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9. Der Eingangsteil des Gottesdienstes (Teil 2)

9. Der Eingangsteil des Gottesdienstes (Teil 2)
Auf den Introitus folgt in der Liturgie des Hauptgottesdienstes das „Kyrie eleison“. Es gehört zu den festen, unveränderlichen Stücken des Gottesdienstes, also zum „Ordinarium“, auch wenn es musikalisch in unterschiedlicher Weise gestaltet werden kann.„Kyrie eleison“ ist ein griechischer Ruf und heißt auf Deutsch: „Herr, erbarme dich!“ Zurzeit der ersten Christen war Griechisch die Weltsprache des römischen Reiches. Der Ruf „Kyrie eleison“ stammt eigentlich aus dem heidnischen Sonnenkult und wurde in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten vor allem als Huldigungsruf an den römischen Kaiser gebraucht. Wenn der Kaiser auf dem Forum, in einem Tempel, Zirkus oder Theater erschien, begrüßten ihn die Menschen eben mit diesen Worten: „Kyrie eleison“. Ihr „Kyrie eleison“ mussten die Menschen dann auch dem römischen Kaiser zurufen, als er seit dem Ende des 1. Jahrhunderts nach Christi Geburt sich immer eindeutiger selbst als Gott verehren ließ und in dem Kaiserkult die Einheitsreligion zu schaffen versuchte, die das auseinanderbrechende römische Reich zusammenhalten sollte. Die Christen verweigerten dem Kaiser diese Huldigung als „Herr und Gott“. Ihr Herr und Gott war allein Christus: „Christe eleison!“ Der Ruf „Kyrie eleison“ ist also ein Huldigungsruf der Gemeinde an den, dem allein alle Macht gegeben ist im Himmel und auf Erden (St. Matthäus 28,18) und in dessen Namen sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind (Philipper 2,10). Wie die Menschen im römischen Reich ihn damals beim Einzug des Kaisers anstimmten, so stimmt ihn nun die christliche Gemeinde an beim Einzug des Herrn aller Herren in ihre Mitte. Das Kyrie eleison ist zugleich ein eminent politisches Bekenntnis, eine Absage an alle Herrscher und Mächte, die sich selber an Gottes Stelle setzen und selber unbedingten Gehorsam für sich beanspruchen: Mit ihrem Kyrie eleison bezeugt die christliche Gemeinde, dass sie vor keinem anderen die Knie beugt als vor Christus allein. „Kyrie eleison“ rief die kanaanäische Frau damals in ihrer Not zu Jesus (St. Matthäus 15,22). So dürfen auch wir unsere gesamte Not, unser persönliches Leid, unsere seelischen und leiblichen Bedrängnisse und das Elend der ganzen Welt mit diesem Ruf Christus vor die Füße legen als dem, der allein helfen und retten kann. Bereits ganz früh wurde das „Kyrie eleison“ in der Liturgie der Kirche auch als Antwort der Gemeinde auf einzelne vorgetragene Fürbitten gebraucht. So geschieht es auch in unserem Gottesdienst, wenn wir beim Allgemeinen Kirchengebet auf die Fürbitten jeweils mit „Herr, erbarme dich“ antworten. In unserer Evangelisch-Lutherischen Kirchenagende ist darüber hinaus als eine Möglichkeit vorgesehen, auch die Kyrierufe am Beginn des Gottesdienstes je nach Kirchenjahreszeit reicher zu entfalten. Während die Gemeinde jeweils die ihr bekannte Antwort singt, können Kantor und Chor die Anrede jeweils ausführlicher gestalten. So können sie zum Beispiel in der Adventszeit singen: „Herr Jesus, du König aller Menschen. Kyrie eleison“ (Gemeinde: Herr, erbarme dich.) „Du wirst wiederkommen in Herrlichkeit. Christe, eleison“ (Gemeinde: Christe, erbarme dich.) „Du schaffst einen neuen Himmel und eine neue Erde. Kyrie eleison“ (Gemeinde: Herr, erbarm dich über uns.).
