24.12.2010 | 2. Samuel 7,4-6.12-14a | Heilige Christnacht

Wenn ich hier in Berlin Menschen in ihren Wohnungen besuche, dann sehe ich dort nicht selten gleich im Eingangsbereich ein Amulett hängen, ein blaues Auge, das die Bewohner dort aufgehängt haben in der Hoffnung, dass dieses Amulett sie vor dem bösen Blick oder anderem Schadenszauber schützt. Wenn ich solch ein Amulett sehe, dann ist mir schnell klar: Die Leute, die hier wohnen, haben vom christlichen Glauben noch nicht sehr viel verstanden; ihr Leben und Denken ist offenkundig doch noch stark von heidnischen Vorstellungen bestimmt, die man in einer scheinbar aufgeklärten Großstadt wie Berlin doch eigentlich gar nicht mehr erwarten würde.

Doch in Wirklichkeit bringen diese Amulette eine ganz tief sitzende Sehnsucht von uns Menschen zum Ausdruck: Wir wollen einen Beschützergott haben, über den wir nach unserem Belieben verfügen können, den wir uns in die Wohnung holen können und der dort so funktioniert, wie wir dies gerne möchten. Einen Hausgott hätten wir gerne, der unser religiöses Empfinden stabilisiert und alles gut findet, was wir so tun, ja der vor allem immer gerade da ist, wo wir ihn gerne haben wollen: zunächst und vor allem zu Hause, damit wir ihn nicht erst noch woanders besuchen müssen; aber im Zweifelsfall beispielsweise eben auch im Wald, wo wir dann Spaziergang und Gottesdienst praktischerweise gleich miteinander verbinden können.

Im siebten Kapitel des 2. Samuelbuchs, aus dem wir eben einige Verse als Predigtlesung gehört haben, wird uns berichtet, wie der König David plant, sich den lieben Gott gleich in die unmittelbare Nachbarschaft, beinahe schon unter sein Dach zu holen. Die Bundeslade, der Kasten mit den Zehn Geboten, galt als Ort der Gegenwart Gottes, und diese Bundeslade, die stand im Augenblick noch ziemlich unbehaust herum. Das war eigentlich auch kein Wunder: Es war noch gar nicht so lange her gewesen, seit David die Stadt Jerusalem erobert und zu seiner Hauptstadt gemacht hatte. Da war es doch klar, dass er nun erst einmal einen schönen Palast für sich selber bauen musste. Damit war er nun fertig – und da fällt ihm nun ein, dass er den lieben Gott bei seinen ganzen schönen Bauplänen irgendwie vergessen hatte. Und das will er nun umgehend nachholen. Er will ihm auch ein Haus bauen, ganz in der Nähe, will seinem Königspalast damit noch einmal eine besondere Weihe geben dadurch, dass er den lieben Gott gleichsam als Untermieter nebenan bei sich aufnimmt. Ein Palast mit angebautem Tempel gleich um die Ecke – das gab der eigenen Herrschaft doch noch einmal eine ganz andere Stabilität!

Wir kennen das, wie gesagt, möglicherweise auch aus unserem eigenen Leben: Da sind wir in unserem Alltag erst einmal so mit uns selber beschäftigt, dass da für den lieben Gott erst einmal gar kein Platz mehr ist. Wir haben so viel zu tun; da muss er erst mal zusehen, wo er bleibt. Doch dann merken wir irgendwann, meist zu irgendwelchen besonderen Anlässen, dass es doch ganz schön und praktisch und stimmungsvoll ist, irgendwie den lieben Gott dann doch mal wieder mit an Bord zu nehmen – bei bestimmten Familienfeiern etwa oder eben auch zu Weihnachten. Gott als religiöses Hintergrundgeräusch oder als frommes Maskottchen – das kann doch nicht schaden, solange wir darüber bestimmen können, wo wir ihn haben wollen und was er für uns machen soll.

Die Geschichte hat nur einen Haken: Der wahre, lebendige Gott macht dabei nicht mit, lässt nicht so über sich verfügen. Ein blaues Auge kann man sich natürlich in seine Wohnung hängen – doch in Wirklichkeit bewirkt dieses Auge natürlich gar nichts, ist es unsinniger Aberglaube, der uns letztlich sogar sehr viel mehr schadet als nützt, weil er uns dazu verleitet, unser Herz an etwas zu hängen, was in Wahrheit doch gar nicht Gott ist. Über den lebendigen Gott hingegen kann ich nicht so bestimmen, der lässt sich von mir nicht einfach irgendwo hinhängen oder in eine Ecke meines Lebens packen. Durch den Propheten Nathan lässt Gott hier dem König David ausrichten, dass er gegenwärtig an einer Unterbringung in einem festen Haus gar nicht interessiert ist, erst recht nicht, wenn diese Unterbringung letztlich wesentlich nur den persönlichen Interessen Davids selber gilt. Gott lässt sich weder von David noch von uns als Maskottchen missbrauchen, weigert sich schlicht und einfach, bei seiner Umfunktionierung mitzumachen.

Stattdessen kehrt Gott hier nun den Spieß um: Nicht David soll ihm ein Haus bauen, sondern er will dem David ein Haus bauen, will über dessen Zukunft bestimmen – und dabei zugleich von sich aus den Ort bestimmen, wo er, Gott, sich künftig finden lassen will: in der Geschichte will er sich finden lassen, in der Geschichte, die für David damals noch Zukunft war und auf die wir heute 3000 Jahre später bereits als Vergangenheit zurückblicken:

Einen Nachkommen will Gott dem David erwecken, der später einmal Gott ein Haus bauen soll – ja, mehr noch: der mit ihm, Gott, so eng verbunden sein wird, dass er an Gottes Ewigkeit Anteil haben wird, dass er von Gott als sein Sohn anerkannt sein wird.

