menschen, die sich mit ihrem Verhalten aus der Gemeinschaft des Volkes Gottes selber ausgeschlossen hatten. Schließlich schildern die Evangelisten, wie Jesus sich auf seinen letzten Weg von Galiläa nach Jerusalem begibt, dort zunächst begeistert vom Volk empfangen wird und auf dem Tempelplatz predigt. Dann feiert Jesus mit seinen Jüngern das Passamahl als sein letztes Mahl, setzt dabei das Heilige Abendmahl ein und kündigt seinen baldigen Tod an, von dem er auch zuvor immer wieder in seiner Verkündigung gesprochen hatte. Es folgen der Verrat des Aufenthaltsortes Jesu durch Judas, die nächtlichen Verhandlungen vor der obersten jüdischen Behörde, dem Synhedrium, dem „Hohen Rat“,  die Überstellung an den römischen Statthalter Pontius Pilatus, der im Unterschied zu dem jüdischen Gericht allein auch die Todesstrafe aussprechen und vollziehen konnte, die Verurteilung durch Pilatus, die Folter Jesu, seine Hinrichtung auf dem Hügel Golgatha vor den Stadttoren Jerusalems, seinen Tod, sein Begräbnis und schließlich seine Auferstehung und Erscheinung vor den Jüngern und seine Abschiednahme.

All dies schildern die vier Evangelien gemeinsam und doch so, daß sie in ihren Schilderungen jeweils Akzentsetzungen vornehmen und dabei zugleich deutlich machen, daß sie beides sein wollen: Schilderung wirklich geschehener Ereignisse, gewiß keine Märchenerzählungen oder Heldensagen, aber doch zugleich auch Verkündigung, die den Leser zum Glauben an eben diesen Jesus bewegen soll, dessen Leben sie in ihrem Evangelium schildern. Auch abgesehen von ihrem einmaligen Inhalt sind die vier Evangelien je für sich Weltliteratur, nutzen sie verschiedenartige literarische Mittel, um dieser doppelten Zweckbestimmung ihres Werkes gerecht zu werden. Verfaßt wurden die vier Evangelien wohl zunächst und vor allem für die Verlesung im Gottesdienst der christlichen Gemeinde; hier haben sie bis heute ihren besonderen Platz erhalten: Auch bei uns ist die Verlesung des Heiligen Evangeliums noch der Höhepunkt des ersten Teils des Gottesdienstes, zu dem die Gemeinde sich erhebt und ihn, Christus, ehrfurchtsvoll begrüßt, der in den Worten des Evangeliums auch heute zu uns spricht.

In der neutestamentlichen Forschung ist viel darüber spekuliert worden, in was für einem Verhältnis die vier Evangelien wohl zueinander stehen und was für literarische Abhängigkeiten es zwischen ihnen wohl gibt. Unverkennbar besteht zwischen den ersten drei Evangelien - Matthäus, Markus und Lukas – eine besondere Ähnlichkeit in der Reihenfolge der einzelnen Erzähleinheiten und auch in der Sprache, so daß man sie gleichsam nebeneinanderlegen und zusammen anschauen kann. Darum werden sie mit einem Fachausdruck als „synoptische“ Evangelien bezeichnet (Synopse = Zusammenschau). Das Johannesevangelium hat demgegenüber eine ganz eigene Ausdrucksweise; neuere Forschungen haben jedoch gezeigt, daß Johannes in seinem Evangelium die anderen Evangelien schon voraussetzt und sie mit seinem Evangelium gleichsam noch einmal vertiefend interpretiert. Auch Lukas setzt, wie er in der Einleitung schreibt, die Existenz von anderen Berichten über das Leben Jesu voraus (vgl. Lukas 1,1-4); ob Markus oder Matthäus das erste Evangelium sind, ist dagegen ebenso umstritten wie die Frage nach weiteren schriftlichen Quellen, auf die die Evangelisten möglicherweise zurückgegriffen haben. Bedenken sollte man jedenfalls, daß die mündliche Überlieferung von Texten zu damaliger Zeit sehr viel zuverlässiger zu funktionieren pflegte, als dies heute in der Regel der Fall ist. Wie auch immer die Evangelien im einzelnen entstanden sein mögen – in ihnen haben wir vier zuverlässige Berichte über das Leben Jesu, die sich gerade in ihrer Unterschiedlichkeit zu einem eindrucksvollen Gesamtbild zusammenfügen.
 