Während in früheren Zeiten die Zahl der Kyrie-Rufe sehr viel größer war, beschränkte die lutherische Reformation in ihren Gottesdienstordnungen deren Zahl in der Eingangsliturgie auf drei. Dies geschah natürlich nicht willkürlich; vielmehr ist die Zahl drei die zeichenkräftige Zahl der Heiligen Dreifaltigkeit; das Kyrie wird damit zugleich auch als Huldigung des dreieinigen Gottes verstanden. Auf das Kyrie folgt in der Liturgie das „Gloria in excelsis“, das „Ehre sei Gott in der Höhe“, das seine Fortführung im „Laudamus“, dem „Wir loben dich, wir benedeien dich …“ findet. Das Gloria wird auch als „Hymnus angelicus“, als „Hymnus der Engel“ bezeichnet. Es ist der Lobgesang, mit dem die himmlischen Heerscharen das Wunder der Menschwerdung Gottes über den Feldern Bethlehems gepriesen und angebetet haben (St. Lukas 2,14). Wenn wir diesen Lobgesang nun im Gottesdienst anstimmen, wagen wir es, in den Gesang der Engel und aller Heiligen und Vollendeten vor dem Thron Gottes einzustimmen: Himmlischer und irdischer Gottesdienst werden nun eins: „Von zwölf Perlen sind die Tore an deiner Stadt; wir stehn im Chore der Engel hoch um deinen Thron.“ (ELKG 121,3) Hier geht es nicht um „Lernen“ oder „Verstehen“, sondern um die ewige Anbetung des Herrn aller Herren. Nach altem liturgischem Brauch wird das Gloria vom Liturgen angestimmt; er trifft damit die Entscheidung, ob in dem jeweiligen Gottesdienst das Gloria gesungen wird oder nicht. Das Gloria wird nämlich nur zu besonderen Anlässen gesungen: an den Sonntagen außerhalb der Advents- und Fastenzeit und zu besonderen kirchlichen Festen. Dagegen fällt das Gloria am 2. bis 4. Sonntag im Advent, in der Fastenzeit (außer am Gründonnerstag) und in den Gottesdiensten während der Woche, die kein besonderes Fest begehen, fort. Umso mehr soll es dann an den Tagen, an denen es gesungen wird, als besonderer Festgesang wahrgenommen werden. So läuten beim Gesang des Gloria in der Christnacht und in der Osternacht jeweils die Glocken, nachdem das Gloria in den Wochen zuvor in der Liturgie der Kirche verstummt war.
Auf das „Gloria in excelsis“ folgt das „Laudamus“, ein gewaltiger Lobgesang der irdischen Gemeinde an ihren dreieinigen Herrn: „Wir loben dich, wir benedeien dich, wir beten dich an, wir preisen dich, wir sagen dir Dank um deiner großen Ehre willen, Herr Gott, himmlischer König, Gott, allmächtiger Vater, Herr, eingeborner Sohn, Jesu Christe, du Allerhöchster, und dir, du Heiliger Geist. Herr Gott, Lamm Gottes, ein Sohn des Vaters, der du hinnimmst die Sünd der Welt: erbarm dich unser, der du hinnimmst die Sünd der Welt: nimm auf unser Gebet, der du sitzest zu der Rechten des Vaters: erbarm dich unser. Denn du allein bist heilig, du bist allein der Herr, du bist allein der Höchst, Jesu Christe, mit dem Heilgen Geist in der Herrlichkeit deines Vaters. Amen.“ Dieser Lobgesang stammt bereits aus dem 4. Jahrhundert. Feierlich wird auch hier die Alleinherrschaft Jesu Christi proklamiert und allen Götzen dieser Erde eine Absage erteilt: Wir loben dich, wir benedeien dich, wir beten dich an, … Jesu Christe, du Allerhöchster, … du allein bist heilig, du bist allein der Herr, du bist allein der Höchst, Jesu Christe. Wie nahe Kyrie und Gloria inhaltlich miteinander verbunden sind, zeigt sich auch daran, dass mitten in dem Lobgesang des Laudamus wieder das „eleison“ aufbricht: „erbarm dich unser!“ Bittruf und Lobpreis gehören in der Huldigung des Herrn immer wieder ganz eng zusammen. Ähnlich wie die Psalmen wird auch das Laudamus im Wechsel zwischen zwei Gruppen, in diesem Fall im Wechsel zwischen dem Chor der Schola (in Notfällen auch dem Liturgen) und der Gemeinde gesungen, wobei sich ihr Gesang immer wieder zu gemeinsamem Lobgesang vereint. Auch darin erhalten wir einen kleinen Vorgeschmack des Gottesdienstes vor dem Thron Gottes, bei dem schon der Prophet Jesaja hörte, wie unter den Seraphim „einer zum anderen rief“ (Jesaja 6,3) und so die Anbetung Gottes im Wechselgesang laut werden ließ. Das Gloria lässt sich auch als Lied singen, beispielsweise mit den Worten des Liedes „Allein Gott in der Höh sei Ehr“ (ELKG 131). Nicht sinnvoll ist es dabei jedoch, wenn die Gemeinde auf die Intonation des Liturgen nur mit dem Gesang der ersten Strophe des Liedes antwortet, denn diese erste Strophe wiederholt nur noch einmal den Text des „Gloria“ selber, während erst die Strophen 2 bis 4 dann auch den Text des folgenden Laudamus entfalten.
