31.10.2010 | Römer 3,21-28 | Gedenktag der Reformation

Damit hätte Jörg Kachelmann vor einem Jahr auch noch nicht gerechnet, dass er im Oktober dieses Jahres als Angeklagter vor einem Gericht sitzen würde, dass selbst intimste Details aus seinem Leben in der Öffentlichkeit breit ausdiskutiert werden würden. Ist er nun schuldig oder nicht? Ich weiß es auch nicht, maße mir darüber kein Urteil an. Theoretisch gibt es ja vier Möglichkeiten: Erste Möglichkeit: Jörg Kachelmann ist schuldig und wird entsprechend verurteilt. Zweite Möglichkeit: Jörg Kachelmann ist unschuldig und wird entsprechend freigesprochen. Dritte Möglichkeit: Jörg Kachelmann ist schuldig, schafft es aber durch die geschickte Strategie seiner Verteidigung, dennoch freigesprochen zu werden. Und vierte Möglichkeit: Jörg Kachelmann ist unschuldig, wird aber von seiner Ex-Freundin reingerissen und am Ende für etwas verurteilt, was er gar nicht getan hat.

Du wirst auch einmal als Angeklagter vor Gericht stehen und dich für das verantworten müssen, was du in deinem Leben gemacht hast. Das steht jetzt schon hundertprozentig fest; da kannst du dir ab heute noch so viel Mühe geben in deinem Leben, wie du willst, da kannst du dir noch so gute Verteidigungsstrategien ausdenken: Dein Leben wird einmal durchleuchtet werden bis in den letzten Winkel; da wird nichts, aber auch gar nichts verborgen bleiben. Nein, in deinem Fall wird der Richter keine Gutachter brauchen, die ihm ihre Meinung über dich mitteilen. Der Richter selber weiß es längst vorher schon ganz genau, was da los ist in deinem Leben. Der Maßstab, mit dem er dich einmal beurteilen wird, ist dir jetzt schon bekannt; da hast du mit keiner Überraschung zu rechnen: Er wird dich fragen, ob es in deinem Leben etwas gegeben hat, was dir wichtiger war als Gott. Er wird dich fragen, ob du dich in deinem Leben allein auf Gott verlassen hast oder doch lieber auf etwas anderes. Er wird dich fragen, ob du Gottes Namen gedankenlos gebraucht hast. Er wird dich fragen, wie du mit Gottes Einladung zum Gottesdienst umgegangen bist, was dir am Sonntag am wichtigsten gewesen ist. Er wird dich fragen, ob du deine Eltern geehrt hast, ob du es deinen Kindern leicht gemacht hast, dir zu gehorchen. Er wird dich fragen, ob du in deinem Herzen gegen andere Menschen Hass gehegt oder sie mit Worten oder gar Taten verletzt hast. Er wird dich fragen, ob du die Ehe als Gottes gute Ordnung geachtet hast, ob du deinem Ehepartner in Gedanken, Worten und Taten treu geblieben bist, ob du gemeint hast, in der Beziehung zu deinem Partner auf Gottes Ordnung verzichten zu können. Er wird dich fragen, ob du im Umgang mit Geld und Besitz immer ehrlich gewesen bist. Er wird dich fragen, ob du hinter dem Rücken anderer Menschen schlecht über sie geredet und Gerüchte über andere weitergetragen hast. Er wird dich fragen, ob du neidisch gewesen bist und ob du ihm, Gott, immer für alles Gute gedankt hast, das er dir gegeben hat. Und wenn er dir diese Fragen gestellt hat und manch andere noch dazu, dann wird auch für dich selber ganz klar sein, dass es in deinem Gerichtsverfahren am Ende nicht vier Möglichkeiten des Ausgangs gibt, sondern nur eine. Ausgeschlossen ist es, dass du nach diesen Fragen noch allen Ernstes behaupten kannst, du seist unschuldig, und entsprechend auf einen Freispruch hoffen kannst. Ausgeschlossen ist es erst recht, dass du unschuldig sein könntest und der Richter dich trotzdem zu Unrecht schuldig sprechen könnte. Und du darfst auch nicht auf die Variante Nummer 3 hoffen, dass du zwar schuldig bist, aber der Richter das irgendwie doch nicht so ganz mitbekommt und du am Ende doch per Zufall freigesprochen wirst. Das ist kein menschlicher Richter, vor dem du da antrittst: Der Richter ist kein Geringerer als Gott selbst, der dir das Leben geschenkt hat und der eben darum alles Recht der Welt hat, dich zu fragen, was du mit diesem Leben gemacht hast, ob du es so gelebt hast, wie er es von dir erwarten konnte. Nein, nur ein Ausgang ist angesichts der Sachlage, die ich gerade geschildert habe, denkbar: Du bist schuldig, und du wirst verurteilt. Und das gilt nicht nur für dich, das gilt genauso für mich, das gilt genauso für den Nachbarn, der neben dir in der Kirchenbank sitzt, das gilt ohne Ausnahme für jeden Menschen. Alle werden wir einmal vor Gott stehen, werden von ihm nach unserem Leben gefragt werden, und alle werden wir gestehen müssen, dass wir schuldig sind.