1. Das Evangelium nach Matthäus
Das erste Evangelium wurde schon früh in der nachapostolischen Zeit dem Apostel Matthäus zugeschrieben; es gibt eine Reihe von Indizien, die diese Annahme unterstützen. Das Matthäusevangelium hat von allen Evangelien die meisten Kapitel (28); das längste Evangelium ist allerdings das Lukasevangelium. Wie bei Lukas findet sich auch bei Matthäus eine „Vorgeschichte“ von der Geburt Jesu, verbunden mit einem Stammbaum. Bereits in der Vorgeschichte wird ein besonderes Anliegen des Evangelisten deutlich: Er will zeigen, daß der Weg Jesu bereits im Alten Testament vorausgesagt worden ist. Darum führt er immer wieder „Erfüllungszitate“ an: „Dies geschah, auf daß erfüllt würde, was gesagt ist vom Herrn durch den Propheten, der da spricht“ (vgl. Mt 1,22; 2,15.17.23 usw.). Auch darüber hinaus findet sich im Matthäusevangelium eine besonders intensive Behandlung der Aussagen des Alten Testaments und eine gründliche  inhaltliche Auseinandersetzung mit jüdischen Positionen.  Auch in seiner Erzähltechnik benutzt Matthäus immer wieder selber jüdisch-rabbinische Kompositionsmittel, so daß man  Matthäus als das am stärksten jüdisch geprägte Evangelium bezeichnen kann; sein Evangelium ist vermutlich für Christen verfaßt, die aus dem Judentum stammten. In Anlehnung an die fünf Bücher Mose oder die fünf Psalmenbücher finden sich auch bei Matthäus fünf große Redekomplexe: die Bergpredigt (Mt 5-7), die Aussendungsrede (Mt 10), die Gleichnisrede (Mt 13), die Gemeinderegel (Mt 18) und die Rede vom Gericht (Mt 23-25). In der Bergpredigt wird den Jüngern zunächst in den Seligpreisungen (Mt 5,3-12) das Himmelreich zugesprochen und damit zugeeignet: Die Bergpredigt ist Lehre für die, die schon jetzt am Reich Gottes teilhaben, gesprochen durch den, der in dieses Reich einläßt. Sie ist keine allgemeine Morallehre und keine allgemeine Anweisung zu politischem Handeln, wie sie heute mitunter ausgelegt wird, sondern sie hängt ganz an dem, der diese Worte spricht und der selber mit seinem Leben und Sterben das Alte Testament erfüllt: Durch ihn, Jesus, werden die Menschen in ein rechtes Verhältnis zu Gott gesetzt, das Matthäus als „Gerechtigkeit“ bezeichnet. Daraus erwächst dann „Frucht“ (Mt 7,17ff), die im Tun des Menschen erkennbar wird, dem Gott ein neues Herz geschenkt hat.

Matthäus markiert in seinem Evangelium deutlich den Unterschied zwischen der Zeit vor und der Zeit nach dem Kreuzestod und der Auferstehung Jesu: Vor seinem Tod ist Jesus zunächst allein zu Israel gesandt (vgl. Mt 15,24); erst als sich das Gottesvolk von Jesus abwendet, erweitert sich seine Sendung auch auf die Heidenwelt: Die Jünger werden von Jesus in alle Welt gesandt, um alle Völker zu Jüngern zu machen. Dabei tritt nach Ostern die Taufe vor die Lehre (Mt 28,19f). Nur bei Matthäus ist in den Evangelien bereits von der „Kirche“ bzw. „Gemeinde“ (griechisch: ekklesia) die Rede (Mt 16,18; 18,17): Zur Zeit des irdischen Wirkens Jesu liegt sie noch in der Zukunft; doch Jesus kündigt schon an, daß sie eine Gemeinde der Sünder sein wird, in der immer wieder der Vollzug der Sündenvergebung nötig sein wird. Die Scheidung zwischen Gut und Böse und damit das Gericht Gottes geht am Ende auch mitten durch die Kirche hindurch (Mt 13,24-30); Warnungen vor dieser letzten Scheidung ziehen sich durch das ganze Matthäusevangelium hindurch.

