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5. Das Offertorium

An den „Wortteil“ des Gottesdienstes schließt sich nunmehr der Sakramentsteil an, der Höhepunkt des Gottesdienstes, auf den die ganze Liturgie ausgerichtet ist: Wir feiern den Advent Christi in unserer Mitte, die Ankunft unseres Herrn mit seinem Leib und Blut in den sichtbaren Zeichen von Brot und Wein. Vom Kommen des HERRN und dem, was dieses Kommen bedeutet, ist schon im Alten Testament immer wieder die Rede. Das Kommen des HERRN, wie wir es nun in der Feier des Heiligen Mahles erleben, ist eingebunden in den dreifachen Advent unseres Herrn: Es weist zurück auf sein Kommen in diese Welt als der Fleisch gewordene Gottessohn, denn eben als diesen Mensch Gewordenen empfangen wir ihn nun mit seinem Leib und Blut im Sakrament. Und es weist zugleich nach vorne auf seine Wiederkunft am Ende der Zeit: Jede Sakramentsfeier ist gleichsam schon eine Generalprobe für das sichtbare Kommen des HERRN, dem wir entgegengehen.

In früheren Zeiten gab es zwischen Wortteil und Sakramentsteil im Gottesdienst eine deutliche Zäsur: Alle Ungetauften hatten nun den gottesdienstlichen Raum zu verlassen; das Heilige Mahl ist und bleibt ein Mahl der Getauften. Der Ruf in der Liturgie der Ostkirchen: „Die Türen, die Türen!“ erinnert bis heute an diese Praxis. Die heilige Handlung und die heiligen Worte sollten nicht denen preisgegeben werden, die selber keinen Anteil am Heiligen Mahl hatten. Und dass die Taufe die unabdingbare Voraussetzung für die Teilhabe an der Kommunion ist, war lange Zeit ökumenischer Konsensus, bis dieser erst in den letzten Jahrzehnten im protestantischen Bereich teilweise aufgekündigt wurde. In unserer lutherischen Kirche halten wir an diesem Konsensus fest; wenn bei der Kommunionausteilung ein Gast nach vorne kommt, bei dem nicht klar ist, ob er getauft ist, muss er entsprechend am Altar befragt werden. Ist er nicht getauft, kann ihm das Sakrament nicht gereicht werden; er kann jedoch mit dem Leib des HERRN gesegnet werden.

Eine andere, unangemessene Zäsur zwischen Wort- und Sakramentsteil kam in der Zeit der Aufklärung und des Rationalismus auf: Die Sakramentsfeier wurde vom Rest des Gottesdienstes abgekoppelt; der Predigtgottesdienst wurde zur Normalform des Gottesdienstes, wobei dann mitunter „im Anschluss an den Gottesdienst“ – so die unschöne, lange Zeit gebräuchliche Formulierung – mitunter das Heilige Abendmahl gefeiert wurde. Zu dieser Mahlfeier „im Anschluss an den Gottesdienst“ blieb dann oftmals nur eine kleine Gruppe zurück. Selbst wenn das Heilige Abendmahl im Gottesdienst und nicht im Anschluss an ihn gefeiert wurde, war es sogar in vielen Gemeinden unserer lutherischen Kirche lange Zeit üblich, dass diejenigen, die nicht am Heiligen Abendmahl teilnahmen, die Kirche beim Lied zur Bereitung verließen und sich damit auch des Segens am Schluss des Gottesdienstes beraubten. Diese Unsitte fand erst mit der Wiederentdeckung der regelmäßigen Kommunion der ganzen Gemeinde ein Ende. Gewiss darf auch heute die Teilnahme an der Kommunion keinen Gewissenszwang bedeuten, dass „man jedes Mal gehen muss“. Doch diejenigen, die in einem Gottesdienst nicht kommunizieren, sind deshalb dennoch nicht bloß Zuschauer. Ihr Mitbeten und ihr Mitsingen stellen einen wichtigen Dienst für die Gemeinde dar; und im Mitvollzug der Sakramentsliturgie werden auch sie angeleitet zu dem, was die Kirche die „geistliche Kommunion“ genannt hat.