Wenn wir in dieser Nacht die Geburt des einen Nachkommen Davids in der Davidsstadt Bethlehem feiern, dann tun wir gut daran, zu bedenken, dass diese Geburt des einen Nachkommen Davids im Stall von Bethlehem auch ein Protest Gottes ist gegen all unsere menschlichen Versuche, ihn dort unterzubringen, wo wir ihn gerne hätten. Gott lässt sich nicht bei uns im Wohnzimmer beim gemütlichen Frühstück am Sonntagmorgen finden; er lässt sich nicht finden in unseren Gedanken, die wir uns über ihn machen mögen. Sondern er lässt sich finden in einem kleinen Baby in einem stinkenden Futtertrog, in einem Stall, zu dem sich sowohl die Hirten als auch die Weisen aus dem Morgenland auf den Weg machen mussten, um ihn zu finden und ihn anzubeten.

Doch der Weg zu dem Kind in der Krippe lohnt sich: Denn dieses kleine Baby ist in Wirklichkeit nicht weniger als der neue Tempel Gottes selber, der Ort, an dem und in dem Gott wohnt, der Ort, den Gott selber als seine Wohnung ausgesucht hat. Und damit macht dieses Kind in der Krippe zugleich jeden Ort, wo es sich finden lässt, zu einem Tempel, ja zunächst einmal und als erstes einen Schafstall, wo der erste christliche Gottesdienst stattfindet, wo Menschen vor dem Mensch gewordenen Gott auf die Knie sinken und ihn anbeten – ihn, der nicht bloß den Titel „Sohn Gottes“ trägt, sondern von Ewigkeit her wahrhaftig Gottes Sohn und damit Gott selber ist.

Dieser Christus ist kein Talisman. Er schützt dich auch an einer Silberkette um deinen Hals hängend nicht vor Krankheiten und Unglücksfällen. Aber er verspricht dir in Wirklichkeit viel mehr: Er verspricht dir, auch dich teilhaben zu lassen an seinem ewigen Reich, das nie mehr enden wird. Er verspricht dir, dass dein Leben nicht in der Nacht des ewigen Todes endet, sondern im hellen Glanz des ewigen Morgens Gottes. Er verspricht dir, dich dorthin zu bringen, wo auch du einmal staunend ausrufen wirst: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen!

Noch bist du nicht an diesem Ziel; und noch erwartet Gott, dass du seinen Sohn dort aufsuchst, wo er sich finden lässt, wie damals die Hirten und die Weisen aus dem Morgenland auch: Nein, nicht automatisch bei dir in der Wohnung, sondern dort, wo er sich zu erkennen gibt wie damals in Bethlehem auch: in der Krippe des Altars, eingewickelt in die Windeln von Brot und Wein im Heiligen Mahl. Dahin ruft er dich, da sollst und darfst du auf die Knie sinken und ihn anbeten, ihn, den Gott damals schon dem David vor so langer Zeit angekündigt hatte.

Hätten wir diese Kirche mit dem Zweck gebaut, um Gott darin gleichsam einzufangen und einzusperren und ihn für unsere Interessen dienstbar zu machen, dann wäre auch dieses Gebäude nur ein Ausdruck menschlicher Selbstanmaßung. Doch es verhält sich mit dieser Kirche genau umgekehrt: Weil Christus selber hier auf dem Altar bei uns Einzug hält, darum wird nun auch diese Kirche zum Haus Gottes, das Gott selber sich erwählt, weil er seine Gegenwart in der Feier des Heiligen Mahls an Brot und Wein selber gebunden hat. Haus Gottes ist von daher tatsächlich diese Kirche, weil damals Gott als kleines Kind leibhaftig in diese Welt gekommen ist. Und Haus Gottes kann tatsächlich auch dein Wohn- oder dein Schlafzimmer werden, wenn du es nicht mehr hierher zur Kirche schaffst und wenn dann der Pastor zu dir kommt und bei dir zu Hause das Heilige Mahl mit dir feiert. Es kommt nicht auf die Größe des Gebäudes an. Entscheidend ist nur eins: Dass er da ist, Christus, der verheißene Nachkomme Davids, der doch selber das Versprechen gegeben hat, immer wieder von Neuem bei uns gegenwärtig zu sein, wenn wir das Mahl feiern, das er gestiftet hat.

Solltest du bei dir in der Wohnung noch irgendwo irgendwelche Glücksbringer oder Amulette hängen haben – dann hänge sie ab, noch heute Nacht, wenn du nach Hause kommst. Du brauchst sie nicht, im Gegenteil: Was brauchst du noch zu fürchten, wenn Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, in der Kraft des Heiligen Mahles selber in dir wohnt, dich selber zu einem Tempel Gottes macht? Dann hast du alles, was du brauchst, dann ist an dir unendlich mehr geschehen, als der David damals auch nur in seinen kühnsten Träumen ahnen konnte. Du brauchst nicht zu versuchen, über Gott zu verfügen. Überlasse ihm ganz die Herrschaft über dein Leben. Du bist doch schon sein Eigentum seit deiner Taufe. Und dass Gott sein Wort hält, das bestaunen wir wieder neu in dieser Nacht, in der sich erfüllte, was der Prophet Nathan einst dem David angekündigt hatte. Verlass dich darum auf Gottes Wort, folge seiner Einladung zu dem Treffpunkt, den er festsetzt, hier an seinem Altar. Gott will dir hier ein ewiges Zuhause schenken. Amen.