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1. Das Wesen des Gottesdienstes

1. Das Wesen des Gottesdienstes
Menschen aller Zeiten und Kulturen haben immer wieder das tiefe Bedürfnis gespürt, sich höheren Mächten zuzuwenden, Gottheiten zu verehren und sie gnädig zu stimmen, um so das eigene Lebensgeschick positiv beeinflussen zu können. Sie brachten und bringen diesen Gottheiten Opfer dar – den eigenen Besitz, das Leben von Tieren, mitunter auch die eigene Gesundheit oder gar das eigene Leben –, um so das Verhältnis zwischen sich und den Göttern zu regulieren und in Ordnung zu bringen. Oder sie glauben, mit Hilfe von bestimmten Techniken – beispielsweise durch Meditation oder Ekstase – sich der Gottheit nähern zu können.

 

Auch in nichtreligiöser Form besteht dieses Streben des Menschen weiter: Er glaubt, mit seinem Handeln, mit seinen Leistungen sein Lebensgeschick gestalten zu können, versteht sich selber als „homo faber“, als „seines Glückes Schmied“. Entsprechend zielt sein Handeln immer wieder darauf, daß seine Bedürfnisse und Wünsche befriedigt werden.

 

In eben dieser Weise wird auch der christliche Gottesdienst immer wieder mißverstanden: als ein Dienst, eine Pflichtübung, die wir zumindest zu bestimmten Anlässen zu verrichten haben, um unser Verhältnis zum lieben Gott nicht zu gefährden, als eine fromme Leistung, die der liebe Gott am Ende uns positiv anrechnen sollte, als ein Ausgleich für das oftmals wenig christliche Verhalten, das wir die Woche über oftmals an den Tag legen. Und weil es unser Dienst für Gott ist, glauben wir dann mitunter auch, ihn so gestalten zu können, wie er uns zusagt, ist der Weg dann auch nicht weit bis dahin, daß es uns im Gottesdienst nicht mehr so sehr um die Besänftigung Gottes als vielmehr um die Befriedigung unserer eigenen Sehnsüchte und Wünsche im Gottesdienst geht.

 

Doch in Wirklichkeit ist der Gottesdienst nicht zuerst und vor allem unser Dienst an Gott, sondern vielmehr Gottes Dienst an uns und für uns. Gott dient uns Menschen im Gottesdienst: Nicht wir müssen versuchen, uns zu Gott aufzuschwingen, Ihn durch irgendwelches religiöses Verhalten zu erreichen oder Ihn gar zu besänftigen. Sondern Gott kommt zu uns herab, macht sich für uns ganz klein und damit erreichbar, beschenkt uns, statt daß wir Ihn beschenken müßten. Der christliche Gottesdienst ist damit das glatte Gegenteil allen menschlichen religiösen Strebens. Er ist in seinem Wesen bestimmt durch Präsenz und Gabe, durch die Gegenwart des menschgewordenen Gottes Jesus Christus, der uns im Gottesdienst an den Gaben Seines Heils und damit letztlich und vor allem an sich selber Anteil gibt.

 

Der christliche Gottesdienst setzt die ganze Geschichte Gottes mit den Menschen voraus und ist in diese Geschichte eingebunden: Er setzt voraus, daß der Mensch von Gott geschaffen und Ihm von daher wesensmäßig zugeordnet ist: Als Ebenbild Gottes erfüllt sich die Bestimmung des Menschen nur in seiner Hinwendung zu Gott. Der christliche Gottesdienst setzt aber zugleich auch den Sündenfall voraus: Der Mensch ist von Gott getrennt und hat von daher keine Möglichkeit, sich von sich aus Gott wieder zu nähern und sein Verhältnis zu Gott wieder in Ordnung zu bringen. Das Alte Testament schildert, wie Gott selber für Sein Volk Israel Opfergottesdienste einsetzt, um dadurch gleichsam eine vorläufige Regulierung des Verhältnisses des Volkes zu Ihm, Gott, und damit auch die Vergebung von Schuld vor Gott zu ermöglichen. Zugleich bleibt aber im Alten Testament auch das Wissen präsent, daß der Mensch sich Gott letztlich gar nicht nahen kann, ohne wie Jesaja rufen zu müssen: „Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen!“ (Jesaja 6,5)

