4. Die römisch-katholische Kirche (Teil 2)

Vom „und“, das für römisch-katholisches Denken immer wieder kennzeichnend ist, war am Ende des ersten Teils die Rede. Anders ausgedrückt: Göttliches und menschliches Handeln sind in Lehre und Praxis der römisch-katholischen Kirche so miteinander verwoben, ja bilden solch eine Einheit, dass eine kritische Unterscheidung zwischen beidem in dieser Konzeption keinen Platz hat.
Dieses Ineinander von göttlichem und menschlichem Handeln ist schon begründet, wie bereits im ersten Teil angedeutet, in der römisch-katholischen Sicht des Menschen: Durch den Sündenfall ist der Mensch zwar in eine schlechtere Position geraten; es verbleibt aber immerhin so viel Positives an und in ihm, dass er beim Empfang der Gnade Gottes durch seine Entscheidung mitzuwirken vermag; das Konzil von Trient spricht in diesem Zusammenhang von einem „cooperari“, einem „Kooperieren“ des Menschen mit Gott (DH 1525). Die Gnade Gottes, die der Mensch gewiss auch nach römisch-katholischem Verständnis ohne vorherige Verdienste empfängt, verwandelt den Menschen dabei so, dass er nach dem Empfang der Gnade, der sich konkret in der Taufe vollzieht, nach römisch-katholischer Lehre kein Sünder mehr ist: Die Gerechtigkeit, die dem Menschen in der Taufe geschenkt wird, wird so sehr mit dessen Handeln eins, dass sie ihre Gestalt im konkreten Tun des Menschen gewinnt: Nur wenn der Mensch sündige Taten begeht, wird er wieder ein Sünder; ansonsten ist er nur Gerechter und nicht Sünder; die lutherische Lehre, dass der von Gott Gerechtfertigte immer gerecht und Sünder zugleich bleibt (simul iustus et peccator), weil seine Gerechtigkeit „außerhalb seiner selbst“, nämlich in Christus begründet liegt, bedeutet für römisch-katholisches Denken einen unüberwindlichen Anstoß, wie auch die Diskussionen um die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigung“ zwischen dem Lutherischen Weltbund und der römisch-katholischen Kirche gezeigt haben. Diese römisch-katholische Konzeption hat zwei gravierende Folgen: Zum einen bedeutet dies, dass die römisch-katholische Kirche bestreitet, dass der getaufte Christ seines Heils gewiss sein kann und darf: Ob er am Ende seines Lebens im Letzten Gericht Gottes besteht, hängt ja auch von ihm, dem Menschen, selber ab, ob er die empfangene Gerechtigkeit in seinem Leben bewahrt und durch gute Werke gemehrt hat oder nicht. Und zum anderen bedeutet dies, dass die Taufe als Quelle des Trostes für den getauften Christen eine viel geringere Rolle spielt, als wir dies in der lutherischen Kirche kennen. Wer nach seiner Taufe sündigt, erleidet damit „Schiffbruch“ und verliert die Taufgnade, wie es das Konzil von Trient formuliert (DH 1542); derjenige, der nach der Taufe gesündigt hat, kann nicht wieder, wie es die lutherische Kirche lehrt, gleichsam wieder in das Schiff der Taufe hineinklettern, aus dem er herausgefallen ist; sondern von dem Schiff selber bleibt nach römisch-katholischer Lehre nur noch eine „Planke“ über, an die sich der Schiffbrüchige klammern kann. Diese Planke ist das Bußsakrament, das wir im Unterschied zur Taufe nicht „allein aus Gnaden“ empfangen: „Zu dieser Neuheit und Vollkommenheit aber können wir durch das Sakrament der Buße ohne viele Tränen und Anstrengungen von unserer Seite in keiner Weise kommen, wie es Gottes Gerechtigkeit fordert, so dass von den heiligen Vätern die Buße mit Recht eine mühsame Taufe genannt wurde.“ (DH 1672) Man würde der römisch-katholischen Kirche gewiss Unrecht tun, wenn man ihr unterstellen würde, sie würde eine „Werkgerechtigkeit“ lehren, dass der Mensch also einfach durch das Tun guter Werke gerechtfertigt wird. Vielmehr lehrt sie ein Ineinander von vorausgehender göttlicher Gnade und anschließendem menschlichem Mitwirken, zu dem der Mensch fähig ist und das zugleich auch erforderlich ist, da es der göttlichen Gerechtigkeit nicht entsprechen würde, wenn der Mensch, der nach der Taufe gesündigt hat, ohne Taten der Genugtuung wiederum allein aus Gnaden erneut gerechtfertigt würde. Dies hat natürlich Auswirkungen in der Verkündigung und in der kirchlichen Praxis.
