1. Die Eine Kirche und die Kirchen

Was ist die Kirche? Schauen wir uns das Neue Testament an, so können wir als erste Antwort festhalten: Die Kirche ist der Leib Christi: Christus selber ist das Haupt der Kirche; wir sind die Glieder an Seinem Leib (vgl. 1. Korinther 12,27; Kolosser 1,18). Dass die Kirche der Leib Christi ist, ist nicht bloß ein Vergleich, ein Bild, wie es im Jahr 494 v. Chr. der Patrizier Menenius Agrippa in Rom gebrauchte, um mit seiner Fabel vom Leib und den Gliedern die plebejische Stadtbevölkerung zu beruhigen. Die Kirche funktioniert nicht bloß wie ein Leib, sie ist auch nicht bloß wie ein Leib, sondern sie ist ganz real der Leib Christi, so real, wie das konsekrierte Brot bei der Feier des Heiligen Mahles der wirkliche Leib Christi ist (vgl. 1. Korinther 10,16+17).

Dies bedeutet zunächst einmal: Die Kirche ist eine Realität, die dem Glauben des einzelnen Christen immer schon vorausgeht. Kirche entsteht eben gerade nicht so, wie Friedrich Schleiermacher, der „Kirchenvater der preußischen Union“, dies im 19. Jahrhundert in seiner „Glaubenslehre“ formuliert hat: „Die christliche Kirche bildet sich durch das Zusammentreten der einzelnen Wiedergebornen zu einem geordneten Aufeinanderwirken und Miteinanderwirken.“ (§ 115) Sondern die Kirche ist eine Stiftung Christi, und Er, Christus, allein ist es, der Menschen in Seinen Leib eingliedert, der immer schon besteht, bevor Einzelne in ihn aufgenommen werden, und der auch bis zum Jüngsten Tage trotz allen Unglaubens innerhalb und außerhalb der Kirche weiter bestehen wird, weil die Pforten der Hölle die Kirche nicht zu überwältigen vermögen (vgl. Matthäus 16,18).

Dass die Kirche der Leib Christi ist, bedeutet zugleich, dass sie wesenhaft Eine ist: Es gibt nur den Einen Leib Christi, nicht mehrere Leiber Christi: „Wir sind durch einen Geist alle zu einem Leib getauft.“ (1. Korinther 12,13) Diese Realität des Einen Leibes Christi ist auch durch die Vielzahl der verschiedenen Kirchen und Konfessionen nicht aufgehoben, auch wenn diese Einheit für unser menschliches Auge zumeist verborgen bleibt: Die Taufe gliedert nicht bloß in eine bestimmte Konfessionskirche, sondern in diesen Einen Leib Christi ein. Umso bedeutungsvoller ist es, dass die verschiedenen Konfessionskirchen ihre Taufen offiziell gegenseitig anerkennen, wie dies hier in Deutschland im vorletzten Jahr – natürlich mit Ausnahme der baptistisch geprägten Gruppierungen – unter Einbeziehung auch unserer Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche geschehen ist.

Die Kirche als Leib Christi ist nicht unsichtbar, sondern wird immer wieder erkennbar, wo Christen zusammenkommen, um das Heilige Mahl zu feiern: Sie empfangen den Leib Christi und werden damit immer wieder neu Leib Christi. Umgekehrt heißt dies auch: In jeder Gemeinde, in der das Mahl des Herrn nach Seiner Einsetzung gefeiert wird, ist die Kirche als der Leib Christi ganz da und fassbar. Das Neue Testament verwendet von daher dasselbe griechische Wort ekklesia sowohl für die einzelne Ortsgemeinde wie für die völkerübergreifende weltweite Kirche (vgl. 1. Korinther 1,2; Epheser 5,23; Kolosser 1,18).

