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5. Die „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ („Mormonen“)

Die „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ (englisch: Latter-day Saints, abgekürzt: LDS) hat ihre historischen Ursprünge im Wirken eines jungen Mannes namens Joseph Smith (1805-1844), der bereits als Jugendlicher glaubte, mithilfe eines Kristalls in der Erde verborgene Schätze aufspüren zu können. Schließlich behauptete Smith, am 21. September 1823 sei ihm in seinem Schlafzimmer ein Engel namens „Moroni“ erschienen, Sohn eines gewissen „Mormon“, der angeblich im 5. Jahrhundert nach Christus in Amerika als christlicher Prophet gewirkt haben soll. Dieser Engel habe ihn zu einem Hügel in der Nähe des Elternhauses von Smith geführt und ihm eine im Boden vergrabene Steinkiste gezeigt, die eine „Prophetenbrille“ und einige in Form eines Ringbuchs angeordnete „Goldplatten“ mit altertümlichen Schriftzeichen enthielt. Smith setzte die Prophetenbrille auf und konnte damit die Schriftzeichen, die er als „abgewandeltes Altägyptisch“ erkannte, verstehen und übersetzen. Nach Abschluss seiner Übersetzungsarbeit musste er die Platten und die Brille an Moroni zurückgeben; seine Übersetzung wurde im Jahr 1830 unter dem Titel „Das Buch Mormon“ veröffentlicht.
Das Buch Mormon erzählt die frei erfundene Geschichte von den „Ureinwohnern Amerikas“, die um 600 vor Christus kurz vor der Zerstörung Jerusalems aus Israel per Schiff über den Pazifik nach Amerika ausgewandert seien. Der Stammvater der Auswanderer, „Lehi“, hatte dabei zwei Söhne, „Nephi“ und „Laman“. Während die Nachkommen Nephis, die Nephiten, gottesfürchtig blieben, fielen die Lamaniten vom Glauben ab und bekamen dafür von Gott als Strafe eine dunkle Hautfarbe. Der letzte Prophet ließ dann 421 nach Christus die goldenen Platten mit der Geschichte der beiden Volksstämme auf dem Hügel Cumorah vergraben.
Joseph Smith behauptete außerdem, Johannes der Täufer habe ihm 1829 das aaronitische Priestertum übertragen; bald darauf hätten ihn dann die Apostel Petrus, Jakobus und Johannes zum melchizedekitischen Priestertum geweiht. Mit einigen Freunden gründete er eine Glaubensgemeinschaft, deren Anhänger Joseph Smith als „Seher, Propheten und Offenbarer“ verehrten. Joseph Smith behauptete, immer neue Offenbarungen zu erhalten. Er ließ in Kirtland/Ohio den ersten Tempel bauen und gründete dann in Nauvoo/Illinois eine Siedlung, in der er als Bürgermeister tätig war. Da er neben seiner Ehefrau Emma mit zahlreichen weiteren Frauen außereheliche Beziehungen unterhielt, war es außerordentlich praktisch für ihn, eine Offenbarung zu erhalten, wonach Gott ihm und allen seinen Anhängern die Polygamie, die Vielehe, gestattete. Für den Kultus der Mormonen war die Tatsache von besonderer Bedeutung, dass Smith Anfang der 40er Jahre einer Freimaurerloge beitrat und viele Riten der Freimaurer fast unverändert in seine Glaubensgemeinschaft übernahm.
