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9. Vaterunser und Friedensgruß

Zu den festen Bestandteilen der Sakramentsliturgie gehört seit der Zeit der Alten Kirche auch das wichtigste Gebet der Christenheit überhaupt, das Heilige Vaterunser. Dass das Vaterunser bei der Sakramentsfeier gebetet wurde, ist aus dem 4. Jahrhundert fest überliefert; doch reicht diese Praxis vermutlich sehr viel weiter zurück. Den Ungetauften war das Vaterunser in den ersten Jahrhunderten der Kirche jedenfalls unbekannt; sie mussten ja vor der Sakramentsfeier den Gottesdienst verlassen und erfuhren den Wortlaut des Vaterunsers erst kurz vor ihrer Taufe. Dies hatte einen tiefen Sinn: Dass Gott unser Vater ist, ist eben keine banale Selbstverständlichkeit („Brüder, überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen“), sondern Gabe und Wirkung der Taufe. Das Gebet des Vaterunsers kurz vor der Austeilung der Kommunion macht von daher deutlich: Hier versammelt sich jetzt die Familie Gottes und spricht ihr „Tischgebet“ vor dem Empfang des heiligen Mahles.

Als ein solches Tischgebet ist das Vaterunser in ganz besonderer Weise geeignet; alle seine Bitten bekommen im Kontext der Sakramentsfeier noch einmal einen ganz besonderen Klang:

„Vater unser“ – so betet, wie eben erwähnt, die Familie Gottes. „Geheiligt werde dein Name“ – die ganze Sakramentsfeier ist Lobpreis und Verherrlichung des Namens Gottes, ein Mahl der Danksagung, auf Griechisch: Eucharistie. Wie könnte der Name Gottes besser geheiligt werden als eben dadurch, dass wir preisen, was er für uns getan hat und tut? „Dein Reich komme“ – Bei jeder Sakramentsfeier blicken wir nach vorne und feiern gleichsam dem wiederkommenden Herrn entgegen: „Sooft ihr von diesem Brot esst und aus dem Kelch trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis er kommt.“ (1. Korinther 11,26) Zu jeder Sakramentsfeier gehört von daher die Bitte um das baldige Kommen des Herrn: „Maranatha“ (1. Korinther 16,22) – unser Herr, komm! Und derselbe Herr, dessen Wiederkunft wir in jeder Sakramentsfeier erflehen, kommt ja schon jetzt zu uns im Heiligen Mahl, lässt jede Sakramentsfeier schon zu einer Generalprobe seiner sichtbaren Wiederkunft werden: Gottes Reich kommt schon jetzt zu uns mit dem Leib und Blut seines Sohnes im Heiligen Mahl. So erfüllt sich diese Vaterunserbitte auch jetzt schon ganz konkret. „Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.“ Im Sakrament werden Himmel und Erde eins: „Auf ewig ist verschwunden, was Erd und Himmel trennt, denn Gott hat sie verbunden im Heiligen Sakrament.“ (Gesangbuch Nr. 476,3) Gottes Wille ist ja sein Heilswille; er geschieht gerade da, wo wir sein Heil und seine Vergebung empfangen – ganz greifbar im Empfang des Heiligen Mahls. Es ist zugleich eine Bitte, dass Gott, der will, dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen (1. Timotheus 2,4), seinen Willen auch an denen vollziehen möge, die der Sakramentsfeier noch oder wieder fernbleiben, und auch sie wieder neu in diese Gemeinschaft hineinnehmen möge. „Unser tägliches Brot gib uns heute“: Das griechische Wort, das wir mit „täglich“ wiedergeben, hat eine vielschichtige Bedeutung; schon in der Alten Kirche wurde es auch als „übernatürliches Brot“ übersetzt und damit ein Hinweis auf das Heilige Mahl darin gesehen. In der Tat ist das Heilige Mahl das „tägliche Brot“ für uns Christen, die Speise, die uns das geistliche Überleben sichert, weil wir darin keinen Geringeren als IHN, Christus, das Brot des Lebens in Person, leibhaftig empfangen. Das Heilige Mahl ist und bleibt das Grundnahrungsmittel für uns Christen, und so tun wir gut daran, darum mit dem Vaterunser auch immer wieder neu zu beten. Es ist eben gerade nicht selbstverständlich, dass wir das Heilige Mahl so häufig als unser tägliches Brot empfangen dürfen! „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“: Auch dies geschieht im Heiligen Mahl, dass wir darin die Vergebung unserer Schuld empfangen, und „wo Vergebung der Sünden ist, da ist auch Leben und Seligkeit“ (Martin Luther, Kleiner Katechismus 5. Hauptstück). Dieser Empfang der Vergebung hat aber auch Konsequenzen: Ich kann und darf das Heilige Mahl nicht empfangen, wenn ich nicht zur Versöhnung mit meinem Bruder oder meiner Schwester in der Gemeinde bereit bin, mit denen ich gemeinsam das Mahl des Herrn empfange, oder wenn ich mir nicht durch das Sakrament die Kraft dafür schenken lassen will, den Schritt der Versöhnung auf meinen Bruder, auf meine Schwester zu gehen. Christus mahnt uns in der Bergpredigt: „Wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und dort kommt dir in den Sinn, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass dort vor dem Altar deine Gabe und geh zuerst hin und versöhne dich mit deinem Bruder, und dann komm und opfere deine Gabe.“ (St. Matthäus 5,23+24) Eben darin besteht auch der Sinn des Friedensgrußes, den wir gleich noch bedenken wollen. Wenn wir das Vaterunser mit unserem Herzen mitsprechen, dann bekennen wir eben damit vor dem Empfang des Heiligen Mahles: Ja, auch ich vergebe meinen Schuldigern und trage ihnen nichts mehr nach. Ob uns das bei der Feier des Sakramentes immer ganz bewusst ist? „Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen“: Als Christen stehen wir beständig im Kampf mit den Mächten, die uns von Christus wegziehen wollen. Umso dringender brauchen wir das Sakrament immer wieder neu als Stärkung und Wegzehrung, damit Christus, der durch das Heilige Mahl in uns lebt, uns in seiner Gemeinschaft festhält und uns so davor bewahrt, von ihm abzufallen. Zugleich ist aber auch die letzte Vaterunserbitte noch einmal ein Ruf nach dem baldigen Kommen des Herrn, das alle Versuchung beenden und die Macht des Bösen endgültig vernichten wird. Die Gabe des Heiligen Mahles will uns im Sehnen danach immer neu bestärken. Der Abschluss des Vaterunsers, die sogenannte „Doxologie“, auf Deutsch: Lobpreis, findet sich nicht in den ältesten Textzeugen des Neuen Testaments selber in Matthäus 6 und Lukas 11. Wir finden diesen abschließenden Lobpreis aber bereits in der „Didache“, einer Kirchenordnung, die etwa um das Jahr 100 entstanden ist. Er fügt sich gut ein in den Lobpreis Gottes, der die gesamte Sakramentsfeier durchzieht.

Es entspricht einer sehr alten Praxis, dass das Vaterunser von einem Vorbeter gesprochen beziehungsweise gesungen wird und die Gemeinde darauf mit dem Gesang der „Doxologie“ antwortet, wie wir dies auch in unserer Gottesdienstordnung kennen. Nicht minder sinnvoll ist jedoch die Praxis der Ostkirchen, bei denen bewusst die ganze Gemeinde das Vaterunser bei der Sakramentsfeier miteinander spricht beziehungsweise singt, wie wir dies etwa auch aus den Stundengebeten, der Matutin, der Vesper oder der Complet, kennen.

