11. Die Pfingstkirchen

Die Pfingstkirchen sind die mit Abstand am schnellsten wachsende christliche Gruppierung. Je nach Zählweise rechnen sich heutzutage weltweit zwischen 200 und 600 Millionen Menschen zu dieser Bewegung. Diese dehnt sich gegenwärtig am stärksten in Lateinamerika aus, daneben aber auch in Afrika und Asien. So werden beispielsweise in Kenia 33% der Bevölkerung und in Brasilien 15% der Bevölkerung zur Pfingstbewegung gerechnet. In Deutschland hat die Pfingstbewegung etwa 300.000 Mitglieder, neunmal so viele wie die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche. Sie hat auch in Deutschland einen stärkeren Zulauf als die meisten anderen christlichen Kirchen.
Bereits zur Reformationszeit gab es Bewegungen, die mit einem unmittelbaren Wirken des Heiligen Geistes rechneten und von Martin Luther als „Schwärmer“ bezeichnet wurden. Gegen sie richtet sich der 5. Artikel des Augsburger Bekenntnisses, in dem es heißt: „Damit wir zu diesem Glauben kommen, hat Gott das Predigtamt eingesetzt, das Evangelium und die Sakramente gegeben. Durch diese Mittel gibt Gott den Heiligen Geist, der bei denen, die das Evangelium hören, den Glauben schafft, wo und wann er will. … Verworfen werden die Wiedertäufer und andere, die lehren, dass wir den Heiligen Geist ohne das leibhafte Wort des Evangeliums durch eigenes Bemühen, eigene Gedanken und Anstrengungen erlangen.“
Die moderne Pfingstbewegung hat ihre Wurzeln in amerikanischen Erweckungsbewegungen Anfang des 20. Jahrhunderts, die ihrerseits aus dem Methodismus erwuchsen. Grundlegend für ihr Denken ist die Unterscheidung zwischen Bekehrung und Rechtfertigung als Beginn des Glaubensweges und dem „zweiten Segen“ der Heiligung, der in besonderen Erfahrungen des Heiligen Geistes zum Ausdruck kommt. Nur wer diese besonderen Geisterfahrungen macht, wird als ein wahrhaftiger Christ angesehen.
Schon der Name „Pfingstbewegung“ bzw. „Pfingstkirchen“ weist darauf hin, dass das Wirken des Heiligen Geistes bzw. dessen, was in diesen Gruppierungen unter dem Heiligen Geist verstanden wird, in ihnen eine herausragende Rolle spielt. Es gibt pfingstkirchliche Gruppierungen, die die christliche Lehre von der Dreieinigkeit Gottes ablehnen und stattdessen die bereits in der Alten Kirche als Irrlehre verworfene Auffassung vertreten, wonach Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist drei aufeinanderfolgende Erscheinungsweisen Gottes seien, sodass Gott sich zunächst als Vater, dann als Sohn und dann als Heiliger Geist zu erkennen gegeben hat. Die Zeit von Vater und Sohn ist damit gleichsam abgelaufen – Gott wird jetzt nur noch als Heiliger Geist erfahren. Doch auch in den pfingstkirchlichen Gruppierungen, die am Bekenntnis zum dreieinigen Gott festhalten, ist oftmals eine deutliche Akzentverschiebung zu erkennen: Nicht der gekreuzigte Christus steht im Zentrum der Verkündigung (vgl. 1. Korinther 2,2), sondern Gottesdienst und Verkündigung sind konzentriert auf die fühlbaren Wirkungen des Heiligen Geistes.
Dabei werden nicht Glaube und Liebe als die entscheidenden Wirkungen des Geistes Gottes wahrgenommen, sondern vielmehr Zungenrede, Prophetie und Heilungen. Dabei meint man, sich auf das Vorbild des Neuen Testamentes berufen zu können, und sieht sich in besonderer Weise als „neutestamentliche Gemeinde“ an, die nach vielen Jahrhunderten nun wieder die Gnadengaben des Neuen Testamentes, auf Griechisch: die „Charismen“, wiederentdeckt habe bzw. gar ein „neues Pfingsten“ erlebt habe. Verbreitet ist die Unterscheidung zwischen der „Wassertaufe“, die, ganz in freikirchlichem Sinne, als Ausdruck der Bekehrung des Täuflings verstanden wird und darum auch nicht an Säuglingen und kleinen Kindern vollzogen wird, und der „Geistestaufe“, die von der „Wassertaufe“ getrennt ist und das Ergebnis eines Fortschreitens in der Heiligung des Gläubigen darstellt. Als Zeichen dieser „Geistestaufe“ wird oftmals das Zungenreden hervorgehoben, dessen Fehlen in den traditionellen Kirchen für viele Pfingstgemeinden ein Zeichen dafür ist, dass in diesen Kirchen der Heilige Geist nicht wirklich oder nur in sehr eingeschränkter Weise am Werk ist.