Im Gottesdienst begegnen uns Worte aus dem Matthäusevangelium neben der Evangelienlesung im Vaterunser (Mt 6,9-13), in den Einsetzungsworten des Heiligen Abendmahls (Mt 26,26-28) und in der Taufformel (Mt 28,19).


2. Das Evangelium nach Markus
Das zweite Evangelium wurde in der kirchlichen Überlieferung bald Markus zugeschrieben, der wiederum als Mitarbeiter des Petrus während dessen Wirksamkeit in Rom angesehen wurde. In der Tat nimmt Petrus im Markusevangelium eine ganz besondere Stellung ein; immer wieder tritt er dort aus dem Kreis der Jünger heraus; umgekehrt wendet sich ihm Jesus mehrfach ganz besonders zu. Petrus wird dabei sowohl als Bekenner als auch ganz massiv als Versager geschildert. Geht man davon aus, daß das Markusevangelium auf die Predigten des Petrus zurückgeht, so läßt sich diese besondere Stellung des Petrus in diesem Evangelium gut erklären. Deutlich erkennbar ist auch, daß im Markusevangelium anders als bei Matthäus die Auseinandersetzung mit jüdischen Fragestellungen fehlt; Markus schreibt für eine andere Hörerschaft, die offenbar eher einen lateinischen Hintergrund hatte. Markus schreibt das kürzeste der vier Evangelien; bei ihm fehlen sowohl am Anfang die Kindheitsgeschichten als auch am Ende die Erscheinungsberichte des Auferstandenen (Die letzten Verse des Markusevangeliums, Mk 16,9-20, fehlen in den ältesten Handschriften und sind vermutlich eine Zusammenfassung der Osterberichte der Evangelien; sie haben von daher aber ihren berechtigten Platz in der Sammlung der vier Evangelien.).

Sehr deutlich arbeitet Markus im Aufbau seines Evangeliums mit bestimmten Spannungsbögen: Bis Mk 8,27-30 weiß niemand, wissen auch die Jünger nicht, daß Jesus der von Gott gesandte Messias ist. Ab dann wissen die Jünger es, doch sie verstehen nicht, daß der Sinn der Sendung Jesu als Messias in seinem Leiden und Sterben am Kreuz besteht. Dieses Unverständnis der Jünger arbeitet Markus in seinem Evangelium immer wieder heraus; ganz bewußt will er damit das Bekenntnis zu Jesus absetzen von einem Bekenntnis zu einem bloßen Wundertäter oder politischen Führer. Das andere Thema, das Markus in seinem Evangelium entfaltet, ist das Bekenntnis zu Jesus als dem Sohn Gottes: Daß Jesus der Sohn Gottes ist, wird bereits in der Überschrift (Mk 1,1) und dann gleich zu Beginn bei der Taufe Jesu (Mk 1,11) erwähnt. Dann findet sich das Bekenntnis zu Jesus als dem Sohn Gottes genau in der Mitte des Evangeliums in dem Bericht von der Verklärung Jesu (Mk 9,7), und schließlich erfolgt das erste Bekenntnis eines Menschen zu Jesus als dem Sohn Gottes durch den Hauptmann, einen Heiden, unter dem Kreuz (Mk 15,39). Markus macht damit deutlich: Nur wenn wir auf das Kreuz blicken, können wir recht verstehen, was es heißt, daß Jesus der Sohn Gottes ist. 

Deutlich erkennbar ist im Markusevangelium, daß es dem Verfasser um den Glauben seiner Zuhörer geht; immer wieder ist der Glaube der Jünger und anderer Hörer Jesu das Thema des Evangeliums, wobei Markus herausarbeitet, daß die Jünger von sich aus nicht zum Glauben in der Lage sind, sondern dieser Glaube immer neu durch das Wort Jesu gewirkt werden muß. Dies gilt auch und gerade für die Zeit nach Ostern: Das Wort Jesu ermöglicht den Jüngern nach ihrem Versagen einen Neuanfang nach Ostern (vgl. Mk 16,7), und sein Wort wird schließlich auch hindurchtragen bis ans Ende der Welt (vgl. Mk 13,23.31).


