21.09.2014 | St. Matthäus 9,9-13 | Tag des Apostels und Evangelisten St. Matthäus
Pfr. Dr. Gottfried Martens

Vor zwei Monaten, Ende Juli, haben Muslime überall auf der Welt die „Qadr-Nacht“ begangen, die Nacht, in der dem Koran zufolge Allah den Koran vom Himmel auf die Erde herabgesandt hat. Laut der 97. Sure des Koran kommen in dieser Nacht jedes Jahr die Engel vom Himmel auf die Erde herab, und wer diese Nacht aus reinem Glauben und den Lohn von Allah erwartend mit Gottesdiensten verbringt, darf darauf hoffen, dass Allah ihm dann auch seine Sünden vergibt – einmal im Jahr.

Wir Christen feiern heute den Tag des Apostels und Evangelisten St. Matthäus. Und an diesem Tag wird zugleich besonders deutlich, was für ein Unterschied zwischen dem christlichen Glauben und dem Islam besteht: Wenn Muslime die Qadr-Nacht feiern, dann ist klar: Allah selber bleibt natürlich ganz oben, bleibt ganz weit weg. Er kommuniziert mit den Menschen nur so, dass er ihnen ein schriftliches Dokument zukommen lässt oder dass er ihnen einmal im Jahr Engel sendet, die man allerdings nun auch nicht sehen kann.

Der Evangelist St. Matthäus machte damals mit Gott eine ganz andere Erfahrung: Ja, Gott war auch für ihn sehr weit weg – aber das lag nicht an Gott, das lag an ihm, Matthäus, lag daran, dass er sich von Gott getrennt hatte, sich nicht an seine Gebote hielt, Menschen an seiner Zollstation am Eingang zur Stadt betrog und erpresste und sich damit aus der Gemeinschaft des Volkes Gottes ausgeschlossen hatte. Doch nun erlebt er eines Tages an seiner Zollstation etwas Unfassliches, etwas, was sein Leben von einem Augenblick auf den anderen verändert. Nein, da kommt nicht jemand zu ihm, drückt ihm ein Buch in die Hand und sagt „Lies!“ Da kommt auch nicht bloß ein Engel zu ihm. Sondern da steht der Gott, von dem er sich getrennt hatte, direkt vor ihm, blickt ihn an mit einem menschlichen Angesicht und sagt zu ihm: Folge mir! Und diese beiden Worte haben solch eine Kraft, dass Matthäus augenblicklich aufsteht, alles stehen und liegen lässt und hinter dem hergeht, ja, von nun ab in der Gemeinschaft mit dem lebt, der diese Worte zu ihm gesagt hat, Worte, die sein Herz, sein ganzes Leben verändert, neu gemacht haben.

Gott schickt nicht bloß ein Buch zu den Menschen, auch nicht bloß einen Engel; er kommt selber zu uns Menschen, kommt hinein in unsere Not, bleibt nicht auf Abstand zu uns Sündern, sondern ruft uns im Gegenteil in seine Gemeinschaft. So hat es der Matthäus damals erfahren. Ja, er hat erfahren: Dieses Wort, mit dem mich der Mensch gewordene Gott anspricht, das ist nicht bloß eine interessante Information, die ich anzuerkennen habe, das ist auch nicht bloß ein Gesetz oder eine Sammlung von Gesetzen, die ich einzuhalten habe. Sondern dieses Wort ist eine Einladung in die Lebensgemeinschaft mit Gott, ganz konkret eine Einladung in die Lebensgemeinschaft mit Jesus Christus, in der alles verschwindet, was uns noch von Gott trennen könnte.

Und wie diese Lebensgemeinschaft aussieht, das erfährt Matthäus bald darauf: Da sitzt Jesus mit seinen Kollegen vom Zoll, sitzt mit lauter anderen Leuten, mit denen ein anständiger, frommer Mensch damals nichts zu tun haben wollte, gemeinsam zu Tisch, isst und feiert mit ihnen. Nein, Jesus stellt sich nicht hin und verkündigt im Auftrag Gottes: Haltet euch fern von den Sündern, sucht nur die Gemeinschaft mit denen, die Gottes Gesetze halten! Sondern er geht zu denen hin, die Schuld auf sich geladen haben, die keine Möglichkeit haben, von sich aus in die Gemeinschaft mit Gott zurückzukehren. Mit denen isst er, mit denen feiert er sein Mahl. Und als sich die Frommen darüber beschweren, begründet Jesus sein Vorgehen auch ausdrücklich noch einmal: „Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.“ Jesus – kein Prophet, kein Gesetzeslehrer, keiner, der Gottes Gericht auf die herabruft, die Gottes Vorschriften nicht einhalten. Sondern Jesus, er ist das Wort Gottes in Person, die Liebe Gottes in Person, das Erbarmen Gottes in Person, die Brücke, die Gott und Mensch wieder miteinander verbindet.

