Ich glaube, daß ich ein Sünder bin.

Ich glaube, daß ich ein Sünder bin.

 

1. Sünde ist nicht Unmoral.
Zu den verbreitetsten Klischees über den christlichen Glauben gehört dieses, daß die Kirche eine Anstalt zur allgemeinen moralischen Aufrüstung sei, in der die Kirchglieder sonntags regelmäßig als „Sünder“ beschimpft werden von älteren Herren, die sich selber für sündlos halten, in Wirklichkeit aber eine merkwürdige Doppelmoral pflegen. „Sünde“ wird in diesem Zusammenhang dabei stets als moralisches Fehlverhalten verstanden, das sich im wesentlichen auf das Gebiet der Sexualität konzentriert, oder aber auch allgemein als Abweichen von völlig verstaubten und überholten Moralvorschriften. In bewußter Absetzung davon wird „Sünde“ dagegen im heutigen Sprachgebrauch als kleine verzeihliche Schwäche verstanden, als harmlose Abweichung von einer Norm, die man nicht allzu ernst zu nehmen braucht: Die Dame, die sich beim Kaffeekränzchen zwei Stücke Sahnetorte zuviel einverleibt hat, erklärt anschließend, sie habe „gesündigt“. Oder man spricht von „Parksündern“, die ihren Wagen für eine Zeitlang im eingeschränkten Halteverbot abgestellt haben. Weiter tragisch ist das alles natürlich nicht, hat erst recht keine Auswirkungen auf unser künftiges Seelenheil, denn „wir sind alle kleine Sünderlein und kommen alle in den Himmel, weil wir so brav sind“, wie es ein Karnevalsschlager besingt.

All dies hat mit dem christlichen Verständnis von Sünde so gut wie gar nichts zu tun: „Sünde“ ist nach dem Verständnis der Heiligen Schrift etwas völlig anderes als Unmoral; „Sünder“ sind nicht unanständige oder schlechte Menschen oder müssen es zumindest nicht sein, und erst recht ist es Unfug, Sex und Sünde gleichzusetzen. Entsprechend ist es auch nicht das Ziel der Verkündigung der Kirche, Menschen zu moralisch anständigen Mitbürgern zu erziehen. Ebensowenig läßt sich die Sünde nach christlichem Verständnis jedoch mit einem Augenzwinkern abtun; sie ist viel mehr als bloß die Abweichung von irgendwelchen gesellschaftlichen Normen. Sie betrifft alle Menschen gleichermaßen – Pastoren und Gemeindeglieder, Christen und Nichtchristen.


2. Sünde ist Trennung von Gott
„Sünde“ bedeutet nach christlichem Verständnis so viel wie „Absonderung“, „Absonderung von Gott“. Entsprechend ist das Wort „Sünde“ ein Beziehungsbegriff, der die gestörte, ja zerbrochene Beziehung zwischen dem Menschen und Gott beschreibt, den „Sund“, das Meer, das zwischen Gott und dem Menschen liegt, weil sich der Mensch von Gott entfernt hat. Anders ausgedrückt: Sünde ist in ihrem tiefsten Wesen Unglaube, fehlendes Vertrauen auf Gott und Sein Wort. All das, was wir normalerweise als „Sünde“ zu bezeichnen pflegen, also Taten, Worte und Gedanken, die mit Gottes Geboten nicht übereinstimmen, sind von daher letztlich schon Folgen und Konsequenzen aus der eigentlichen Ursünde, der Abwendung von Gott.  Die Geschichte vom Sündenfall in 1. Mose 3 beschreibt sehr schön, wie sich diese Trennung von Gott im Leben der Menschen von Anfang an vollzogen hat und seitdem immer wieder vollzieht: „Sollte Gott gesagt haben?“ – so fragt die Schlange und verführt Eva damit zum Mißtrauen gegen Gottes guten Willen und zur Übertretung des göttlichen Gebots. Das ist also die „Ursünde“, daß wir Gott immer wieder nicht zutrauen, daß Er es in seinem Wort, in Seinen Geboten wirklich gut mit uns meint, sondern daß wir glauben, wir wüßten besser als Gott, was richtig und wirklich gut für uns ist. Martin Luther hat denselben Sachverhalt positiv in seiner Erklärung der Zehn Gebote im Kleinen Katechismus dargestellt: „Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir ...“ – so beginnt die Erklärung eines jeden Gebotes. Aus dem Glauben an Gott, daraus, daß wir Ihn an die erste Stelle in unserem Leben setzen, folgt, daß wir Seine Gebote halten. Wo dieser Glaube fehlt, wo wir anderes oder andere als wichtiger ansehen als Gott, folgt dann auch die Übertretung der Gebote.