Und das wird dann eben nicht bloß irgendwie peinlich oder unangenehm für uns sein. Wenn Jörg Kachelmann seinen Prozess verliert, dann wird er wohl für einige Jahre in den Knast wandern. Das wird für ihn nicht schön sein, das wird sein Lebenswerk vermutlich ruinieren. Aber irgendwann wird er dann auch mal wieder aus dem Knast rauskommen und sein Leben doch irgendwie weiterführen können. Wenn du in deinem Prozess einmal verurteilt werden wirst, wenn ich einmal in diesem Prozess verurteilt werde, dann haben wir keinerlei Lebensperspektive mehr, keine Möglichkeit mehr, uns zu bessern oder etwas wiedergutzumachen. Dann haben wir unser Leben endgültig verfehlt und kommen aus der Geschichte auch nicht mehr raus.

Die gesamte Menschheit – verurteilt zum ewigen Tod. Genau das ist die ganz realistische Perspektive, die sich für uns eröffnen würde, wenn alles nach Gottes Gesetz laufen würde, so macht es uns der Apostel Paulus in der Epistel des heutigen Gedenktags der Reformation deutlich, oder, mit seinen Worten: „Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten.“ Nein, Sünder zu sein ist dem Apostel Paulus zufolge kein Kavaliersdelikt und eignet sich nicht als Thema für einen Karnevalsschlager. Und erst recht ist das bei Gott, dem Richter der Welt, keine Entschuldigung, die ihn irgendwie milde stimmen könnte: Nobody is perfect; wir sind nun mal alles Sünder, nun hab dich mal nicht so und hol uns trotzdem in den Himmel!

Nein, Gott ist zu keinem Kuhhandel hinter den Kulissen bereit; er will sich auch auf keine Quotenregelung einlassen, dass wenigstens die vergleichsweise besten 20% am Ende doch noch freigesprochen werden und in den Himmel dürfen. Gott, der Richter, geht mit seinen Forderungen, mit seinen Erwartungen an uns nicht herunter. Sein Wille ist nicht verhandelbar.
Doch nun schildert uns der Apostel Paulus hier in unserer Epistel nicht weniger als eine absolute Sensation: Der Richter selber startet eine Rettungsaktion, um die Angeklagten, um auch dich und mich vor der Verurteilung zu retten. Der Richter bekommt das einfach nicht fertig, die gesamte Menschheit in die Hölle zu schicken, die Menschen in alle Ewigkeit getrennt von ihm weiterexistieren zu lassen. Nein, der Richter lässt sich nicht davon beeindrucken, dass wir ja letztlich vielleicht doch ganz gute und anständige Menschen sind und in unserem Leben vielleicht schon so mancher älteren Dame über die Straße geholfen haben. Er fängt auch nicht an, das, was wir getan haben, zu verharmlosen; er drückt nicht einfach beide Augen zu. Sondern er hat seine Rettungsaktion jetzt schon gestartet, längst bevor du einmal vor ihm wirst antreten müssen, damit er über dich und dein Leben am Ende eben nicht das Todesurteil zu sprechen braucht, damit dein Leben nicht in der endgültigen Trennung von ihm endet.

Mit vollem Einsatz hat er, der Richter, sich für dich und für alle Menschen engagiert. Er hat nicht bloß einen Erzieher zu uns geschickt, der versucht, uns doch noch zu anständigen Menschen zu machen. Die Mission könnte nur schiefgehen und scheitern. Sondern er hat keinen Geringeren als seinen eigenen Sohn zu uns geschickt, nicht als Propheten, nicht als Weisheitslehrer, sondern nur mit dem einen Auftrag: Dass er die Strafe auf sich nimmt und trägt, die wir verdient haben, dass er das Todesurteil erleidet, damit wir freigesprochen werden. Die Strafe für deine Gleichgültigkeit gegenüber Gott, gegenüber seiner Einladung – sie trifft ihn, den Sohn Gottes, am Kreuz. Deine Lieblosigkeit gegenüber deinen Eltern, deinen Geschwistern, deinen Kindern, deinen Nachbarn, deinen Kollegen – sie lässt ihn, Christus, am Kreuz bluten. Er, der eine Unschuldige, stirbt am Kreuz, damit du die Konsequenzen für dein Versagen gegenüber Gottes Geboten nicht tragen musst. Alles, wirklich alles nimmt Christus auf sich, damit wir Menschen für immer in der Gemeinschaft mit Gott leben können. Genau das nennt der Apostel Paulus hier in unserer Epistel „Gerechtigkeit“. „Gerechtigkeit“ bedeutet in der Bibel also gerade nicht, dass jeder bekommt, was ihm zusteht. Würde Gott in diesem Sinne gerecht handeln, dann bliebe dir, dann bliebe mir, dann bliebe uns allen am Ende unseres Lebens tatsächlich nur die Hölle. Doch in der Bibel meint „Gerechtigkeit“ etwas Anderes: Das Wort meint Gottes große Rettungsaktion, mit der er die von ihm getrennten Menschen wieder zu sich zurückholt, es meint das unfassliche Geschehen, dass ein Richter seinen Sohn sterben lässt, um Angeklagte davor zu bewahren, zum Tode verurteilt zu werden.