Mit seinen Lehren und seiner polygamen Praxis stieß Joseph Smith in der Bevölkerung auf heftige Ablehnung und wurde schließlich 1844 aus einer empörten Volksmenge erschossen. Aus den Nachfolgekämpfen ging schließlich der ehemalige Zimmermann Brigham Young als Sieger hervor; er ließ sich zum neuen Anführer und Propheten wählen. Die Familie von Joseph Smith, die diese Entscheidung nicht anerkannte, gründete eine eigene mormonische Gemeinschaft. Auch in der Folgezeit kam es zu zahlreichen Absplitterungen, sodass es heutzutage mehr als 110 mormonische Gruppierungen gibt, deren größte neben der „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ die „Reorganisierte Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ (seit 2001 „Gemeinschaft Christi“ genannt) ist. Brigham Young organisierte 1845/46 aufgrund der zunehmenden Feindschaft der Bevölkerung einen großen Zug nach Westen, der die Mormonen zum Großen Salzseetal der Rocky Mountains führte. Dort verwandelten sie das Wüstengebiet in einer beachtlichen Pionierleistung in eine Kulturlandschaft mit dem Zentrum Salt Lake City. Nachdem der Mormonenpräsident Wilford Woodruff die Praxis (nicht die Lehre!) der Vielehe 1890 offiziell außer Kraft setzte, konnte das Wüstengebiet als Staat „Utah“ in die Vereinigten Staaten von Amerika aufgenommen werden. Im 20. Jahrhundert haben die Mormonen weltweit eine enorme Ausbreitung erfahren: Im Bundesstaat Utah bilden sie bis heute die große Mehrheit der Bevölkerung; insgesamt gehören 2% der Bevölkerung der USA den LDS an. Weltweit gibt es heutzutage etwa 10 Millionen Mormonen; in Deutschland sind es etwa 37.000. Das Wachstum der LDS verdankt sich nicht zuletzt dem zweijährigen (seit einigen Jahren achtzehnmonatigen) Missionseinsatz, zu dem viele junge männliche Mormonen ausgesandt werden. Ihr Auftreten mit kurzgeschnittenem, adrett gekämmtem Haar und in dunklem Anzug, jeweils versehen mit einem Namensschild, lässt diese Mormonenmissionare hier in Deutschland oft schon von weitem erkennbar werden.
Die Lehre der Mormonen beruht neben der christlichen Bibel (die de facto neben den spezifisch mormonischen Offenbarungsquellen nur eine geringe Rolle spielt und von diesen her gedeutet wird) auf dem Buch Mormon sowie zwei weiteren Büchern mit den Titeln „Lehre und Bündnisse“ und „Köstliche Perle“. Da die Leitung der LDS jedoch immer wieder neue Offenbarungen von Gott zu erhalten behauptet, deren Bedeutung noch über diesen schriftlichen Dokumenten angesiedelt wird, gibt es in der mormonischen Lehre auch immer wieder nicht unerhebliche Veränderungen.
Das mormonische Lehrsystem beruht vor allem auf dem Prinzip der „Wiederherstellung“ (restoration): Nach dem Tod der Apostel habe es in der Kirche einen Glaubensabfall gegeben; Gott wandte sich von der Kirche ab und entzog ihr seine Offenbarungen. „Satanische Kräfte“ veränderten angeblich die ursprüngliche Bibel. Die Zeit der Dunkelheit endete mit der Berufung von Joseph Smith als Prophet; seitdem offenbart sich Gott wieder und hat durch Joseph Smith „die einzig wahre christliche Kirche auf Erden“ wiederentstehen lassen.
Zentraler Lehrinhalt des mormonischen Lehrsystems ist das „Gesetz des immerwährenden Fortschritts“: Alles entwickelt sich nach oben; auch Gott war nicht von Anfang an Gott, sondern ursprünglich ein unvollkommener sterblicher Mensch, der sich jedoch durch das Studium der kosmischen Gesetze zur Gottheit emporgearbeitet hat, ohne dabei jedoch seine menschliche Gestalt verändert zu haben. Er residiert nun auf einem Planeten namens Kolob in der Sternengruppe der „Kokaubeam“. Neben ihm gibt es noch zwei weitere Götter: Jesus und den Heiligen Geist. Doch in Zukunft wird es noch viel mehr Götter geben, denn, so verkündigte schon einer der ersten Präsidenten der LDS: „So wie der Mensch heute ist, war Gott einst; so wie Gott heute ist, kann der Mensch einst werden.“ Zur Lehre der Mormonen gehört auch der „Plan der Erlösung“, der drei „Zustände“ beinhaltet: Jeder Mensch existiert vor seinem irdischen Leben als Geistfunke in einer göttlichen Sphäre (erster Zustand); um den Entwicklungszustand ihres Erzeugers (Gott) zu erreichen, müssen die Menschen eine physisch-irdische Existenz absolvieren (zweiter Zustand). Um dies zu ermöglichen, war auch der Sündenfall Adams, der als Heilsereignis verstanden wird, notwendig Nach Tod und Auferstehung können die Menschen dann schließlich selber vergöttlicht werden (dritter Zustand). Voraussetzung dafür ist aber, dass sie auf Erden ein besonders rechtschaffenes Leben geführt und sich an Gottes Gesetze gehalten haben.