Das Ineinander von göttlichem und menschlichem Handeln in der römisch-katholischen Lehre und Praxis wird weiterhin erkennbar im Verständnis des Heiligen Altarsakraments. Die Differenz zwischen lutherischer und römisch-katholischer Kirche besteht nicht in der Lehre von der Realpräsenz, das heißt der Lehre von der wirklichen, wesenhaften Gegenwart von Leib und Blut Christi im gesegneten Brot und Wein. Die Kritik der lutherischen Reformation gegen die „Transsubstantiationslehre“ der römisch-katholischen Kirche richtet sich einzig und allein gegen den Versuch, mithilfe von Kategorien aus der Philosophie des Aristoteles das Geheimnis der Realpräsenz zu erfassen. Auch die lutherischen Bekenntnisschriften können ohne Scheu davon reden, dass sich in der Feier des Sakraments kraft der Worte Christi eine „Wandlung“ an den Elementen vollzieht und sie dadurch Leib und Blut Christi werden. Keinesfalls bedeutet die lutherische Lehre von der Realpräsenz eine Minderung oder Vergeistigung der Realität der Gegenwart des Leibes und Blutes Christi in den Elementen. Kritik übte die lutherische Reformation im 16. Jahrhundert an der Praxis, die Elemente bei der Sakramentsfeier nur zur Anbetung und nicht zum Verzehr zu konsekrieren. Hier hat sich erfreulicherweise in der Praxis der römisch-katholischen Kirche heutzutage vieles verändert; umgekehrt nimmt die römisch-katholische Kirche mit Recht Anstoß an Praktiken im evangelischen Bereich, konsekrierte Elemente nach der Sakramentsfeier wieder wie unkonsekrierte zu behandeln. Dies entspricht eindeutig nicht der Praxis Martin Luthers selber, der es scharf kritisiert hat, wenn z.B. konsekrierte Hostien nach der Sakramentsfeier wieder in die Hostienbüchse zurückgelegt wurden und damit von unkonsekrierten nicht mehr zu unterscheiden waren. Die wesentliche Differenz zwischen römisch-katholischer und lutherischer Kirche besteht in Bezug auf das Heilige Altarsakrament – neben der nach wie vor weithin verbreiteten Praxis der Austeilung der Kommunion nur unter der Gestalt des Brotes an die Gläubigen – vielmehr in der Frage des Verständnisses des Sakramentes als Opfer: Während die lutherische Kirche lehrt, dass das Altarsakrament ganz und gar Geschenk ist und entsprechend im Sakrament Gott der Handelnde und der Mensch der Empfangende ist, lehrt die römisch-katholische Kirche auch hier wieder ein Ineinander von göttlichem und menschlichem Handeln: Leib und Blut Christi werden von der Gemeinde bei der Kommunion empfangen; sie werden zuvor aber auch Gott als Opfer dargebracht. So heißt es nach der Konsekration in einem Gebet der Messliturgie: „So bringen wir aus den Gaben, die du uns geschenkt hast, dir, dem erhabenen Gott, die reine, heilige und makellose Opfergabe dar: das Brot des Lebens und den Kelch des ewigen Heils. Blicke versöhnt und gütig darauf nieder und nimm sie an wie einst die Gaben deines gerechten Dieners Abel, wie das Opfer unseres Vaters Abraham, wie die heilige Gabe, das reine Opfer deines Hohenpriesters Melchisedek.“  Dieses „unblutige Opfer“ ist ein „wirkliches Sühnopfer“, betont das Konzil von Trient: „Es wird deshalb nicht nur für die Sünden der lebenden Gläubigen, für ihre Strafen, Genugtuungen und andere Nöte …, sondern auch für die in Christus Verstorbenen, die noch nicht vollkommen gereinigt sind, mit Recht dargebracht.“ (DH 1743) Dass in der Sakramentsfeier nicht nur das Opfer von Golgatha in der Gestalt des Leibes und Blutes Christi gegenwärtig ist, sondern erneut ein Opfer vollzogen wird, das sogar noch Toten zugute kommen kann, ist nach lutherischer Lehre nicht nachvollziehbar; für sie ist dieses Ineinander von Opfer Christi und Opfer der Kirche mit ihrem Verständnis des Altarsakraments und der Rechtfertigung des Menschen vor Gott  unvereinbar.