3. Sünde muß geglaubt werden.
Was es wirklich heißt, daß wir von Gott getrennt, daß wir also Sünder sind, das können wir nur sehr begrenzt unserer eigenen Erfahrung entnehmen. Daß ich Sünder bin, bedeutet gerade nicht, daß ich mich schlecht fühle oder Probleme habe. Im Gegenteil kann ich mich blendend fühlen und ein hochanständiger Mensch und trotzdem von Gott getrennt sein. Sünde ist eben etwas ganz anderes als Moral; sie ist auch nicht bloß ein Defizit oder eine Mangelerfahrung. Der Theologe Hans-Joachim Iwand hat dies einmal schön formuliert: „Sünde ist gar keine Störung, sondern eine Befriedigung der menschlichen Natur.“ Wie tief ich von Gott getrennt bin, das kann ich nur dadurch erkennen, daß Gott selbst es mir in Seinem Wort sagt. Er zeigt mir, daß ich bereits getrennt von Gott geboren werde und von mir aus auch keine Möglichkeit habe, diese Trennung zu überbrücken. Er zeigt mir, daß es für uns Menschen auch völlig normal zu sein scheint, von Ihm, Gott, getrennt zu leben, weil wir von uns aus auch gar nichts anderes kennen. Ja, Gott zeigt mir in Seinem Wort, daß der Mensch von sich aus gerade nichts mit Gott zu tun haben will, daß er sich gegen Gott und sein Wort wehrt, bis Gott ihn erreicht und anfängt, ihn in seiner Personmitte, dem Herzen, zu verändern und ihn zu einem neuen Menschen zu machen. Diese abgrundtiefe Trennung von Gott, die zugleich Schicksal und Schuld ist, die der Mensch in seinem eigenen Leben immer wieder selbst vollzieht, nennt die Kirche mit einem Fachausdruck „Erbsünde“ oder „Ursprungssünde“. Sie bringt damit zum Ausdruck: Der Mensch sündigt, weil er ein Sünder ist. Er wird nicht erst dadurch zum Sünder, daß er konkrete Sünden begeht. Und diese Sünde, so zeigt es uns Gott in Seinem Wort, hat schließlich auch Konsequenzen: Wer in seinem Leben von Gott getrennt bleibt, der wird auch nach seinem Tod von Gott getrennt bleiben.

Wenn die Sünde in ihrer Tiefe auch nur im Glauben erkannt werden kann, so läßt sich doch umgekehrt auch festhalten, daß diese christliche Sicht des Menschen sehr viel realitätsnäher ist als all diejenigen Ideologien, die davon ausgehen, daß der Mensch in seinem Kern gut ist oder zumindest zu einem wahrhaft guten Menschen erzogen werden kann. An diesem Grundirrtum ist letztlich auch die kommunistische Ideologie gescheitert. Weil der Mensch von Gott getrennt ist, ist er eben „in sich selbst verkrümmt“, wie Martin Luther dies formuliert, bezieht er alles, was er haben kann, auf sich selber und läßt sich nicht umerziehen zu einem Menschen, dem beispielsweise Egoismus und Habgier fremd sind.


4. Sünde kann vergeben werden.
Die Antwort, die der christliche Glaube darauf gibt, daß der Mensch ein Sünder ist, besteht also nicht darin, daß der Mensch versuchen muß, sich zu bessern, oder daß er durch irgendwelche Erziehungsmaßnahmen ein besserer oder gar sündloser Mensch wird. Sondern die Antwort des christlichen Glaubens besteht darin, daß Sünde vergeben werden kann, ja ganz konkret vergeben wird, wo die Kirche tut, was Christus ihr befohlen hat: „Welchen ihr die Sünden erlaßt, denen sind sie erlassen.“ Gott selbst bringt die Beziehung zwischen sich und dem Menschen in Ordnung; Er bindet sich selber an das Wort der Vergebung, das uns in der Beichte zugesprochen wird, und verspricht, nie mehr das zur Sprache zu bringen, was dort vergeben worden ist. Weil Gott mir meine Sünden  ganz und gar vergibt, stehe ich in Seinen Augen richtig da, bin „gerecht“, wie es die Heilige Schrift nennt, habe mit Gott wieder Gemeinschaft. Das heißt nicht, daß ich deshalb ein sündloser Mensch wäre. In mir bleibt dieser „alte Mensch“, wie ihn der Apostel Paulus nennt, der weiterhin Gott und Seinem Wort widerstrebt und mit Ihm nichts zu tun haben will. Doch dieses Streben des „alten Menschen“ und das, was daraus erwächst, wird von Gott selber immer wieder durch die Vergebung „zugedeckt“, wie es das Alte Testament formuliert: Gott sieht es nicht mehr als meine Schuld an. Darum bin ich als Christ stets „gerecht und Sünder zugleich“, wie es die lutherische Theologie ausdrückt.

Das heißt: Ich brauche meine Sünde nicht zu leugnen und mich nicht selbst zu rechtfertigen vor Gott: Ich kann und darf zu meiner Sünde, zu meinem Versagen stehen, weil ich weiß: Gott hat es mir doch schon vergeben und vergibt es mir immer wieder. Und das heißt zum andern: Diese Vergebung schenkt mir die Kraft, immer wieder neu an Gott zu glauben und Ihm zu vertrauen. Und sie schenkt mir damit auch die Kraft, gegen diesen „alten Menschen“ in mir anzukämpfen, ihn nicht zum Zug kommen zu lassen und gerade gegen meine „Lieblingssünden“ immer wieder anzugehen. Nein, sündlos werde ich dadurch nie. Aber ich weiß: Ich kann in diesem Kampf vorankommen, und ich werde ihn am Ende auch gewinnen – weil Christus ihn für mich gewinnt durch Seine Vergebung.