Unsere lutherischen Bekenntnisschriften haben dieses Verständnis der Kirche vom Gottesdienst her, mit einem Fachausdruck: diese „eucharistische Ekklesiologie“, übernommen, wenn sie im 7. Artikel des Augsburger Bekenntnisses festhalten: Die Kirche ist „die Versammlung aller Gläubigen, bei denen das Evangelium rein gepredigt wird und die heiligen Sakramente dem Evangelium gemäß gereicht werden. Denn das genügt zur wahren Einheit der christlichen Kirche, dass das Evangelium einmütig nach reinem Verständnis gepredigt und die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden.“ Kirche ist die Versammlung des Volkes Gottes um die Gnadenmittel.

Weil die Kirche nicht durch die individuelle „Gläubigkeit“ der einzelnen Gemeindeglieder konstituiert wird, sondern allein durch das Handeln Christi in den Gnadenmitteln, ist es für die Einheit der Kirche von entscheidender Bedeutung, dass die Darreichung der Gnadenmittel, also der Predigt und der Sakramente, gemäß dem Wort Gottes, konkret gemäß dem apostolischen Evangelium, geschieht. Bereits im Neuen Testament lesen wir, wie es innerhalb der christlichen Gemeinde zu lehrmäßigen Auseinandersetzungen kam, die die Einheit der Gemeinde und Kirche in Frage stellten. Bei diesen Auseinandersetzungen ging es dabei nicht um persönliches Gezänk, sondern immer wieder um nicht weniger als um die Heilsfrage: Dort, wo das apostolische Evangelium in Predigt und Sakramentsverwaltung verdunkelt und verfälscht wird, sind keine Kompromisse möglich, weil das Evangelium doch keine Verhandlungsmasse, sondern anvertrautes Gut ist, das es unverfälscht zu bewahren gilt. Hier ist, wenn nötig, auch eine deutliche Scheidung geboten (vgl. z.B. Römer 16,17; 1. Korinther 4,1+2; Galater 1,8+9; 1. Johannes 4,1-3; 2. Johannes 7-11; Offenbarung 2,1-7). Diejenigen, denen unter Handauflegung das Amt der Verkündigung und Gemeindeleitung anvertraut ist, haben dafür eine besondere Verantwortung (vgl. 1. Timotheus 1,18-20; 2. Timotheus 4,1-4; Titus 1,5-9).

So ergibt sich schon vom Neuen Testament her eine Spannung, in der sich jede Kirche und Gemeinde unausweichlich befindet: Sie ist Leib Christi und ist doch zugleich dem Ringen zwischen wahrer und falscher Lehre nicht entnommen. Diese Spannung darf in keiner Richtung aufgelöst werden. Aufgelöst wird diese Spannung beispielsweise da, wo man die Kirche zu einer unsichtbaren Größe erklärt und von daher meint, eine sichtbare Einheit der Kirche bräuchte man gar nicht anzustreben. So einfach können und dürfen wir es uns nicht machen, dass wir uns von allen anderen Kirchen, vielleicht gar von allen anderen Gemeinden zurückziehen und nur die eigene Rechtgläubigkeit genießen. Nein, wir haben den Auftrag, die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens zu wahren (vgl. Epheser 4,3). Die Zerrissenheit der Kirchen, die eine gemeinsame Feier des Heiligen Mahls unmöglich macht, ist ein Skandal, der uns immer wieder von neuem schmerzen sollte, nicht zuletzt auch, weil wir damit auch das gemeinsame Zeugnis der Christen gegenüber der Welt verdunkeln (vgl. Johannes 17,21).