3. Das Evangelium nach Lukas
Im Unterschied zu Matthäus und Markus stammen die ältesten Hinweise auf den Verfasser des dritten Evangeliums erst aus dem Ende des 2. Jahrhunderts. Danach soll der Verfasser Lukas, der Arzt, ein Begleiter des Paulus, sein. Feststellen läßt sich auf jeden Fall, daß der Verfasser eine gute griechische Bildung besitzt, ein anspruchsvolles Griechisch schreibt und das Alte Testament in seiner griechischen Übersetzung, der Septuaginta, kennt. Vom selben Verfasser stammt im übrigen auch die Apostelgeschichte; beide Bücher sind dem Theophilus gewidmet, der die Abfassung dieser beiden Werke möglicherweise gesponsert hat. Gleich zu Beginn seines Evangeliums stellt Lukas heraus, daß sein Werk das Ergebnis umfangreicher Recherchen unter den Augenzeugen der geschilderten Geschehnisse ist und die Zuverlässigkeit der christlichen Lehre herausstellen soll (Lk 1,1-4). Bei seinen Recherchen hat Lukas offenbar eine Reihe weiterer Quellen erschlossen; 30% der von ihm berichteten Geschichten finden sich in keinem anderen Evangelium, darunter so bekannte Geschichten wie die von Zacharias und Elisabeth und von der Verkündigung an Maria und ihrer Begegnung mit Elisabeth (Lk 1), die Weihnachtsgeschichte und die Geschichte vom zwölfjährigen Jesus im Tempel (Lk 2), die Beispielerzählungen und Gleichnisse vom barmherzigen Samariter (Lk 10), vom verlorenen Sohn (Lk 15), vom reichen Mann und dem armen Lazarus (Lk 16), von der bittenden Witwe und vom Pharisäer und Zöllner (Lk 18) oder auch die Geschichte vom Zöllner Zachäus (Lk 19). Auch die Himmelfahrt Jesu wird nur von Lukas berichtet (Lk 24,51).

In seinem Evangelium setzt Lukas ganz unverkennbare Akzente: So thematisiert er in besonderer Weise die Frage des Besitzes: Während den Armen von Jesus die Umkehr ihrer Verhältnisse verheißen wird (vgl. Lk 1,52+53; 6,20+21; Lk 16,19-31), wird Reichtum äußerst kritisch bewertet (vgl. Lk 1,53; 6,24+25; 12,13-21; 14,12-14). Man kann sagen, daß bei Lukas die Sünde nicht so sehr als Versagen gegenüber dem alttestamentlichen Gesetz als vielmehr gegenüber dem Besitz beschrieben wird. Zugleich schildert Lukas Jesus aber auch als den, der den Sündern Vergebung gewährt (vgl. Lk 15; 19,1-10; 23,39-43); dies ist auch ein zentrales Thema der Verkündigung Jesu bei Lukas.

Auffallend ist bei Lukas auch die wiederholte Erwähnung von Jüngerinnen: Frauen begleiten Jesus und unterstützen ihn finanziell (Lk 8,2+3); Frauen nehmen Jesus in ihr Haus auf und studieren bei ihm (Lk 10,38+39); Frauen begleiten Jesus auf seinem Weg nach Golgatha bis unter das Kreuz und ans Grab (Lk 23); die Frauen verkündigen dann auch den Aposteln die Engelbotschaft aus dem leeren Grab (Lk 24,9). Auch in den Gleichnissen spielen Frauen bei Lukas eine wichtige Rolle, z.B. im Gleichnis vom verlorenen Groschen, das Lukas neben das Gleichnis vom verlorenen Schaf stellt (Lk 15,3-10), und im Gleichnis von der bittenden Witwe (Lk 18,1-8). Als vorbildliche Jüngerin wird dabei von Lukas Maria, die Mutter des Herrn, herausgestellt; sie ist die vorbildlich Glaubende (vgl. Lk 1,38; 2,19.51; 11,27+28). In keinem Evangelium spielt Maria solch eine wichtige Rolle wie bei Lukas!