Das hat der Matthäus damals erfahren – und noch viel mehr hat er in der Folgezeit von Jesus erfahren. Er war schließlich dann auch dabei, als Jesus mit seinen Jüngern noch einmal ein ganz anderes Mahl hielt, nicht bloß ein fröhliches Gemeinschaftsmahl, sondern ein Mahl, bei dem er den Jüngern seinen Leib und sein Blut austeilte, gegeben und vergossen zur Vergebung der Sünden. Er war dabei, als Jesus verhaftet wurde, er bekam es mit, wie Jesus gekreuzigt wurde – und er war schließlich auch dabei, als Jesus sich als der Auferstandene seinen Jüngern zeigte, ja, als er sie schließlich losschickte: Geht hin in alle Welt und macht zu Jüngern alle Völker: Tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehrt sie halten alles, was ich euch befohlen habe.

Das hat der Matthäus dann auch getan. Nein, er hat sich nicht an einen Schreibtisch gesetzt und ein Buch geschrieben, sondern er ist losgezogen wie die anderen Apostel auch, hat Menschen von dem erzählt, was er selber gehört und gesehen hatte, hat Menschen in die Gemeinschaft mit Christus eingeladen, so wie Christus selber ihn in seine Gemeinschaft gerufen hatte. Aber irgendwann hat er dann gemerkt: Es ist doch gut, wenn ich das alles auch noch mal aufschreibe, was ich gehört und gesehen habe, damit auch Menschen davon hören können, die ich nicht direkt erreichen kann. Ja, das ist gut und wichtig, damit nicht irgendwann nach meinem Tod Leute ankommen und etwas ganz Anderes von Jesus erzählen, dass er gar nicht Gottes Sohn ist, dass er gar nicht gekreuzigt worden ist. Und so hat er sich hingesetzt und sein Evangelium geschrieben – was damals längst nicht so einfach war wie heute, weil Computer, ja selbst Papier damals noch nicht so zur Verfügung standen. Aber schließlich ist er doch damit fertig geworden – mit seinem Evangelium, das mit gutem Grund eine der bedeutendsten Schriften der Weltliteratur geworden ist.

Nein, das Matthäusevangelium ist nicht vom Himmel gefallen; es trägt unverkennbar die ganz persönlichen Züge seines Verfassers. Und doch ist es eben nicht nur ein persönliches Zeugnis eines Menschen, der Jesus begegnet ist. Nein, so hat es Jesus seinen Jüngern verheißen: „Wer euch hört, der hört mich.“ Die Worte, die Matthäus geschrieben hat, sind die Worte Jesu, sind Gottes Wort, lebendiges Wort Gottes, das bis heute die Kraft hat, das Leben von Menschen zu verändern, wie das Leben des Matthäus damals auch.

Und so hören wir bis heute die Worte des Matthäus im Gottesdienst, erheben uns, wenn das Heilige Evangelium verlesen wird, und begrüßen den, der in diesem Evangelium immer wieder zu uns spricht: „Ehre sei dir, Herre“, „Lob sei dir, o Christe!“ Wir lassen uns trösten von diesen Worten, dass Gott uns nicht deshalb unsere Sünden vergibt, weil wir uns so sehr bemühen, weil wir versuchen, sie mit unseren guten Werken auszugleichen, weil wir letztlich doch gerechte Menschen sind. Voller Freude dürfen wir die gute Nachricht hören, dass Jesus zu den Sündern gekommen ist, zu denen, die mit ihrem Leben gerade nicht vor Gott bestehen könnten – wenn nicht Jesus gekommen wäre, um sie in seine Gemeinschaft zu rufen, wenn nicht Jesus gekommen wäre, um am Kreuz die Sünde der ganzen Welt, ja auch unsere Sünde, auf sich zu nehmen und wegzutragen.

Und so lassen wir uns von Matthäus heute wieder einladen, zum Tisch des Herrn zu kommen, wo Jesus uns schon erwartet, um uns Sündern alle Schuld zu vergeben, nein, nicht nur einmal im Jahr, sondern in jedem Gottesdienst, an jedem Sonntag und darüber hinaus, wann immer wir das Mahl des Herrn feiern. Ja, sie werden uns vergeben, unsere Sünden, nicht bloß vielleicht, nicht bloß hoffentlich, sondern ganz gewiss, so gewiss wir ihn, Christus, selber mit unserem Mund empfangen und berühren, ihn, der uns Menschen zugute selber Mensch geworden ist.

Nein, ein Evangelium brauchen wir deshalb nicht mehr zu schreiben, aber losziehen und andere Menschen einladen zu Christus, zur Taufe, das können wir auch, können und sollen von all dem erzählen, was Christus gesagt hat und was wir von ihm gelernt haben: Dass er, Jesus, gekommen ist, die Sünder selig zu machen. Was für eine wunderbare Botschaft! Wie gut, dass wir uns nicht mit einer Qadr-Nacht zufrieden geben müssen, wie gut, dass wir ihn heute feiern dürfen: den Tag des Apostels und Evangelisten St. Matthäus! Amen.