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1. Was ist eine Sekte?

Das Wort „Sekte“ lässt sich sehr unterschiedlich definieren und wird zudem auch mit ganz unterschiedlichen Absichten gebraucht.
Im Neuen Testament wird das Wort „hairesis“ zunächst für religiöse Gruppierungen innerhalb des Judentums verwendet. So können etwa die Sadduzäer (Apostelgeschichte 5,17) oder die Pharisäer (Apostelgeschichte 15,5; 26,5) als „hairesis“ bezeichnet werden. Entsprechend wird das Wort dann auch auf die Christen angewendet, die in der Apostelgeschichte – nun bereits erkennbar abwertend – als „Sekte der Nazarener“ (Apostelgeschichte 24,5; kritisch dazu Paulus in Apostelgeschichte 24,14) bezeichnet werden. Eine negative Bedeutung erhält der Begriff der „hairesis“, der im griechischen Sprachgebrauch ansonsten einfach eine Philosophenschule zu bezeichnen vermag, der man sich anschließen kann (haireomai heißt eigentlich „auswählen“), in den Schriften des Apostels Paulus: Weil die Kirche eine ist, kann und darf sie sich nicht in verschiedene haireseis aufspalten. Die haireseis gehören von daher zu den „Werken des Fleisches“ (Gal 5,20), die dem Wirken des Geistes Gottes in den Christen widersprechen. Dabei greifen die haireseis tiefer als die Schismata, als die äußeren Spaltungen einer Gemeinschaft: Haireseis stellen das Fundament der Kirche in Frage, indem sie Irrlehren vertreten. In diesem Sinne wird das Wort bereits in 2. Petrus 2,1 verwendet.
Mit dem Entstehen von Volks- und Staatskirchen gewinnt der Begriff der Sekte dann auch immer stärker weiterreichende soziologische Konturen: Eine Sekte ist eine auch organisatorisch fassbare Gruppierung, die sich von der Kirche abgespalten hat und Irrlehren vertritt. Entsprechend wurde im Mittelalter die Zugehörigkeit zu einer Sekte mit dem Tode bestraft. Polemisch wurde der Begriff der Sekte auch in den Auseinandersetzungen der Reformationszeit verwendet, wenn die römische Kirche etwa die Lutheraner als secta lutherana bezeichnete.
Zweifelsohne ist das Wort „Sekte“ auch heute kein wertneutraler Begriff, sondern wird mehr oder weniger deutlich als „Kampfbegriff“ verwendet. Keine Sekte würde sich selber jemals als Sekte bezeichnen; umgekehrt besteht die Gefahr, dass Volks- oder Staatskirchen ihren eigenen Absolutheitsanspruch mit der Verwendung des Begriffs der Sekte zu untermauern versuchen – und damit selber in der Gefahr stehen, zu einer großen Sekte zu werden. Bis heute spukt entsprechend die Sektendefinition des Soziologen Max Weber in vielen Köpfen herum: Danach sind Sekten Gemeinschaften, in die man aufgenommen wird, während Kirchen Anstalten sind, in die man hineingeboren wird. Von daher ist bis heute das Klischee verbreitet, wonach es in Deutschland zwei Kirchen gibt, die evangelische und die römisch-katholische, und daneben eine ganze Reihe von Sekten (worunter dann konsequenterweise auch unsere Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche fiele!).
Trotz der Missbrauchsgefahr bei der Verwendung des Begriffs „Sekte“ (weshalb er beispielsweise in der Religionswissenschaft oder auch in der Rechtswissenschaft nicht verwendet wird) lassen sich doch bestimmte Merkmale einer religiösen Gruppierung benennen, die diese als „Sekte“ kennzeichnen.
