9. Die „Christengemeinschaft“

Im 2. Jahrhundert sah sich die christliche Kirche mit einer geistigen Strömung konfrontiert, die sie gerade darum zeitweise existentiell bedrohte, weil sie dem Christentum von außen betrachtet in vielem sehr zu ähneln schien: Die Gnosis, so nennt man diese Strömung, verkündigte eine kosmischen Prozess, in dessen Verlauf aus höheren geistigen Welten Lichtsubstanz in die Tiefen der materiellen Welt gefallen sei. Jeder Mensch trage von daher einen solchen Lichtfunken in sich, ohne es zu wissen. Darum müsse er dadurch erlöst werden, dass er diesen Lichtfunken in sich selber erkenne (Gnosis heißt „Erkenntnis“) und so wieder in die geistigen Welten zurückkehren könne. In diesen kosmischen Prozess, in dem die Rückkehr des göttlichen Lichtfunkens in die geistige Welt eine zentrale Rolle spielt, zeichneten viele Gnostiker nun Elemente des christlichen Glaubens ein: Sie sprachen ebenfalls von Christus, verfassten „Evangelien“, in denen Christus gnostische Lehren in den Mund gelegt wurden, und feierten auch Gottesdienste, die in vielem christlichen Gottesdiensten zu ähneln schienen, aber letztlich doch durch das gnostische Lehrgut eine völlig andere Ausrichtung hatten. Viele Christen waren verwirrt, weil ihnen oftmals Maßstäbe fehlten, um zwischen Kirche und Gnosis unterscheiden zu können. Die Kirche bestand die Auseinandersetzung mit der Gnosis, indem sie den Christen das Glaubensbekenntnis an die Hand gab, deutlich den Unterschied zwischen den apostolischen Schriften des Neuen Testaments und der gnostischen Nachahmerliteratur unterschied und durch ihre Bischöfe den Gläubigen half, zwischen rechter und falscher Lehre zu unterscheiden.

Die „Christengemeinschaft“ lässt sich in vielem als eine neugnostische religiöse Gemeinschaft verstehen: Sie versteht sich selber als „christlich“, feiert Gottesdienste, deren Ritual in nicht wenigem an eine Lutherische Messe erinnert, und hat dabei doch einen völlig anderen weltanschaulichen Hintergrund, der sich nicht nur, aber ganz wesentlich aus gnostischem Denken speist.

Die „Christengemeinschaft“ wurde am 16. September 1922 in Dornach bei Basel gegründet. Im Jahr zuvor hatte sich eine Gruppe von Theologiestudenten an den Begründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner, gewandt auf der Suche nach einer neuen Form religiösen Lebens. Rudolf Steiner hielt daraufhin mehrere Vortragskurse, in denen er seine Vorstellungen von einer religiösen Erneuerung des christlichen Lebens entwarf: Zentrale Anliegen waren dabei die Verwendung einer neuen religiösen Sprache ohne die überkommene kirchliche Begrifflichkeit, die Gründung freier Gemeinden außerhalb der traditionellen Kirchen und der Gedanke der Gemeinschaftsbildung durch Kultushandeln. Besonders das Letztgenannte ist ein zentrales Kennzeichen der „Christengemeinschaft“ bis heute: Sie behauptet, in ihr herrsche „Lehrfreiheit“; sie hat aber zugleich einen ganz festen, von Rudolf Steiner formulierten Ritus in ihrem Gottesdienst, der bei ihr „Menschenweihehandlung“ genannt wird. Dieser unantastbare Kultus hält die „Christengemeinschaft“ zusammen. Nach Abschluss der Vortragskurse wurde an jenem 16. September 1922 die erste „Menschenweihehandlung“ durch den früheren Berliner evangelischen Pfarrer Friedrich Rittelmeyer vollzogen, die zugleich für 45 Personen mit der Priesterweihe verbunden war. In einer Publikation der „Christengemeinschaft“ heißt es zu dieser ersten Menschenweihehandlung: „All dies wurde möglich durch die Anwesenheit und Mitwirkung R. Steiners.“ Zwar „hat er die Weihe an Rittelmeyer nicht selbst vollzogen; er hat sie aber ermöglicht durch seine Gegenwart, die zur unmittelbaren Einwirkung der göttlichen Welt führen konnte.“