Das Zungenreden ist eine Form von Ekstase, in der die Gläubigen im Gottesdienst anfangen, in unverständlichen Sprachen (dies ist mit „Zungen“ gemeint) zu sprechen oder zu lallen. In der Tat wird auch im Neuen Testament an einigen wenigen Stellen (Apostelgeschichte 10,46; 19,6) solches „Zungenreden“ als Wirkung des Heiligen Geistes erwähnt, wobei dieses „Zungenreden“ deutlich unterschieden werden muss von dem Pfingstgeschehen selber, bei dem die Apostel gerade nicht in unverständlichen Sprachen redeten, sondern im Gegenteil von Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft verstanden wurden. Das Zungenreden scheint ansonsten in den ersten christlichen Gemeinden nicht weit verbreitet gewesen zu sein; in den Briefen des Neuen Testamentes wird es nur im 1. Korintherbrief erwähnt, in dem der Apostel Paulus sich mit enthusiastischen Erscheinungen in der dortigen Gemeinde sehr kritisch auseinandersetzt. Dabei wendet er in 1. Korinther 14 gegen das Zungenreden ein, dass es unverständlich ist und damit nicht der Erbauung der Gemeinde, sondern der Verstockung der Ungläubigen dient, die angesichts einer in Zungen redenden Gemeinde nur auf die Idee kämen, die Christen seien wohl völlig durchgedreht. Ausdrücklich wendet sich Paulus in 1. Korinther 14 gegen eine in vielen Pfingstgemeinden heute zu beobachtende Praxis, dass nicht bloß zwei oder drei in Zungen reden, sondern die ganze Gemeinde gleichzeitig das Zungenreden praktiziert. Die Gottesdienste in den Pfingstgemeinden haben von daher, trotz ihres gegenteiligen Selbstverständnisses, mit den Gottesdiensten der ersten Christengemeinden, selbst mit denen in der Ausnahmegemeinde Korinth, oftmals nur wenig zu tun. Mehr als bedenklich ist auch die Art und Weise, wie in vielen Gottesdiensten von Pfingstgemeinden dieses Zungenreden gezielt durch den Einsatz bestimmter Musik und anderer Mittel der Massensuggestion hervorgerufen wird: Hier legt sich die Vermutung nahe, dass es sich bei dem angeblichen Wirken des Heiligen Geistes doch wohl eher um eine Mischung aus Manipulation und der Befriedigung des natürlichen Bedürfnisses von Menschen handelt, ihren Emotionen einmal freien Lauf zu lassen. Noch deutlicher hatten es Vertreter des deutschen Pietismus bereits in der „Berliner Erklärung“ vom 15. September 1909 formuliert: „Die sogenannte Pfingstbewegung ist nicht von oben, sondern von unten, sie hat viele Erscheinungen mit dem Spiritismus gemein. Es wirken in ihr Dämonen, welche, vom Satan mit List geleitet, Lüge und Wahrheit vermengen, um die Kinder Gottes zu verführen. … Wir erwarten nicht ein neues Pfingsten; wir warten auf den wiederkommenden Herrn.“ Auch wenn man das Zungenreden nicht grundsätzlich zu einem dämonischen Phänomen erklären will, muss man sich schon ernsthaft die Frage stellen, was sich dahinter verbirgt, wenn in neuerer Zeit in Teilen der Pfingstbewegung es als besonderes Wirken des Heiligen Geistes angesehen wird, dass Menschen mit einem Male rückwärts nach hinten kippen, zwanghaft zu lachen anfangen oder Tierlaute von sich geben (alles leider kein Witz!).