 

Vor allem aber setzt der christliche Gottesdienst die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus voraus, durch die er erst sein eigentliches Wesen erhält: Christus hat durch Seinen Tod am Kreuz das eine Opfer dargebracht, das künftig alle weiteren Opfergottesdienste und Gott versöhnenden Taten überflüssig macht, und damit alles auf sich genommen, was uns Menschen von Gott trennt. In Ihm kommt Gott den Menschen nahe, ohne daß diese vor seiner Heiligkeit gleich vergehen müßten. Und Er stiftet neue Formen der Zuwendung Gottes zu den Menschen: die Verkündigung des Evangeliums und die Sakramente, in denen Er selber gegenwärtig ist und wirkt. Als der auferstandene Herr ist Er dabei nicht an die Grenzen von Zeit und Raum gebunden. Weil Seine Gegenwart, Seine Präsenz das Wesen des Gottesdienstes bestimmt, werden auch im Gottesdienst selber die Schranken von Raum und Zeit überwunden: Die Teilhabe an Leib und Blut Christi schließt die Christen weltweit zu dem Einen Leib Christi zusammen. Zugleich werden im Gottesdienst Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eins: In der Feier des Altarsakraments werden wir immer wieder von neuem hineingenommen in die „Nacht, da Er verraten ward“, sind die Opfergaben von Golgatha, Leib und Blut Christi, auf dem Altar in unserer Mitte gegenwärtig. Und zugleich hören wir im Freispruch der Sündenvergebung schon hier und jetzt Gottes letztes und entscheidendes Urteil über unser Leben, haben wir in jeder Sakramentsfeier schon Anteil am himmlischen Gottesdienst, der uns in der Ewigkeit erwartet.

 

Heilsgeschichtlich hat der Gottesdienst also seinen Ort zwischen dem Sündenfall und dem Tod und der Auferstehung Christi auf der einen Seite und Seiner Wiederkunft und der Neuschöpfung der Welt auf der anderen Seite. Im Leben des einzelnen Christen hat der Gottesdienst seinen Ort zwischen der Taufe auf der einen Seite und seinem Sterben und Tod auf der anderen Seite: Durch die Taufe ist der heilige Gott unser Vater geworden, dem wir uns als Seine Kinder vertrauensvoll nähern dürfen. Der Gottesdienst zielt darauf, dieses Verhältnis immer wieder von neuem zu stärken. Und der Gottesdienst dient zugleich der Vorbereitung auf das Sterben und den Tod, in dem sich endgültig entscheiden wird, ob wir unser Leben verfehlt haben oder nicht. Indem wir im Gottesdienst ganz „loslassen“ und uns von Christus einfach nur beschenken lassen, üben wir dort unser Sterben immer wieder schon ein und lassen uns festmachen in der Gemeinschaft mit Christus, die allein uns auch durch den Tod hindurchzutragen vermag. Und schließlich werden wir im Gottesdienst auch hineingenommen in das Lob Gottes durch die gesamte Schöpfung, von dem die Psalmen immer wieder zu singen wissen, und durch die Engel Gottes, die teilhaben am himmlischen Gottesdienst vor Gottes Thron. Nicht zufällig enthält unsere Liturgie Gesänge der Engel, die uns aus der Heiligen Schrift überliefert sind: das „Ehre sei Gott in der Höhe“ (St. Lukas 2,14) und das „Heilig, heilig, heilig“ (Jesaja 6,3). Daß wir schon jetzt in den Chor der Engel im Gottesdienst mit einstimmen dürfen, ist alles andere als selbstverständlich, sondern selber Geschenk und Gabe Gottes, um die wir in jedem Gottesdienst von neuem bitten: „Mit ihnen laß auch unsere Stimmen uns vereinen und anbetend ohne Ende lobsingen“, heißt es in der Sakramentsliturgie.