Zumindest als „Aufhänger“, wenn auch nicht bis ins Letzte etymologisch abgesichert, lässt sich der Begriff der Sekte von zwei lateinischen Worten ableiten: vom Wort „secare“ (abschneiden) und vom Wort  „sequi“ (folgen):
Sekten sind religiöse Gruppierungen, die nicht nur unabhängig von großen Volkskirchen existieren, sondern sich so deutlich von allen anderen Kirchen und christlichen Gruppierungen abgrenzen, dass sie explizit oder implizit den Anspruch vertreten, alleinseligmachend zu sein: Nur wer zu unserer ganz konkreten Gruppierung gehört, wird am Ende gerettet; wer dagegen sich unserer Gruppierung nicht anschließt oder – schlimmer noch – diese wieder verlässt, der geht verloren. Dieses Selbstbewusstsein einer Sekte führt in der Praxis immer wieder zu Abschottung und Gruppendruck, die ihrerseits dieses Selbstbewusstsein wieder verstärken: Kontakte von Mitgliedern zu Nichtmitgliedern werden nach Möglichkeit auf ein Minimum reduziert; die Lektüre gruppenfremder oder gar gruppenkritischer Literatur wird als höchst problematisch angesehen. Wer in eine solche Sekte hineingerät, erlebt im Laufe der Zeit oft genug unmerklich so etwas wie eine Gehirnwäsche: Alle kritischen Informationen über die Gruppe, die von außen an mich herangetragen werden, kommen vom Teufel; entsprechend darf ich nicht auf sie hören. Von daher sind sachliche Gespräche mit Sektenangehörigen oft schwierig; man hat denn Eindruck, als wenn man gegen eine Wand reden würde. Gruppendruck und Abschottung werden durch Kontrolle und Überwachung der Gruppenmitglieder untereinander gefördert; auch dienen bestimmte Gruppenregeln dazu, die Abschottung zu fördern (z.B. der Verzicht auf das Feiern von Weihnachten oder Geburtstagen bei den Zeugen Jehovas).
Noch deutlicher erkennbar sind Sekten daran, dass in ihnen eine klar definierte Führungsstruktur existiert: Die Gemeinschaft folgt einem Führer, sei es einer Einzelperson oder einer Organisation. Diese Führung legitimiert sich dadurch, dass sie eine besondere Verbindung zu Gott hat und von daher Weisungen an die Sektenmitglieder zu geben vermag, die nicht hinterfragt und kritisiert werden können und dürfen. Unterscheiden muss man dabei zwischen Gruppierungen, die sich auf das Auftreten eines Propheten oder einer Prophetin in der Vergangenheit zurückbeziehen und dessen/deren Erbe nun gleichsam nur noch „verwalten“ (z.B. Mormonen, Siebenten-Tags-Adventisten), und Gruppierungen, die behaupten, dass ihr Führer bzw. ihre Führung auch weiterhin mit immer neuen Informationen aus dem himmlischen Bereich versorgt wird (z.B. Zeugen Jehovas, Neuapostolische Kirche). Letztere zeigen in aller Regel einen deutlich totalitäreren Charakter, da jede neue Weisung nicht extra durch einen Rückgriff auf bereits vorliegende Glaubensdokumente begründet werden muss. Die Bedeutung der Führung in sektiererischen Gruppierungen zeigt sich auch darin, dass die von ihr verfassten Dokumente und Verlautbarungen in der Praxis für die Gruppenmitglieder zumeist eine größere Bedeutung haben als die Heilige Schrift selber, auch wenn dies von den Gruppierungen theoretisch mitunter bestritten wird. Zumindest stellen diese Dokumente eine solch starke „Brille“ dar, dass die Aussagen der Heiligen Schrift selber durch sie nur noch sehr verzerrt und einseitig wahrgenommen werden können.
Von ihrer Entstehung und von ihrer Lehre her lassen sich Sekten wesenhaft als „unkatholisch“ kennzeichnen: Sie lehren gerade nicht, was zu allen Zeiten überall in der Kirche gelehrt worden ist, und sehen sich auch nicht in der Kontinuität der Kirche aller Jahrhunderte. Vielmehr hat nach ihrer Lehre mit der Gründung ihrer Gruppierung eine neue Heilszeit begonnen, hinter der die Geschichte der Kirche in den Jahrhunderten zuvor völlig verblasst oder nur als Negativfolie wahrgenommen wird. Das fehlende kirchliche Bewusstsein wird auch in der Entstehungsgeschichte vieler Sekten klar erkennbar: Man gründet sich auf die religiösen Einsichten eines einzelnen Menschen oder einer kleinen Gruppe, die in vielen Fällen meinte, die Heilige Schrift losgelöst vom Glauben der Kirche lesen und verstehen zu können, und dabei auf alle möglichen Abwege geriet, indem sie elementare Grundregeln zum Verständnis eines Textes missachtete. So vertreten alle Sekten auch inhaltlich Sonderlehren, die von der Lehre der Kirche deutlich abweichen und sich nur klar als Irrlehren bezeichnen lassen. Auch von dem Inhalt ihrer Verkündigung her sind Sekten also wesenhaft „unkatholisch“.
