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Das Vaterunser: Vierte und Fünfte Bitte.

Das Vaterunser: Vierte und Fünfte Bitte.

 

DIE VIERTE BITTE
Unser tägliches Brot gib uns heute.

Was ist das?
Gott gibt tägliches Brot, auch wohl ohne unsere Bitte,
allen bösen Menschen;
aber wir bitten in diesem Gebet, daß er’s uns erkennen lasse
und wir mit Danksagung empfangen unser täglich Brot.

Was heißt denn täglich Brot?
Alles, was zur Leibes Nahrung und Notdurft gehört, wie
Essen, Trinken, Kleider, Schuh,
Haus, Hof, Acker, Vieh, Geld, Gut,
fromm Gemahl, fromme Kinder, fromm Gesinde,
fromme und treue Oberherren, gut Regiment,
gut Wetter, Friede, Gesundheit, Zucht, Ehre,
gute Freunde, getreue Nachbarn und desgleichen.


Der Sinn des griechischen Wortes „epiousios“, das in der uns bekannten Fassung des Vaterunsers mit „täglich“ wiedergegeben wird, läßt sich nicht ganz leicht erfassen, da dieses Wort in der gesamten antiken Literatur nur in der Formulierung des Vaterunsers erscheint. Es mag sich sehr wohl auf die Situation der ersten Jünger beziehen, die von Jesus ohne Brot, Tasche und Geld zur Verkündigung des Reiches Gottes ausgesandt worden waren: Für sie ging es in dieser Bitte tatsächlich um das „tägliche Brot“. Übersetzt man das griechische Wort jedoch ganz wörtlich, dann bedeutet es so viel wie: „übernatürliches Brot“, und so wurde diese Bitte schon in den ersten Jahrhunderten des Christentums als Bitte um das Brot des Lebens, als Bitte um die Gabe des Heiligen Mahles verstanden, in dem das „übernatürliche Brot“, der Leib Christi, der das Brot des Lebens in Person ist, ausgeteilt wird. Entsprechend beten wir auch heute noch diese Bitte des Vaterunsers als Vorbereitung auf den Empfang der Heiligen Kommunion.

In seiner Auslegung der Vierten Bitte im Kleinen Katechismus konzentriert sich Martin Luther auf den ganz „irdischen“ Sinn dieser Bitte. Dabei macht er zugleich aber auch deutlich, daß sich deren Sinn nicht bloß auf das Produkt aus Mehl beschränkt, sondern das ganze irdisch-leibliche Leben des Menschen umfaßt. Die Konkretionen Luthers beziehen sich dabei natürlich auf das Leben eines sächsischen Ackerbürgers im 16. Jahrhunderts; dennoch dürfte es uns nicht schwerfallen, die Aktualität seiner Auslegung des „täglichen Brots“ auch für unsere Zeit zu erkennen: Nach der Nahrung und Kleidung (vgl. dazu 1. Timotheus 6,8!) spricht Luther sogleich die Themen „Beruf und Finanzen“ an – wie passend auch im Zeitalter von Massenarbeitslosigkeit und Hartz IV! Was können wir in den verschiedenen beruflichen Situationen, in denen wir uns befinden, entsprechend alles in diese Vaterunserbitte „packen“! Es folgt der ganze Bereich der Familie: Luther legt die Bitte aus als Bitte um einen frommen (= treuen) Ehepartner und als Bitte darum, daß die Kinder den Weg des Glaubens weitergehen, den man ihnen zu weisen versucht hat. Weiterhin spricht er die Regierenden an, bezeichnenderweise erst nach der Familie, billigt ihnen nicht die „Lufthoheit über die Kinderzimmer“ zu, wie dies heute von mancher Seite wieder gewünscht wird. Wohl aber weiß Luther darum, wie wichtig es für das Gemeinwohl ist, daß Regierungen in ihrem Tun um ihre Verantwortung vor Gott wissen und sich weder an ihrem eigenen Wohlergehen noch einfach an der Meinung der Mehrheit ausrichten. Und wie aktuell ist erst die Bitte um das „gute Wetter“ im Zeitalter von Klimaveränderungen und um Frieden im Zeitalter vielfältiger Terrorbedrohungen! Auch die Gesundheit gehört in die Vierte Vaterunserbitte mit hinein, auch die persönliche Ehre und schließlich auch die guten Freunde und getreuen Nachbarn – wer könnte hier nicht aus eigener Erfahrung mitreden! Wenn wir das Vaterunser für uns selber beten, tun wir also gut daran, gerade auch bei der Vierten Bitte innezuhalten und diese im Sinne des von Luther hier Angeführten zu entfalten – und dabei immer auch das „unser“ mitzubedenken, also nicht nur für sich selber, sondern auch für andere um das „tägliche Brot“ in diesem umfassenden Sinne zu beten.

Wichtig ist dabei, daß wir es mit dem Vaterunser stets aufs Neue einüben, um dies alles täglich zu bitten und nicht schon für einen Monat oder ein Jahr im voraus. Diese Bitte behält ihren guten Sinn auch im Zeitalter von Kühlschränken und Lebensversicherungen, in dem wir ganz selbstverständlich viel weiter planen als bloß bis zum morgigen Tag. Dennoch sollen wir es mit dieser Bitte immer wieder einüben, jeden Tag und alles, was er mit sich bringt, als Geschenk aus Gottes Hand zu empfangen. Entsprechend leitet diese Bitte uns dann auch wieder zum täglichen Dank an den Geber aller Gaben an. Von daher korrespondiert dieser Vierten Bitte dann beispielsweise auch das Tischgebet: Ich kann nicht das Vaterunser beten und mich zugleich auf das von mir erbetene tägliche Brot stürzen, ohne Gott für diese Gabe erst einmal zu danken! Genau dieser „Empfang mit Danksagung“ (vgl. dazu 1. Timotheus 4,4+5) unterscheidet uns nach Luther im übrigen auch von den „bösen Menschen“, denen Gott das tägliche Brot ja auch schenkt, die es aber als Selbstverständlichkeit annehmen und Gott dafür nicht danken. So soll und kann die Vierte Vaterunserbitte auch unseren Alltag, ja unsere ganze Lebenseinstellung prägen!