Eine Teilhabe an der obersten Stufe der himmlischen Herrlichkeit ist nur denen möglich, die zu Lebzeiten Mormonen waren und auf diese himmlische Herrlichkeit in einem der weltweit zurzeit 44 „Tempel“ in geheimen Handlungen vorbereitet wurden. Zu diesen geheimen Handlungen, über die Mormonen nicht in der Öffentlichkeit sprechen dürfen, gehört das „Endowment“, bei dem die Teilnehmer rituell gewaschen und gesalbt werden und dann ein heiliges Tempelgewand erhalten, eine Art Hemdhose mit freimaurerischen Symbolen auf der Vorderseite. Diese heilige Unterwäsche müssen Mormonen ihr Leben lang unter der normalen Kleidung tragen. Weiterhin gehören zur Zeremonie des Endowments geheime Belehrungen, darunter die Übergabe von vier „tokens“, aus dem Freimaurertum stammende Passworte, Zeichen und Handgriffe, mit denen sich die eingeweihten „Tempel-Mormonen“ nach ihrer Auferstehung am Eingang zur „Himmlischen Herrlichkeit“ gegenüber den dort Wache haltenden Engeln ausweisen müssen. Ebenfalls im Tempel finden Ehesiegelungen statt, in denen ein Ehepaar für Zeit und Ewigkeit aneinandergesiegelt wird – eine Voraussetzung zur Erlangung des vollen göttlichen Status in der himmlischen Herrlichkeit. Auch finden in den Tempeln Taufen für Tote statt, die zu ihren Lebzeiten noch nicht das Glück hatten, Mormonen sein zu können. Ihnen wird damit die Möglichkeit gegeben, noch im Jenseits sich für den Mormonismus entscheiden zu können. Um möglichst viele Menschen mit diesen Taufen für die Toten erreichen zu können, führen die LDS eine ausgedehnte Ahnenforschung durch; sie besitzen die größte genealogische Datenbank der Welt. Schließlich findet in den Tempeln auch die sogenannte „Zweite Salbung“ statt, in der ranghohe Funktionäre schon in ihrem irdischen Leben zu Göttern gesalbt werden.
Während Mormonen nur zu besonderen Anlässen zu den Tempeln  (hier in Deutschland gibt es zwei in Friedrichsdorf/Hessen und in Friedberg/Sach-sen) reisen, versammeln sie sich regelmäßig zu Gottesdiensten in ihren Gemeindezentren: Dort werden Kinder etwa ab dem 8. Lebensjahr getauft; dort wird das Abendmahl als Gedächtnismahl mit Brot und Wasser (der Genuss von Kaffee, Tee, Alkohol und Tabak ist Mormonen verboten) gefeiert und ein reges Gemeindeleben gepflegt, das die Bedeutung bürgerlich-konservati-ver Werte, vor allem auch des Familienlebens, herausstellt. So versammeln sich alle mormonischen Familien weltweit montags zu einem „Familienabend“ mit Singen, Spielen und Lesen der Heiligen Schriften der Mormonen.
Die Lehren der Mormonen sind in vielem so weit von den Lehren der christlichen Kirche entfernt, dass sie in der Fachliteratur mittlerweile nicht mehr als „traditionelle christliche Sekte“, sondern eher als eine Art von Neureligion gewertet werden. Entsprechend wird die bei den Mormonen vollzogene Taufe von den christlichen Kirchen auch nicht als gültige Taufe anerkannt, da der im Mormonentum verehrte Gott auf dem Planeten Kolob gewiss nicht mit dem dreieinigen Gott identisch ist. Mormonen halten an ihrem Glauben unerschütterlich fest, auch wenn z.B. vor einigen Jahrzehnten ein altägyptischer Text, den Joseph Smith mit seiner „Brille“ ebenfalls übersetzt zu haben glaubte, von Ägyptologen als Ausschnitt aus einem altägyptischen Totenbuch identifiziert wurde, während Joseph Smith aus diesem Text ein ganzes Buch „Abraham“ herauslas, das zu den heiligen Schriften der Mormonen zählt. Offenkundig nehmen Mormonen alle möglichen intellektuellen Absurditäten in ihrem Glauben in Kauf, weil ihre Religion die Bedürfnisse des Menschen nach einer optimistischen Religion, die Wert auf Gemeinschaft, Familienleben und eine gesunde Ernährung legt, befriedigt. Mit der Botschaft des christlichen Glaubens hat ihre Religion jedoch so gut wie nichts zu tun.