Begründet wird solche kirchliche Praxis, wie auch andere kirchliche Praktiken in der römisch-katholischen Kirche immer wieder mit der „Tradition“. Die Verheißung Jesu, dass der Heilige Geist die Jünger „in alle Wahrheit leiten“ wird (St. Johannes 16,13), wird von der römisch-katholischen Kirche so interpretiert, dass auch die kirchliche Tradition für sie eine Offenbarungsquelle darstellt, weil auch in ihr der Heilige Geist am Werke ist. Die Heilige Schrift bildet den Beginn der Tradition, die sich dann im Weiteren in der Kirche fortgesetzt hat. Insofern bildet die Heilige Schrift kein kritisches Gegenüber zur Tradition, sondern ist lediglich ein – wenn auch ganz wichtiger – Teil von ihr. Das typisch lutherische Argument „Das steht aber doch so nicht in der Bibel“ wird in diesem Zusammenhang von daher auf römisch-katholischer Seite nicht als Argument anerkannt: Eine Lehre und Praxis muss nicht direkt in der Heiligen Schrift begründet sein, sondern kann ihre Begründung auch aus der Tradition der Kirche erfahren. Dennoch darf man erfreut feststellen, dass die Heilige Schrift seit dem II. Vatikanischen Konzil in der römisch-katholischen Kirche ein sehr viel stärkere Bedeutung erlangt hat; das Jesusbuch des jetzigen Papstes ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie die Heilige Schrift als Quelle und Norm des Glaubens in einer Weise behandelt wird, die dem Anliegen der lutherischen Reformation sehr nahekommt. Umgekehrt weiß natürlich auch die lutherische Kirche um die Bedeutung der kirchlichen Tradition auch als Hilfe zur Auslegung der Heiligen Schrift; dennoch hält die lutherische Kirche daran fest, dass die Heilige Schrift immer wieder auch kirchliche Tradition kritisch in Frage zu stellen vermag. Die römisch-katholische Kirche bezieht dagegen die Verheißung aus Joh 16,13 auch in dieser Weise auf sich, dass nach ihrer Lehre sie allein Kirche im Vollsinn dieses Wortes ist; zum Kirchesein im Vollsinn gehört nach ihrer Lehre auch die Gemeinschaft mit dem Papst, dem die Verheißung aus Joh 16,13 auch in der Weise gilt, dass er bei der Verkündigung von Dogmen „ex cathedra“ Unfehlbarkeit in Anspruch nehmen kann. Seit der Verkündigung dieses Dogmas von der Unfehlbarkeit des Papstes auf dem I. Vatikanischen Konzil 1870 hat allerdings erst ein Papst, Pius XII., bei der Verkündigung des Dogmas von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel im Jahr 1950 von diesem Anspruch auf Unfehlbarkeit Gebrauch gemacht. Keinesfalls lehrt die römisch-katholische Kirche dagegen, dass Päpste in allen ihren Äußerungen unfehlbar seien, wie dies mitunter auch in recht dümmlicher Weise in den Medien behauptet wird.