Da die „Christengemeinschaft“ sich offiziell als „freie Kirche ohne Dogmen“ versteht, ist es schwierig, sie auf irgendwelche Lehrinhalte festzulegen. Hinzu kommt, dass sie, wie von Rudolf Steiner angeregt, in ihrem Ritus und ihren Veröffentlichungen eine ganz eigene religiöse Sprache verwendet, die Anklänge an christlichen Sprachgebrauch zeigt, aber davon eben doch auch immer wieder deutlich abweicht. Außerdem veröffentlicht die „Christengemeinschaft“ die Texte ihrer Kultushandlungen nicht, da sie nicht gelesen und analysiert, sondern „erlebt“ werden sollen. Dabei muss allerdings betont werden, dass ihre Menschenweihehandlungen öffentlich zugänglich sind und keine Geheimrituale darstellen. Auch wenn vonseiten der „Christengemeinschaft“ Wert darauf gelegt wird, Steiners Anthroposophie und die Christengemeinschaft zu unterscheiden, ist es doch angemessen, die von Steiner formulierten kultischen Texte auf dem Hintergrund seines Denkens zu verstehen und auszulegen.

Im Hintergrund dieser Texte steht der von Steiner aus dem Hinduismus aufgenommene Gedanke, dass in einem früheren Weltenzustand Geist und Materie noch nicht getrennt waren. Diese Einheit von Geist und Materie wird auch von dem „geistig-physischen Gotteswesen“ ausgesagt, das im Glaubensbekenntnis der „Christengemeinschaft“ an die Stelle des Bekenntnisses zu Gott dem Vater, dem Schöpfer, tritt. Statt vom Schöpfer spricht die „Christengemeinschaft“ nur vom „Daseinsgrund der Himmel (sic!) und der Erde“; eine Schöpfung am Anfang wird darin nicht ausgesagt. Die Aussagen über den Menschen sind stark von gnostischem Gedankengut geprägt: Der Mensch ist ursprünglich ein rein geistiges, also göttliches Wesen; erst der ihm erteilte Schöpferfunke macht ihn zum Menschen. Da er in den Entwicklungsprozess des Kosmos und in ein ersterbendes Erdendasein eingebettet ist, musste er den Sündenfall erleben, der als ein tatsächliches Fallen, nämlich als ein Herabsinken in Stoffes-Finsternis verstanden wird. Aus diesem Zustand wird der Mensch durch Christus erlöst: Christus ist nach Steiner der „hohe Sonnengott“, der auch schon in den vorchristlichen Religionen es Menschen ermöglicht hat, das Wiedererwachen des Göttlich-Geistigen im menschlichen Ich zu erleben. Dieser „hohe Sonnengott“ verband sich bei der Taufe im Jordan mit dem Menschen Jesus von Nazareth und drang in den folgenden drei Jahren bis zu seiner Kreuzigung immer tiefer in ihn ein. Sein Tod am Kreuz ist das entscheidende Heilsereignis: Dadurch kann der verschüttete göttliche Geistfunke im Ich des Menschen wieder lebendig werden und von innen heraus den höheren, wiedergeborenen, geistigen Menschen entstehen lassen. Außerdem veränderte sich die Aura der Erde dadurch, dass das Blut Christi auf sie floss. Dadurch wurde Christus zum „Ich der neu werdenden Erde“, die nun ebenso wie der Mensch den Weg der Vergeistigung gehen kann. Denn das Ziel des gesamten kosmischen Prozesses ist es, dass Geist und Materie wieder eine Einheit werden. Auf dem Weg dorthin werden sich Erde und Menschheit immer weiterentwickeln; ihnen wird sich Christus stufenweise als ätherischer Christus, als astraler Christus und als kosmischer Christus zu erkennen geben.

Wenn diese Gedankengänge und die in ihnen verwendete Sprache Außenstehenden auch nicht ganz leicht zugänglich ist, wird doch deutlich erkennbar, wie die Christusverkündigung des Neuen Testaments hier eingepasst wird in die gnostische Vorstellung eines kosmischen Prozesses, in dem es um die Erlösung des Geistigen aus der Finsternis des Stofflichen und schließlich um die endgültige Vereinigung von Geist und Materie geht. Sünde und Sündenvergebung spielen in diesen Gedankengängen ebenso wenig eine Rolle wie die Verkündigung eines kommenden Gerichts. Christliche Begrifflichkeiten werden zwar verwendet, aber gegenüber dem biblischen Zeugnis vollkommen umgedeutet. Dies gilt in besonderer Weise auch für die Sakramente, die in der „Christengemeinschaft“ eine ganz wichtige Rolle spielen.