Während Martin Luther die meisten Gebete, die die Einsetzungsworte bei der Sakramentsfeier umgaben, in seinen Gottesdienstordnungen strich, ließ er das Vaterunser als Gebet Christi stehen und akzentuierte es noch deutlicher als Tischgebet. Nach der „Form A“ der Sakramentsfeier, die auf Luthers Deutsche Messe zurückgeht, wird das Vaterunser als Vorbereitungsgebet vor den Einsetzungsworten gesprochen. Nach der „Form B“, die sich stärker an der kirchlichen Tradition orientiert, folgt das Vaterunser auf die Einsetzungsworte. Beide Varianten sind in unserer Gemeinde bekannt.

Auf das Vaterunser folgt der Friedensgruß. Er hat seinen Ursprung in der neutestamentlichen Aufforderung: „Grüßt euch untereinander mit dem heiligen Kuss.“ (Römer 16,16; 1. Korinther 16,20; 2. Korinther 13,12; ähnlich in 1. Thessalonicher 5,26 und in 1. Petrus 5,14) Dieser heilige Kuss, den Männer mit Männern und Frauen mit Frauen austauschten, war ein Ausdruck der Gemeinschaft der Getauften, die im Frieden Christi miteinander verbunden und versöhnt sind. Er brachte sinnenfällig zum Ausdruck, dass der Empfang des heiligen Mahles nicht bloß eine Privatangelegenheit des einzelnen Gläubigen ist, sondern sich immer in der Gemeinschaft der Gemeinde und Kirche vollzieht. Seit dem 13. Jahrhundert wurde aus dem Friedenskuss ein Friedensgruß, den der Liturg an die Gemeinde richtete und auf den die Gemeindeglieder mit ihrem „Amen“ antworteten und damit zum Ausdruck brachten, dass sie im Frieden mit allen anderen Kommunikanten das Sakrament zu empfangen gedenken. Der Friedensgruß ist zugleich auch der Gruß des auferstandenen Christus, der nun im Sakrament gegenwärtig ist, an seine Jünger (St. Johannes 20,21.26) und hat auch von daher seinen guten Sinn. Seit dem II. Vatikanischen Konzil (1962-1965) ist es in der römisch-katholischen Kirche Brauch, dass dieser Friedensgruß auch unter den Gemeindegliedern ausgetauscht wird, indem sie einander die Hand reichen. Dies ist einerseits ein sehr sinnenfälliges Zeichen. Andererseits empfinden nicht wenige Gottesdienstteilnehmer dieses Händeschütteln als „Zwang zur Nähe“ und von daher als aufdringlich. Problematisch ist vor allem auch, dass der Friedensgruß gerade an der Stelle der Liturgie ausgetauscht werden soll, an der die Gemeinde vor dem leibhaftig anwesenden Christus auf den Knien liegt. Gert Kelter schreibt dazu: „Geradezu grässlich sind mir Gottesdienst-Erfahrungen in Erinnerung, wo die Aufforderung zu einem ‚Zeichen des Friedens und der Versöhnung’ dazu führt, dass der Pastor durch die Reihen marschiert und wie der Bundeskanzler beim Wahlkampf mal diesem, mal jenem die Hand schüttelt und daraufhin ein allgemeines Hin- und Hergelaufe und -gerücke, ein Gemurmel und Geplaudere entsteht“. Dagegen verweist der jetzige Papst Benedikt XVI. in seinem Buch über den „Geist der Liturgie“ auf die Praxis der kongolesischen römisch-katholischen Kirche, in der der Friedensgruß zu Beginn der Sakramentsfeier, vor der Gabenbereitung ausgetauscht wird, „was wohl für den Gesamtbereich des römischen Ritus wünschbar wäre.“ (S.146) Dem kann man sich nur anschließen, zumal dies auch die ursprüngliche kirchliche Praxis darstellt, wie sie in der Liturgie der Ostkirche bis heute weiterbesteht. Sinn und Bedeutung des Friedensgrußes sollten wir jedenfalls stets bedenken, ganz gleich, wie wir ihn praktizieren mögen.