Anhand dieser Beschreibung der Wesensmerkmale einer Sekte lässt sich sehr klar und einfach darstellen, weshalb beispielsweise unsere Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche natürlich keine Sekte ist: Sie schottet sich nicht ab von anderen Kirchen, sondern arbeitet mit ihnen zusammen, geschweige denn, dass sie behaupten würde, dass nur Glieder der SELK am Ende selig würden. Auch hat die SELK keine autoritäre Führungsstruktur, sondern transparente Entscheidungsprozesse. Gewiss haben wir auch in unserer SELK – wie dies in jeder Kirche der Fall ist – ein bestimmtes Vorverständnis, mit dem wir an die Heilige Schrift herangehen. Doch dieses Vorverständnis, wie es im Lutherischen Bekenntnis formuliert ist, muss immer wieder neu von der Heiligen Schrift selber kritisch überprüft werden. Schließlich sieht sich unsere Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche auch keinesfalls als „Neugründung“ an. Ihre Geschichte beginnt weder 1517 noch 1845, sondern mit dem ersten Pfingstfest in Jerusalem. Niemals wollte die lutherische Kirche eine neue Kirche sein oder sich von der katholischen Kirche abspalten; ihr Anspruch war und ist stets, die Lehre der katholischen Kirche zu vertreten und von daher selber katholische Kirche zu sein – im Sinne der rechtgläubigen Kirche aller Zeiten. Von daher vertritt unsere Kirche auch keine Sonderlehren und hört in der Auslegung der Heiligen Schrift immer wieder auf das Zeugnis derer, die vor ihr bereits die Heilige Schrift ausgelegt haben. Richtpunkt ihrer Auslegung ist dabei nicht die persönliche Glaubenserfahrung eines Einzelnen, sondern der Gottesdienst der Kirche.
Bei der Beurteilung von Sekten muss man immer zwischen der Führungsebene und den einzelnen Sektenmitgliedern unterscheiden: Viele einfache Sektenmitglieder vermögen nicht zu überblicken, in was für eine höchst problematische Gruppierung sie hineingeraten sind. Ihre Motive mögen durchaus lauter sein: Sie glauben, eine Gemeinschaft gefunden zu haben, die die Heilige Schrift ernst nimmt und ihnen zugleich die Geborgenheit schenkt, nach der sie sich sehnen. Anders steht es um die, die bewusst Leitungsfunktionen in diesen Gruppierungen wahrnehmen: Sie sind nicht bloß, manchmal auch gar nicht, Verführte, sondern selber Verführer, die sich für die Verbreitung ihrer seelengefährdenden Irrlehren einmal vor Christus werden verantworten müssen. Nicht übersehen sollte man jedoch auch, dass die Heilige Schrift aus sich heraus immer wieder auch eine solche Kraft zu entfalten vermag, dass sie selbst in Sekten bei Einzelnen, mitunter sogar ganzen Gruppen Umkehr und Erkenntnis des Evangeliums zu bewirken vermag. Wo die Heilige Schrift als Maßstab des Glaubens ernst genommen wird, kann es dann mitunter sogar zu Korrekturen in der Gesamtausrichtung einer Gruppierung kommen, wie man dies zurzeit etwa bei den Siebenten-Tags-Adventisten beobachten kann (in deren Mitte allerdings heftige Kämpfe zwischen sektiererisch und freikirchlich ausgerichteten Fraktionen ausgefochten werden).
„Sekten“ gibt es natürlich nicht nur im Christentum, sondern auch in anderen Religionen. Wir wollen uns in den folgenden Glaubensinformationen im Wesentlichen auf Sekten mit mehr oder weniger noch erkennbarem christlichem Hintergrund beschränken. Allerdings soll die Darstellung mit einer Behandlung einer muslimischen Sekte, der „Baha’i-Religion“, abgeschlossen werden, da diese selber den Anspruch erhebt, auch das Christentum zu vollenden und damit auch auf Menschen mit christlichem Hintergrund eine nicht zu unterschätzende Anziehungskraft ausübt.