Und jetzt spricht der Richter dich an, jawohl, jetzt, in dieser Minute. Der wartet nicht darauf, erst ganz am Ende im Gerichtsprozess mit dir zu reden. Sondern der redet jetzt zu dir und sagt es zu dir ganz eindringlich: Was ich dir jetzt zu sagen habe, ist die wichtigste Nachricht deines Lebens: Denke daran, dass du dich einmal vor mir mit deinem Leben verantworten musst. Sei doch ja nicht so blöd und verdränge das aus deinem Leben! Sei doch ja nicht so blöd zu denken, mit dem Tod sei alles aus, da käme nichts mehr danach. O doch, da kommt was, da fällt nicht weniger als die letzte Entscheidung über dein Leben. Mensch, nimm das bloß ernst, kapiere doch endlich, dass dies die entscheidende Frage deines Lebens ist, wie du in diesem letzten Gericht einmal bestehen wirst! Nein, die entscheidende Frage deines Lebens ist nicht, wie viel Geld du in deinem Leben verdienst. Die entscheidende Frage deines Lebens ist nicht, was andere Menschen über dich denken. Die entscheidende Frage deines Lebens ist auch nicht, ob du dich gut fühlst. Sondern die entscheidende Frage ist einzig und allein, was dich einmal in meinem letzten Gericht vor der Verurteilung retten kann und wird. Und dann komm mir ja nicht auf die Idee, mir mit deinen guten Werken, mit deinem anständigen Leben anzukommen! Wenn das deine Verteidigungsstrategie für deinen Auftritt vor meinem Gericht ist, hast du verloren. Ich lasse mich nicht von dir damit beeindrucken, dass du vielleicht netter oder anständiger bist als andere Menschen. Ich lasse mich nicht von dir damit beeindrucken, dass du bei deinen Freunden und in deiner Familie immer beliebt warst. Mit all dem kannst du dein Versagen gegenüber meinen Geboten nicht rückgängig und auch nicht wiedergutmachen. Und es wäre vor allem völlig überflüssig, wenn du dich auf solch eine Verteidigungsstrategie einlassen würdest. Du hast doch längst das entscheidende Argument für deinen Freispruch vorliegen: Du kannst für all dein Versagen gegenüber meinen Geboten nicht mehr bestraft werden, weil doch mein Sohn Jesus Christus diese Strafe schon längst bezahlt hat – und eine doppelte Bestrafung für dieselben Vergehen ist nicht erlaubt. Halte dich darum nur an meinen Sohn. Der hat sich dir doch schon in deiner Taufe als Verteidiger zur Verfügung gestellt. Schicke ihn darum bloß nicht in deinem Leben in die Wüste, glaube doch ja nicht, du würdest in deinem Leben ohne ihn auskommen! Verlass dich auf ihn, dass der dich einmal rauspauken wird in meinem letzten Gericht, ja mehr noch: Ich werde ihn, meinen Sohn, einmal das Urteil über dein Leben sprechen lassen. Dein Verteidiger wird einmal dein Richter sein, kannst du dir etwas Besseres vorstellen?

Nein, mein Sohn wird in diesem letzten Gericht nicht schummeln. Der wird nichts sagen und machen, was gar nicht stimmt. Der wird einmal über dich urteilen: An diesem Menschen gibt es nicht das Geringste auszusetzen, der ist genau so, wie Gott ihn haben möchte. Denn alles, was ihn von Gott trennen könnte, das habe ich von ihm weggenommen durch mein Wort der Vergebung. Ja, für den habe ich auch am Kreuz gehangen. Ja, damit nicht genug: Mit dem habe ich mich zusammengetan, mich so eng mit ihm verbunden, dass alles, was mir gehört, auch ihm gehört: Meine Unschuld ist auch seine Unschuld, mein Leben ist auch sein Leben. Ja, genau das ist immer wieder passiert, wenn dieser Mensch zum Heiligen Abendmahl gekommen ist, wenn er mit mir eins geworden ist. Ja, das wird Christus einmal auch über dich sagen. Und da wäre es in der Tat Wahnsinn, wenn du dich in deinem Leben noch auf irgendetwas Anderes verlassen würdest als auf ihn, deinen Verteidiger Jesus Christus, allein, wenn du seine Einladung, dich von ihm beschenken zu lassen, ausschlagen würdest. Alles, wirklich alles hat Christus für dich getan, damit du freigesprochen wirst, damit du einmal für immer bei Gott leben kannst. Du brauchst dem nichts, aber auch gar nichts mehr hinzuzufügen. Freu dich einfach drüber, atme auf, weil du ihn, Christus, hast, weil er sich mit dir verbindet im Heiligen Mahl. Eben das meint Paulus, wenn er sagt: Auch du wirst einmal in Gottes Gericht freigesprochen werden – allein durch den Glauben. Amen.