 

DIE FÜNFTE BITTE
Und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.

Was ist das?
Wir bitten in diesem Gebet,
daß der Vater im Himmel nicht ansehen wolle unsere Sünden
und um derselben willen solche Bitten nicht versagen;
denn wir sind der keines wert, das wir bitten,
haben’s auch nicht verdient;
sondern er wolle es uns alles aus Gnaden geben,
denn wir täglich viel sündigen und wohl eitel Strafe verdienen.
So wollen wir wiederum auch herzlich vergeben
und gerne wohltun denen, die sich an uns versündigen.


Die Bitte um das tägliche Brot zeigt schon, daß Christus ganz selbstverständlich von uns erwartet, daß wir Sein Gebet auch täglich sprechen. Genauso wie wir täglich unser „Brot“ benötigen, brauchen wir aber auch täglich die Vergebung unserer Schuld, so zeigt es uns Christus in diesem Gebet. Auch nach ihrer Taufe sind und werden Christen nicht so geheiligt und vollkommen, daß sie die Sünden als Vergangenheit hinter sich lassen könnten. Vielmehr gilt für sie, was in 1. Johannes 1,8 in klassischer Weise zum Ausdruck gebracht wird: „Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns.“ Martin Luther hat dies so formuliert: Der Christ ist stets gerecht und Sünder zugleich – und eben darum auch auf die tägliche Bitte um Vergebung angewiesen. Während Lukas die Vaterunserbitte mit „Vergib uns unsere Sünden“ ins Griechische übersetzt, formuliert Matthäus plastischer in der uns geläufigeren Form: „Vergib uns unsere Schulden“. Die Schulden, um deren Vergebung wir bitten, sind dabei keine Äußerlichkeit, sondern belasten das Verhältnis zwischen Gott und uns so grundlegend, daß sie letztlich ohne Vergebung zur bleibenden Trennung von Gott, zum ewigen Tod führen würden, so macht es Christus im Gleichnis vom „Schalksknecht“ (St. Matthäus 18,21-35) deutlich: Schuld ohne Schuldenerlaß bedeutet lebenslange Versklavung. Die Bitte um Vergebung findet ihre Erhörung in dem Zuspruch der Vergebung durch das Evangelium, der seine Zuspitzung findet im Zuspruch der Heiligen Absolution in der Beichte: „Welchen ihr die Sünden erlasset, denen sind sie erlassen“ (St. Johannes 20,23 – hier steht dasselbe griechische Wort wie in der Vaterunserbitte!).

Auf die Bitte um Vergebung folgt der „tröstliche Zusatz“, wie Luther ihn genannt hat: „wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“. Dieser Zusatz ist nicht als „Bedingung“ gemeint, die die Vergebungsgewißheit in Frage stellen könnte, sondern beschreibt eine Folge dieser Vergebung, wie dies aus dem bereits erwähnten Gleichnis vom „Schalksknecht“ hervorgeht, mit dem Christus selber diesen „Zusatz“ erläutert: Die Vergebung, die wir von Gott empfangen haben, befähigt uns dazu, nun auch anderen zu vergeben, die an uns schuldig geworden sind. Ja, diese Vergebung, die wir anderen gewähren, ist für Luther gleichsam ein „Wahrzeichen“, durch das wir die Wirkkraft der Vergebung Gottes in unserem eigenen Leben wahrnehmen können. Darum bezeichnet Luther diesen Zusatz als „tröstlich“. Dabei bleiben auch unsere Entschlüsse, anderen zu vergeben, immer umfangen von der Bitte um Vergebung für all unser unvollkommenes Tun.

Daß wir als Christen dazu bereit sind, denen zu vergeben, die an uns schuldig geworden sind, ist allerdings ein ganz wichtiges Thema, das sich durch das gesamte Neue Testament hindurchzieht. Unversöhnlichkeit ist kein Kavaliersdelikt und läßt sich auch niemals mit der angeblichen Größe der Schuld, die ein anderer uns gegenüber auf sich geladen hat, rechtfertigen. Gleich auf die Worte des Vaterunsers folgen bei St. Matthäus die Worte Jesu: „Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben.“ (St. Matthäus 6,15). Deutlicher läßt sich wohl kaum zum Ausdruck bringen, was für Konsequenzen Unversöhnlichkeit für uns in unserem Leben hat. Weil es für uns so wichtig ist, daß wir unseren Schuldigern vergeben, darum läßt es uns Jesus täglich neu im Vaterunser ausdrücklich aussprechen: „Ja, wir vergeben unseren Schuldigern!“ Mögen wir stets ganz bewußt bedenken, was wir da eigentlich aussprechen – und dann auch bewußt danach handeln.

Gerade an dieser Stelle merken wir hoffentlich, was es bedeutet, daß das Vaterunser das Gebet der Getauften ist: Nur aus der Kraft der Taufe können wir dieses Gebet sprechen – durch Jesus Christus, unsern Herrn.