Typisch für Lukas ist auch sein Verständnis von Geschichte: Er bindet die Geschichte Jesu ein in die allgemeine Profangeschichte, wie uns dies vom Beginn der Weihnachtsgeschichte ja ganz vertraut ist: „Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, daß alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war.“ (Lk 2,1+2) Vor allem aber betont Lukas die Kontinuität der Geschichte des Alten Testaments zu der des Neuen Testaments: Sein Evangelium beginnt im Tempel (Lk 1,5-25); Jesus selber kommt von Kindheit an bis zum Schluß seiner Wirksamkeit immer wieder in den Tempel (Lk 2,22-40; 2,41-52: 4,9-12; Lk 19-21), und schließlich endet das Evangelium mit dem Hinweis: Die Jünger „waren allezeit im Tempel und priesen Gott.“ (Lk 24,53). So wächst die Kirche für Lukas gleichsam aus dem frommen Israel hervor. Bezeichnend für Lukas ist schließlich auch, daß er stärker als die anderen Evangelisten die Frage thematisiert, was mit dem einzelnen Menschen denn nach seinem Tod geschieht. Erinnert sei an die Gleichnisse vom reichen Kornbauern (Lk 12,16-21) und vom reichen Mann und armen Lazarus (Lk 16,19-31) und an die Zusage Jesu an den Schächer am Kreuz: „Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“ (Lk 23,43) Viele liturgische Stücke des Gottesdienstes sind dem Lukasevangelium entnommen: Das Ave Maria (Lk 1,28), das Magnificat (der Lobgesang Marias) (Lk 1,46-55), das Benedictus (der Lobgesang des Zacharias) (Lk 1,68-79), das Gloria in excelsis (der Lobgesang der Engel) (Lk 2,14) und das Nunc dimittis (der Lobgesang des Simeon) (Lk 2,29-32).
 

4. Das Evangelium nach Johannes
Das vierte Evangelium wurde bereits früh in der Kirche dem Apostel Johannes, dem Sohn des Zebedäus zugeschrieben. Im Evangelium erkennbar ist die Gestalt eines „Jüngers, den Jesus lieb hatte“ (Joh 13,23; 19,26; 20,2), der in dem 21. Kapitel des Evangeliums von den Herausgebern des vierten Evangeliums als Verfasser des Evangeliums und glaubwürdiger Augenzeuge der beschriebenen Geschehnisse benannt wird (Joh 21,24, vgl. Joh 19,35) und der bald schon mit Johannes identifiziert wurde. Auf jeden Fall führt uns auch der Verfasser des vierten Evangeliums mit seinen Worten ganz dicht an die ursprünglichen Geschehnisse heran, auch wenn er sich mit seinem Evangelium bereits auf die anderen Evangelien bezieht und sie vertiefend aufnimmt. Die Sprache des vierten Evangeliums ist sehr schlicht und unterscheidet sich deutlich von der der anderen drei Evangelien. Gerade in ihrer klaren Schlichtheit ist sie zugleich besonders einprägsam. Während die anderen drei Evangelien zumeist aus vielen kleinen Überlieferungseinheiten bestehen, die aneinandergereiht werden, sind im Johannesevangelium längere zusammenhängende Kompositionen aneinandergefügt. Auffallend sind dabei die langen Reden Jesu, in denen sich auch die sieben „Ich bin“-Worte Jesu finden: Ich bin das Brot des Lebens (Joh 6,35), das Licht der Welt (Joh 8,12), die Tür (Joh 10,7), der gute Hirte (Joh 10,11), die Auferstehung und das Leben (Joh 11,25), der Weg, die Wahrheit und das Leben (Joh 14,6) und der wahre Weinstock (Joh 15,1). Dabei ist zu beachten, daß „Ich bin“ im Alten Testament eine Form der Selbstvorstellung Gottes selber ist.