Viel größer ist allerdings heutzutage die Gefahr, dass die Spannung in der anderen Richtung aufgelöst und versucht wird, eine kirchliche Einheit zu schaffen, ohne dass eine Einmütigkeit in der Lehre und in der Praxis der Sakramente gegeben wäre. Diese Einheitsbestrebungen können ganz verschiedene Gestalt annehmen: Sie können erfolgen in der Gestalt einer gewaltsamen Zusammenführung zweier verschiedener Konfessionskirchen, wie dies im 19. Jahrhundert bei der Einführung der Union von reformierter und lutherischer Kirche durch den preußischen König geschah, deren Einführung schließlich auch mithilfe des Militärs durchgesetzt wurde. Sie können aber natürlich auch freiwillig erfolgen, wie etwa bei der Gründung der Evangelischen Kirche in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, in der sich unierte, reformierte und lutherische Landeskirchen zusammenschlossen und diesen Zusammenschluss später dann auch noch einmal theologisch zu begründen versuchten. Und diese Einheitsbestrebungen können auch die Gestalt eines theologischen Konzepts haben, wonach alle verschiedenen Konfessionskirchen einfach gleichsam verschiedene Zweige ein und desselben Baumes seien, unterschiedliche Traditionen, die je für sich richtig sind und für die anderen Kirchen eine Bereicherung und Ergänzung ihrer eigenen Lehre und Praxis darstellen.

Doch ein organisatorischer Zusammenschluss verschiedener Kirchenkörper stellt gerade keinen Fortschritt auf dem Weg zur Einheit der Kirche dar, wenn die inhaltlichen Differenzen nicht tatsächlich überwunden, sondern nur mit Formelkompromissen verdeckt worden sind. Solche rein organisatorischen Vereinigungen wie auch die „Zweig-Theorie“ scheitern faktisch immer wieder an dem konkreten gottesdienstlichen Vollzug vor Ort, wenn es dort ganz praktisch darum geht, was von der Kanzel verkündigt wird und wie die Sakramente verwaltet werden. Die Predigt ist ja nicht eine unverbindliche Meinungsäußerung des jeweiligen Predigers, sondern der Prediger, wenn er denn rechter Prediger ist, erhebt den Anspruch, dass seine Predigt das Wort Gottes ist – wofür er sich dann auch einmal vor dem Richterstuhl Christi zu verantworten hat. Der Prediger verkündigt eben nicht bloß eine „Tradition“, sondern spricht im Auftrag und in der Vollmacht Christi. Und im Sakrament geht es auch nicht bloß um Traditionspflege, sondern ganz konkret beispielsweise um die Frage: Wovor knie ich beim Altarsakrament nieder: vor einem Stück Brot oder vor dem Leib des Herrn, den der Pastor in der Hand hält? Nein, das ist eben nicht egal, und darum stellt die Lehre, dass das Brot nur ein Symbol des Leibes Christi ist, aber Christus nicht selber leibhaftig in ihm gegenwärtig ist, keine die Christenheit bereichernde Tradition dar, sondern ist eine Irrlehre, die das Wesen des Sakraments in Frage stellt. Ebenso stellt die Bestreitung der Gültigkeit der Kindertaufe keine Bereicherung der kirchlichen Tradition dar, sondern ist ebenfalls eine Seelen gefährdende Irrlehre. Und die Lehre, der Mensch müsse zur Erlangung seines Heils durch seine Entscheidung oder sein Tun einen Beitrag leisten, erklärt der Apostel Paulus im Galaterbrief ebenfalls nicht zu einer legitimen Variante der Evangeliumsverkündigung, um nur einige Beispiele zu nennen.

Viel zu kurzsichtig sind wir, wenn wir die Einheit der Kirche nur gleichsam auf der horizontalen Ebene zwischen bestehenden Kirchenkörpern suchen. Niemals preisgegeben werden darf dabei die Einheit mit der katholischen, rechtgläubigen Kirche aller Zeiten. Wo diese Einheit aufgegeben wird, nützen alle organisatorischen Zusammenschlüsse nichts. Doch gerade auf der Basis der Einheit mit der Kirche aller Zeiten sollen wir immer wieder auch die sichtbare Einheit der Kirche suchen und vor allem von Christus erbitten, weil diese Einheit letztlich doch immer allein von Ihm geschenkt und gewirkt wird.