Die Sakramentsliturgie beginnt mit dem Offertorium, der Gabenbereitung. Schon in den frühesten Beschreibungen des Gottesdienstes aus dem 2. Jahrhundert wird geschildert, wie die Gottesdienstteilnehmer Brot und Wein mit anderen Gaben zu Beginn der Sakramentsfeier zum Altar brachten. Aus diesen Gaben sonderte derjenige, der die Sakramentsfeier leitete, einige für den Gebrauch beim Sakrament aus; die anderen Gaben wurden anschließend an die Bedürftigen ausgeteilt. Im 3. Jahrhundert schreibt Cyprian an eine wohlhabende Frau: „Du solltest dich schämen, zum Herrenmahl ohne Opfer zu kommen und durch die Kommunion einen Teil des Opfers zu empfangen, das ein Armer dargebracht hat.“

Heutzutage bringen die Gottesdienstteilnehmer ihre Gaben in aller Regel nicht mehr in der Form von Naturalien dar. So hat sich eine praktische Trennung von Dankopfer und Offertorium ergeben. In vielen Gemeinden wird allerdings auch das Dankopfer, die „Kollekte“, im Gottesdienst selber eingesammelt und zum Altar gebracht, wo über den Gaben ein Dankopfergebet gesprochen wird. Dies hat sicher einen guten geistlichen Sinn, weil es zum Ausdruck bringt, dass auch mein Geld und Besitz von meinem Christsein nicht getrennt werden kann und auch mein Abgeben von dem, was ich habe, Teil meines Dienstes für Gott ist. Umgekehrt besteht jedoch die Gefahr, dass in einer Gemeinde, in der die finanziellen Möglichkeiten der Gemeindeglieder sehr unterschiedlich sind, sich ärmere Gemeindeglieder, die sich so gerade die Fahrkarte zum Gottesdienst leisten konnten, von wohlhabenderen Gemeindegliedern beschämt fühlen könnten, wenn sie nicht in gleicher Weise zum Dankopfer beitragen können wie diese. Außerdem ist dort Zurückhaltung geboten, wo kirchenfremde Gottesdienstteilnehmer die Befürchtung haben, der Kirche ginge es zunächst einmal und vor allem um ihr Geld. Aus diesen Gründen kann auch eine dezentere Einsammlung der Kollekte nach dem Gottesdienst ihren guten Sinn haben, wie dies in unserer Gemeinde geschieht. Auch diese Kollektengabe nach dem Gottesdienst ist ihrem ursprünglichen Sinn nach jedoch Teil des Offertoriums zu Beginn der Sakramentsliturgie. Dass die Mahnung des heiligen Cyprian im Übrigen auch heute noch eine sehr aktuelle Wortmeldung zum Thema „Kirchenbeitragszahlung“ darstellen kann, sei wenigstens am Rande vermerkt …

Das Offertorium im engeren Sinn zu Beginn der Sakramentsfeier hat einen guten geistlichen Sinn: Es geht nicht bloß um eine „technische“ Vorbereitung der Segnung der Gaben, sondern es geht in ihr darum, dass die Glieder der Gemeinde sich selber Christus von neuem mit ganzem Herzen zuwenden und sich ihm ganz hingeben: „Ich ermahne euch nun durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst.“ (Römer 12,1) Paul Gerhardt hat den Gedanken des Offertoriums in wunderbarer Weise umschrieben: „Lasset uns singen, dem Schöpfer bringen Güter und Gaben; was wir nur haben, alles sei Gotte zum Opfer gesetzt! Die besten Güter sind unsre Gemüter; dankbare Lieder sind Weihrauch und Widder, an welchen er sich am meisten ergötzt.“ (ELKG 346,3) Natürlich stellt dieses Opfer, das wir Gott darbringen, keine Konkurrenz zu dem einen Opfer Christi im Kreuz dar. Unser Opfer ist kein Sühnopfer, mit dem wir uns bei Gott etwas verdienen könnten. Sondern es ist ganz und gar ein Dankopfer, das sich auf das zurückbezieht, was er, Christus, für uns längst getan hat und woran er uns im Sakrament nun immer wieder neu Anteil gibt. In diesem Sinne hat das Offertorium den Charakter einer „Eucharistie“, einer „Danksagung“, wie man dieses griechische Wort übersetzen kann, das in manchen Kirchen auch als Fachausdruck für die gesamte Sakramentsfeier verwendet wird.