Der Sinn der Taufe wird auf dem Hintergrund einer Reinkarnationslehre entfaltet: Die Menschenseele, die aus geistig-göttlichen Bereichen kommt und nun im Irdischen der Sünde verfällt, wird in der Taufe „in den Gnadenstrom Christi“ eingetaucht; dadurch wird ihr auf dem Weg in das irdische Leben geholfen. Ein solches Verständnis der Taufe als Inkarnationshilfe hat natürlich mit dem biblisch-christlichen Verständnis der Taufe nicht das Geringste zu tun. Die Taufen, die in der „Christengemeinschaft“ vollzogen werden, werden von den christlichen Kirchen entsprechend nicht als gültige Taufen anerkannt. Dies ist schon allein von daher nicht möglich, weil bei den Taufen in der „Christengemeinschaft“ nicht die trinitarische Taufformel nach Matthäus 28,19 verwendet wird. Stattdessen zeichnet der Priester auf die Stirn des Täuflings mit Wasser ein Dreieck, dazu auf das Kinn ein Viereck mit Salz und mit Asche ein Kreuz auf die Brust: „Das klare Wasser wird zum Zeichen der Herkunft aus der Vergangenheit. Das nüchterne Salz erweckt uns zur Gegenwart. Die Aschenspur deutet befreiend auf die Zukunft.“ Was in der „Christengemeinschaft“ über Gott ausgesagt wird, lässt sich ohnehin auch nur schwer mit dem allgemeinchristlichen Bekenntnis zum dreieinigen Gott vereinbaren, auch wenn in der „Christengemeinschaft“ durchaus immer wieder dreiteilige Formeln („In des Vaters Weltsubstanz, in des Christus Wortesstrom, in des Geistes Lichtesglanz“) verwendet werden.

Die „Menschenweihehandlungen“ der „Christengemeinschaft“ sind voll von feierlicher ritueller Symbolik: Bunte liturgische Gewänder werden ebenso verwendet wie Weihrauch; man orientiert sich im Ablauf an der Messe und am Kirchenjahr. All dies spricht gerade Menschen an, die ihr Bedürfnis nach liturgischer Ästhetik und Mystik in den nüchternen protestantischen Gottesdiensten nicht befriedigt sehen. Die Mitglieder der „Christengemeinschaft“ verstehen sich selber ganz selbstverständlich als Christen und sind oftmals sehr betroffen darüber, wenn ihr Anspruch, gleichsam eine „erneuerte, nichtkonfessionell gebundene christliche Kirche“ zu sein, von den christlichen Kirchen nicht anerkannt wird. Die übliche Klassifizierung als „Sekte“ trifft auf die „Christengemeinschaft“, die in Deutschland etwa 20.000 Mitglieder hat und eher zu wachsen als zu schrumpfen scheint, nur begrenzt zu: Sie versteht sich nicht als alleinseligmachende Gruppierung, da bei ihr die Frage von Rettung und Verlorensein durch die Vorstellung eines kosmischen Prozesses ersetzt wird. Auch besitzt sie nicht die üblichen autoritären Strukturen vieler Sekten. An ihrer Spitze steht ein „Erzoberlenker“, seit 2005 der Priester der Wilmersdorfer Gemeinde der „Christengemeinschaft“, Vicke von Behr-Negendanck, der in einem „Siebenerkreis“ die Gemeinschaft leitet, der aber wesentlich administrative Aufgaben hat. Eher könnte man schon die Bedeutung hinterfragen, die in der „Christengemeinschaft“ Rudolf Steiner beigemessen wird, dessen kultische Texte als unveränderbar angesehen werden und denen so etwas wie „Offenbarungscharakter“ zugemessen wird. Grundsätzlich lässt sich die „Christengemeinschaft“ aber eher als eigenständige synkretistische religiöse Gemeinschaft verstehen, also als eine Gemeinschaft, in der Elemente aus verschiedenen Religionen miteinander vermischt werden. Die nichtchristlichen Elemente aus dem Bereich der Gnosis und der fernöstlichen Religionen (Reinkarnation, göttlicher Lichtfunke, Erlösung als kosmischer Prozess) bestimmen dabei auch das Verständnis der verbliebenen christlichen Elemente, sodass man dem Selbstverständnis der „Christengemeinschaft“, christliche Kirche zu sein, als Christ nicht zustimmen kann.