Der Verzicht auf die Heilige Schrift als kritische Instanz wirkt sich in der römisch-katholischen Kirche nicht zuletzt auch im Umgang mit den Heiligen aus. Römisch-katholische Christen praktizieren nicht, wie mitunter behauptet wird, eine „Heiligenanbetung“; denn Anbetung gebührt Gott allein. Wohl aber verehren sie die Heiligen. Das tun wir als lutherische Christen auch. In der römisch-katholischen Kirche nimmt diese Verehrung jedoch auch die Form der Heiligenanrufung an, dass Gebete zu den Heiligen gesprochen werden. Dafür sehen wir als lutherische Christen keinen Grund in der Heiligen Schrift; wir sehen im Gegenteil die Gefahr, dass damit das Vertrauen des Christen von Christus weg auf die Heiligen gelenkt wird. Diese Gefahr ist besonders in der Volksfrömmigkeit gegeben, wenn man dort etwa Maria bittet, ihren Sohn gnädig zu stimmen, oder wenn Maria dort mit Prädikaten belegt wird, die aus unserer Sicht allein Christus zukommen, wenn es etwa in dem Gesang „Salve Regina“ heißt: „Sei gegrüßt, o Königin, Mutter der Barmherzigkeit; unser Leben, unsere Wonne und unsere Hoffnung, sei gegrüßt! Zu dir rufen wir verbannten Kinder Evas; zu dir seufzen wir trauernd und weinend in diesem Tal der Tränen. Wohlan denn, unsere Fürsprecherin, wende deine barmherzigen Augen uns zu“. Dies können wir als lutherische Christen in keiner Weise mitsingen, so sehr auch nach unserem Bekenntnis Maria, die Mutter Gottes, allerhöchster Ehren wert ist. Dies gilt erst recht für die Verehrung, die Maria in der Gestalt von Marienfiguren oder Bildern an bestimmten Marienwallfahrtsorten zuteil wird. Hier scheint uns die Volksfrömmigkeit in vielen Fällen, vorsichtig ausgedrückt, nicht nur aus biblischen Quellen gespeist zu sein. Ebenso wenig können wir die Lehre nachvollziehen, dass die Heiligen so viele überschüssige gute Werke in ihrem Leben vollbracht haben, dass aus diesem Schatz der guten Werke die Kirche Ablässe zur Tilgung von Strafen nach dem Tod austeilen kann, wie dies auch heute noch in der römisch-katholischen Kirche, praktiziert wird.
Wir merken, wie hier das Verhältnis von göttlichem und menschlichem Handeln immer wieder ganz anders bestimmt wird, als wir als lutherische Christen dies von der Heiligen Schrift her nachvollziehen können.
Um diese Grunddifferenz werden wir auch in Zukunft zwischen unseren Kirchen immer wieder ringen müssen. Sie wird jedoch leider nicht dadurch verringert, dass in den letzten Jahrzehnten auch in die römisch-katholische Kirche, wie auch in die lutherische Kirche, mancherlei protestantische Irrtümer eingedrungen sind, die auch bisher verbliebene Gemeinsamkeiten zwischen der lutherischen und der römisch-katholischen Kirche in Frage stellen. Umso wichtiger bleibt das ökumenische Gespräch zwischen unseren Kirchen auf allen Ebenen, in dem wir so viele grundlegende Gemeinsamkeiten zwischen den Kirchen wahrnehmen können, die es lohnenswert machen, sich auch mit den verbleibenden Differenzen nicht einfach abzufinden. Diese werden aber nicht dadurch überwunden, dass wir sie ignorieren; denn auch darin, dass Kirchengemeinschaft Gemeinschaft im Lehren und Bekennen voraussetzt, sind sich unsere beiden Kirchen ganz einig!