Konkret sieht das Offertorium in unseren Gottesdiensten so aus, dass die Gemeinde ein „Lied zur Bereitung“ singt, das dieser Hinwendung zu Christus und Seinem Kommen im Sakrament dienen soll. Währenddessen bereitet der Liturg am Altar die Gaben für die folgende Segnung vor: Er nimmt das Velum von den Sakramentsgeräten, das „Verhüllungstuch“, das in der jeweiligen liturgischen Farbe des Sonntags gehalten ist und auf das Geheimnis verweist, das das Sakrament ist und bleibt. Dieses Velum wird wie ein Zelt über die Sakramentsgeräte gelegt und erinnert damit zugleich an das „Zelt der Begegnung“ im Alten Testament, die „Stiftshütte“, wie Martin Luther übersetzt hat, in der Gott in der Zeit der Wüstenwanderung inmitten seines Volkes gegenwärtig war. So erfahren auch wir auf unserer Wanderschaft zum Ziel unseres Lebens immer wieder neu die Gegenwart des Herrn im Sakrament. Anschließend legt der Liturg die Hostien, die er der Pyxis, der Hostiendose, entnommen hat, auf die Hostienschale und füllt den Wein aus der Kanne in den Kelch. Die Vorratsgefäße, Pyxis und Kanne, stehen entweder schon zu Beginn des Gottesdienstes auf dem Altar oder können auch nun während des Offertoriums von einem Beistelltisch zum Altar gebracht werden, um die ursprüngliche Form der Gabenbereitung noch deutlicher sichtbar werden zu lassen. Aufgrund der Kommunionanmeldung vor dem Gottesdienst weiß der Liturg, wie viele Hostien er auf die Hostienschale zu legen hat und wie viel Wein er in den Kelch gießt. Da am Ende der Sakramentsfeier ja keine konsekrierten Gaben übrigbleiben sollen und sie erst recht nicht zurückgelegt oder zurückgeschüttet werden sollen, als ob zwischen konsekrierten und nicht konsekrierten Gaben kein Unterschied bestehen würde, geht der Liturg bei der Abzählung der Hostien und bei der Befüllung des Kelches vorsichtig vor. Auf den Kelch legt er nach der Befüllung wieder die Palla, einen viereckigen, mit Stoff überzogenen Karton, der verhindern soll, dass in den Kelch irgendwelche Gegenstände, Insekten oder ähnliches geraten. Anschließend stellt er die Vorratsgefäße deutlich erkennbar getrennt von Hostienschale und Kelch an eine Ecke des Altars, damit der Gemeinde deutlich bleibt, welche Elemente auf dem Altar mit den Worten Christi konsekriert werden und welche nicht. Danach spricht der Liturg über den Gaben, die gesegnet werden sollen, ein Dankgebet, wie auch Christus dies „in der Nacht, da er verraten ward“, getan hat. In diesem Gebet bittet er zugleich darum, dass diese irdischen Gaben nun kraft der Worte Christi zum Brot des Lebens und zum Kelch des Heils werden mögen, eben zum wahren Leib und zum wahren Blut des Herrn.