Nun erst tritt der Liturg am Schluss des Eingangsteils des Gottesdienstes an den Altar. Der gesamte bisherige Eingangsteil wurde allein von der Gemeinde insgesamt gestaltet und getragen; der Liturg stellte sich dabei einfach in das Beten der Gemeinde und des Chores hinein; seine einzige Funktion bestand im Anstimmen des Gloria. Nun tritt er nach dem Gloria erstmals der Gemeinde gegenüber und grüßt sie mit dem Segensgruß, der sogenannten Salutatio: „Der Herr sei mit euch“. Diesen Segensgruß finden wir bereits im Alten Testament (besonders schön erkennbar in Ruth 2,4). Dabei haben wir stets zu bedenken, dass dieser Segensgruß nicht bloß eine nette „Begrüßung“ oder ein frommer Wunsch, sondern ein realer Segen ist, mit dem die Gegenwart Christi der Gemeinde wirksam zugesprochen wird. Zum Verständnis dieses Segensgrußes dienen vor allem die Worte Jesu in St. Matthäus 10,12+13. Friedrich Kalb schreibt darum in seinem „Grundriss der Liturgik“ mit Recht: „Es geht hierbei nicht bloß um einen Gruß zwischen Menschen, sondern um einen Zuspruch, der in seinem Segenswort die Gabe wirklich übermittelt, von der er spricht, der also die Gegenwart des auferstandenen Herrn, seinen Frieden, sein Heil wirklich bringt. Diese Gabe kann im Glauben angenommen oder im Unglauben zurückgewiesen werden. Die Realität dieser Gabe wird durch die Abweisung nicht in Frage gestellt. Deshalb spricht man von der sakramentalen Bedeutung des Grußes und des Segens, durch die beide nicht als nebensächliche Randstücke, sondern als inhaltsreiche Vollmachtsworte des Gottesdienstes verstanden werden müssen.“ (2. Auflage, S.123f)

Die Gemeinde antwortet auf diesen ihr zugesprochenen Segen mit den Worten „und mit deinem Geist“. Auch dieser Gegengruß hat seine Wurzeln schon im Neuen Testament (z.B. 2. Timotheus 4,22). Damit spricht nun auch umgekehrt die Gemeinde dem Liturgen den Segen und Beistand des gegenwärtigen Christus für seinen Dienst zu: Dieses Zuspruchs bedarf der Liturg, bevor er nun im Weiteren seinen Dienst an der Gemeinde vollzieht. Der Bezug auf den „Geist“ erinnert ihn dabei zugleich auch an die Gabe des Geistes, die er in seiner Heiligen Ordination empfangen hat und in deren Kraft er nun seinen Dienst an der Gemeinde vollzieht. Früher hatte sich in manchen Gemeinden die Unsitte eingebürgert, auf den Segensgruß mit den Worten „und mit seinem Geist“ zu antworten. Diese Antwort ist gleichermaßen gedankenlos und unpassend, weil sich die Gemeinde den Segen, den sie empfangen hat, nicht noch einmal selber bestätigen soll, sondern ihn nun umgekehrt auch dem zusprechen soll, der diesen Zuspruch für seinen Dienst in besonderer Weise bedarf.

Bezeichnend ist, dass der Gruß des Liturgen an die Gemeinde nicht mit dem Wort „Ich“, sondern mit den Worten „Der Herr“ beginnt. Um IHN geht es in diesem Gottesdienst. Und weil wir in Seinem Namen als Brüder und Schwestern versammelt sind, hat an dieser Stelle auch nicht das „Sie“ seinen Platz, sondern das „Du“ bzw. „Euch“. Zudem tritt der Liturg hier nicht als Privatperson auf, sondern als Bote seines Herrn, der uns alle miteinander, gottlob, nicht „siezt“, sondern „duzt“.