 

„Präsenz“ bestimmt das Wesen des christlichen Gottesdienstes. Das heißt: Der Gottesdienst lebt davon, daß Christus selber inmitten seiner Gemeinde gegenwärtig ist, die Er durch Sein Wort um Seinen Altar sammelt. ER, Christus, ist der Gastgeber, nicht etwa der Pastor (weshalb es auch irreführend ist, wenn der Pastor die Gemeinde zu Beginn des Gottesdienstes „begrüßt“, als ob er der Veranstalter wäre!); der Gottesdienst ist Audienz beim auferstandenen und gegenwärtigen Christus. Eben darum ist der Gottesdienst seinem Wesen nach auch zweckfrei und zwecklos: Es geht nicht darum, durch den Gottesdienst bei den Teilnehmern etwas zu bewirken oder zu erreichen; es geht im Gottesdienst schlicht und einfach darum, daß wir in die Gegenwart des auferstandenen Christus eintreten und uns von Seiner Gegenwart umfangen lassen.

 

Und die „Gabe“ bestimmt zum anderen das Wesen des christlichen Gottesdienstes. Das heißt: Im Gottesdienst passiert tatsächlich etwas; hier werden nicht bloß „Besucher“ über etwas informiert, sondern sie werden in ein Geschehen hineingenommen, das ihr Leben verändert. In diesem Geschehen sind die, die daran teilhaben, aber eben nicht mehr die aktiv Handelnden, sondern Empfangende, die von Christus beschenkt werden.

 

Wenn der christliche Gottesdienst durch „Präsenz“ und „Gabe“ bestimmt wird, dann darf er nicht zu einer Schulveranstaltung pervertiert werden, die darauf aus ist, bei den Gottesdienstteilnehmern bestimmte „Lernziele“ zu erreichen. In solch einer Schulveranstaltung stehen sich dann letztlich nur noch der lehrende Pastor und die lernenden Gemeindeglieder gegenüber; Christus ist dann nur noch Gegenstand des Lernens, aber nicht mehr der in diesem Gottesdienst – auch über alles Verstehen hinaus – handelnde Herr. Besonders die regelmäßige Sakramentsfeier im Gottesdienst vermag diesem Mißverständnis des christlichen Gottesdienstes zu wehren. Pervertiert wird der Gottesdienst aber auch da, wo er zu einem „Event“ gemacht wird, das vor allem nach seinem Unterhaltungswert oder seiner Fähigkeit, bei den Teilnehmern „Erlebnisse“ hervorzurufen, beurteilt werden kann. In unserer heutigen „Erlebnisgesellschaft“, in der alles und jedes als „Erlebnis“ angepriesen und verkauft wird, ist die Versuchung groß, auch den Gottesdienst in dieser Weise zu instrumentalisieren. Doch auch dabei rückt der Mensch mit seinen Erwartungen und Wünschen wieder in den Mittelpunkt des Gottesdienstes; was er erfahren und erleben möchte, bestimmt dann auch den Inhalt der Verkündigung und die Gestalt des Gottesdienstes insgesamt. Daß man mit einer solchen Umpolung des Gottesdienstes kurzfristig „Erfolge“ erzielen und „Begeisterung“ hervorrufen kann, ist unbestritten. Die fatalen geistlichen Folgen einer solchen Entleerung des Gottesdienstes, der nicht mehr von „Präsenz“ und „Gabe“ bestimmt ist, machen sich in aller Regel erst längerfristig bemerkbar.

 

Die Erfahrungen der Kirchengeschichte zeigen, daß sich ein Gottesdienst, der in seinem Wesen von der Präsenz Christi und von Seinen Gaben bestimmt ist, selber bestimmte Formen schafft, die dem, was in ihm geschieht, entsprechen. Wir tun gut daran, den tiefen geistlichen Sinn dieser Formen, die auch wir in unserer Liturgie übernommen haben, und ihre tiefe Gründung in den Worten der Heiligen Schrift wieder neu zu entdecken. Genau dem sollen die Glaubensinformationen für lutherische Christen in den kommenden Monaten dieses Jahres dienen.