Neben der Prophetie, bei der Menschen im Gottesdienst auftreten und behaupten, sie hätten soeben eine besondere Weisung des Heiligen Geistes erhalten, die sie der Gemeinde mitzuteilen hätten, spielen in weiten Teilen der Pfingstbewegung Krankenheilungen eine wichtige Rolle. Nicht selten wird mit ihnen in besonderer Weise geworben; dadurch werden viele Menschen angelockt, die sich von diesen Versammlungen die Heilung ihrer körperlichen Gebrechen erhoffen. Die angeblichen oder tatsächlichen „Erfolge“ bei diesen Heilungen sind schwer nachprüfbar. Zutiefst problematisch ist in jedem Fall die dahinterstehende „Theologie der Herrlichkeit“, wie sie bereits Martin Luther bezeichnet hat, also die Auffassung, dass sich das Wirken Gottes in meinem persönlichen Wohlergehen manifestiert: Der wirkliche Glaube bewirkt auch den Sieg über alle Krankheiten und alle Armut: Wer wirklich glaubt, lebt geistlich, leiblich und finanziell im Wohlstand. So kann Dr. Wolfhard Margies, der die größte pfingstkirchliche Gemeinde in Berlin, die „Gemeinde auf dem Weg“, leitet, allen Ernstes behaupten, die verfolgten Christen in Russland seien selber schuld an ihrem Schicksal gewesen, da sie die Gesetze des Glaubens, die Gesundheit und Erfolg garantieren, nicht angewendet hätten. Ebenfalls verbreitet ist in diesem Zusammenhang die Idee einer „Geistlichen Kampfführung“, wonach man davon ausgeht, dass böse Geister jeweils bestimmte territoriale Gebiete beherrschen und von charismatischen Kämpfern oder aber auch durch sogenannte „Jesus-Märsche“ vertrieben werden können und müssen, um eine Erweckung in dem Gebiet, das bisher die bösen Geister beherrschten, zu ermöglichen.
Es ist insgesamt schwierig, Aussagen über Lehre und Praxis „der“ Pfingstbewegung zu machen, da in der Pfingstbewegung die einzelnen Gemeinden zumeist sehr eigenständig sind und in vielen Fällen sehr stark auf bestimmte charismatische Gemeindeleiter ausgerichtet sind. In Deutschland nennen sich viele dieser Gemeinden „Freie Christengemeinde“. Dabei gibt es in Deutschland durchaus auch „gemäßigte“ freikirchliche Pfingstgemeinden, deren Dachverband auch in ökumenischen Gremien mitarbeitet und die teilweise auch eine bemerkenswerte diakonische Arbeit leisten. Noch einmal davon zu unterscheiden, wenn auch eng damit verbunden, sind die sogenannten „charismatischen Bewegungen“ innerhalb der verfassten „traditionellen“ Kirchen, die im Rahmen ihrer Kirchen besondere Geistesgaben, etwa auch das Zungenreden, neu zur Geltung zu bringen versuchen. Während diese charismatische Bewegung innerhalb der römisch-katholischen Kirche integriert werden konnte, ist es innerhalb der evangelischen Kirche letztlich doch zur Gründung von Freikirchen gekommen, etwa durch den Hamburger Pastor Wolfram Kopfermann. Kennzeichnend für diese charismatischen Bewegungen im evangelischen Bereich ist, dass ihr Wirken immer wieder zu Spaltungen innerhalb von bestehenden Gemeinden geführt hat. Insgesamt lässt sich im Bereich der Pfingstbewegung oftmals eine Sehnsucht nach immer spektakuläreren angeblichen Wirkungen des Heiligen Geistes erkennen, die in nicht wenigen Fällen zu psychischen Abhängigkeiten führt, die denen von Drogenabhängigen durchaus vergleichbar sind. So gibt es mittlerweile bereits zahlreiche Selbsthilfegruppen für Aussteiger aus der Pfingstbewegung. Nichtsdestoweniger haben pfingstkirchliche Gemeinden weiterhin einen großen Zulauf, weil sie die Bedürfnisse der Menschen nach Emotionalität ansprechen und oftmals eine Botschaft verkündigen, die genau die  Erwartungen des „natürlichen Menschen“ befriedigt
Die Kirchen sollten sich durch die Pfingstbewegung fragen lassen, ob ihre Gottesdienste vielleicht mitunter zu „verkopft“ sind und welche Rolle der Heilige Geist eigentlich in ihrer Verkündigung und Frömmigkeit spielt. Sie sollten dabei jedoch nicht vergessen, dass dem Neuen Testament zufolge nicht die Zungenrede, sondern die Liebe die größte charismatische Gabe ist. Betrachtet man die Ausführungen des Apostels Paulus über die Geistesgaben genauer, wird man sehr wohl feststellen können, dass auch unsere lutherische Gemeinde im biblischen Sinne eine wirklich charismatische Gemeinde ist, eine Gemeinde, deren Glieder mit vielen Gaben des Heiligen Geistes beschenkt sind. Zugleich muss nüchtern festgehalten werden:
Wo emotionale Erfahrungen mit dem Wirken des Heiligen Geistes verwechselt werden und das Wirken der Gnadenmittel ersetzen, wo trotz Berufung auf die Bibel eigene Eingebungen das Wort der Heiligen Schrift ergänzen oder gar verdecken und wo an die Stelle der „Theologie des Kreuzes“ ein Wohlfühlevangelium und die Botschaft von Glück und Erfolg tritt, muss man ganz klar von einem „anderen Evangelium“ reden, vor dem bereits der Apostel Paulus eindringlich gewarnt hat.