Das Johannesevangelium beginnt mit dem sogenannten Prolog, in dem Christus umschreibend „das Wort“ genannt wird und in dem Johannes zum Ausdruck bringt, daß Christus wahrer Gott ist, der zugleich wirklich ein sterblicher Mensch (= Fleisch) geworden ist (Joh 1,14). Die Wirklichkeit der Menschwerdung Gottes ist ein besonderes Anliegen des Johannes; diese Wirklichkeit wird für die christliche Gemeinde in besonderer Weise erfahrbar im Empfang des heiligen Abendmahls: Geradezu drastisch beschreibt Christus bei Johannes die Realität der Gabe des Sakraments: „Wer mein Fleisch kaut und mein Blut trinkt, der hat das ewige Leben.“ (Joh 6,54) Sein Fleisch und Blut sind wirkliche, nicht nur symbolische Speise und Trank (Joh 6,55). Gerade die Betonung der Realität der Sakramentsgabe führt dabei zu einer Spaltung unter den Jüngern (Joh 6,60.66). Die Wirkung des Sakraments beschreibt Johannes mit der Formel „er in mir – ich in ihm“. Damit kennzeichnet er die neue Art der Gemeinschaft Jesu mit seinen Jüngern nach Ostern, die nicht weniger als die Aufnahme der Jünger in die Gemeinschaft des Sohnes mit dem Vater bedeutet, die er auch mit dem Begriff der „Liebe“ umschreiben kann.

Abgesehen vom Prolog besteht das Johannesevangelium aus zwei großen Teilen: Der erste Hauptteil, der bis zum Ende des 12. Kapitels reicht, beschreibt Jesu Verkündigung vor der Welt. Bereits im 13. Kapitel beginnt dann die Feier des letzten Mahles Jesu, an die sich längere Abschiedsreden anschließen. Der Tod Jesu selber wird von Johannes als „Verherrlichung“ und „Erhöhung“ beschrieben: Die Herrlichkeit und Hoheit Gottes soll gerade in der Niedrigkeit des gekreuzigten Christus erkannt und wahrgenommen werden, der als das Lamm Gottes die Sünden der Welt trägt, wie es bereits gleich zu Beginn des Evangeliums heißt (Joh 1,29).

Bei Johannes finden sich fast alle wesentlichen Aussagen, die die Kirche in der Lehre von der Dreieinigkeit Gottes zusammengefaßt hat: Jesus ist der eingeborene Sohn Gottes, ja Gott selber (Joh 1,14.18; 20,28), er und der Vater sind eins (Joh 1,1; 10,30), Jesus sendet den Geist der Wahrheit, der vom Vater ausgeht (Joh 15,26), den Tröster, in dem Jesus selber zugleich zu seinen Jüngern kommt (Joh 14,17f). Der Tröster, der heilige Geist, erinnert so an das irdische Leben Jesu, daß er es transparent erscheinen läßt für das Wirken des auferstandenen Herrn in seiner Gemeinde. Genau so schreibt auch Johannes sein Evangelium.

Johannes macht in seinem Evangelium deutlich, daß sich an der Person Jesu eine grundlegende Scheidung vollzieht, die Scheidung zwischen Licht und Finsternis, Lüge und Wahrheit, Himmel und Erde. Die „von der Erde“ (Joh 3,31)  sind, müssen Jesus in seinen Worten immer wieder mißverstehen, denn von sich aus ist der Menschen zur Erkenntnis der Person Jesu überhaupt nicht in der Lage. Dies macht Jesus in seinem Gespräch mit Nikodemus besonders deutlich (Joh 3,1-21)

Auffallend ist bei Johannes die Betonung der Gegenwart des ewigen Lebens in der Person Jesu: Wer an Jesus glaubt, hat jetzt schon das ewige Leben (Joh 3,36; 17,3) und hat das Jüngste Gericht bereits hinter sich (Joh 3,18; 5,24). Was noch aussteht, ist die leibliche Vollendung des Lebens, das die Glaubenden jetzt schon haben (Joh 5,24+25.28+29; 6,39+40.44.54). Diese Bedeutung der Person Jesu spiegelt sich auch in der prägnantesten Zusammenfassung des christlichen Glaubens überhaupt wider, die sich bei Johannes findet: „Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ (Joh 3,16)

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