07.11.2010 | Römer 14,7-9 | Drittletzer Sonntag des Kirchenjahres

Sie kam einfach nicht darüber hinweg, dass ihre geliebte Mutter nach langer Krankheit schließlich gestorben war. So lange hatte sie sie gepflegt – und nun sollte die Mutter einfach nicht mehr da sein? Nein, das konnte und wollte sie einfach nicht wahrhaben, und so ging sie schließlich zu einer Wahrsagerin, bat sie, mit der verstorbenen Mutter Kontakt aufzunehmen. Genau dies versprach die Wahrsagerin auch der trauernden Tochter – natürlich gegen ein angemessenes Honorar. Und siehe da, bald darauf meldete sich die verstorbene Mutter bei der Wahrsagerin, ließ der Tochter ausrichten, dass es ihr gut gehe, dass sie sich ihretwegen keine Sorgen machen müsste. Getröstet und erleichtert kehrte die Tochter daraufhin von der Wahrsagerin nach Hause zurück.
Solche Geschichten, Schwestern und Brüder, spielen sich Tag für Tag in unserem Land hundertfach ganz real ab: Menschen kommen mit dem Tod eines geliebten Menschen nicht klar, versuchen, mit ihm auf irgendeine Weise Kontakt aufzunehmen, nehmen die Dienste von Medien und Wahrsagern in Anspruch und hoffen, dadurch die durch den Tod abgerissene Verbindung wiederherstellen zu können. Erstaunlich leichtgläubig sind diese Menschen dann oft genug, sind oft genug auch bereit dazu, ein Heidengeld für solche Kontaktaufnahmen auszugeben. Ob es wirklich die verstorbene Mutter ist, die sich da bei der Wahrsagerin, bei dem Medium meldet, wage ich, offen gesagt, stark zu bezweifeln. In aller Regel wird den Kontaktsuchenden nur das vorgegaukelt, was sie gerne hören wollen. Das wäre dann vergleichsweise noch die harmlose Variante. Doch wenn die Heilige Schrift denen, die zu Gott gehören, so eindringlich verbietet, den Dienst von Wahrsagern in Anspruch zu nehmen, dann tut sie dies, weil sie weiß, dass solche Kontaktaufnahmen nicht immer nur harmlos sind, dass wir uns damit auch für Mächte öffnen, die es darauf abgesehen haben, uns von Gott, uns vom Glauben an den auferstandenen Christus wegzuziehen.
In der Predigtlesung des heutigen Sonntags befasst sich der Apostel Paulus auch mit der Frage, was denn nun mit denen ist, die gestorben sind, was man über sie und ihr Schicksal eigentlich sagen kann. Doch er greift diese Frage noch sehr viel grundlegender an. Er sagt: Es gibt für dich eine Frage, die auf jeden Fall noch wichtiger ist als die Frage, was mit deinen verstorbenen Angehörigen denn nun los ist. Und diese Frage lautet: Wie wird es dir, jawohl dir einmal nach deinem Tod ergehen, was für ein Schicksal erwartet eigentlich dich? Ja, das ist eine Frage, die dich nicht nur interessieren, sondern wirklich bewegen sollte, ganz gleich, wie alt du bist, ganz gleich, wie dein Gesundheitszustand im Augenblick ist. Denn die Frage danach, wie es dir, wie es mir einmal nach dem Tode ergehen wird, ist eben nicht bloß eine neugierige Frage. Es geht nicht darum, ob wir vielleicht schon etwas mitbekommen von einem natürlichen Prozess, der sich im Prinzip bei jedem Menschen nach seinem Lebensende abspielt. Nein, wir landen eben nicht automatisch nach unserem Tod in einem schönen und beglückenden Jenseits, von dem aus wir dann über ein paar Umwege schöne Urlaubsgrüße an die zurückgebliebene Verwandtschaft senden können. So harmlos ist das alles nicht mit dem Leben nach dem Tod, wie uns das manche Wahrsagerinnen vorspielen.
Von „uns“ ist da in unserer heutigen Predigtlesung die Rede. Und wenn der Apostel hier von „uns“ spricht, dann meint er nicht uns Menschen im Allgemeinen, sondern er redet ganz konkret von den Christen, von denen, die durch die Taufe zu Christus gehören und mit ihm verbunden sind – und damit redet er eben nun auch ganz konkret von dir und von mir.
Was gilt für diejenigen, die getauft und mit Christus verbunden sind? Für die gilt zunächst einmal: Sie leben nicht sich selber. Was ist damit gemeint? Damit ist gemeint, dass wir als Christen mit unserem Leben immer wieder ganz schön gegen den Strom schwimmen. Denn genau darum geht es den meisten Menschen heutzutage erst einmal, dass sie sich selber leben wollen: Ich will Spaß im Leben haben, ich will mich selber verwirklichen, ich will mir von keinem vorschreiben lassen, wie ich zu leben habe. Das klingt erst mal sehr einleuchtend und sehr attraktiv; wer sollte dagegen schon etwas einzuwenden haben? Doch so einfach, wie das klingt, ist die ganze Geschichte in Wirklichkeit nicht. Diejenigen, die glauben, selber völlig frei zu sein, sind es in Wirklichkeit eben doch nicht. Sie sind in Wirklichkeit eben doch Getriebene, Menschen, die getrieben sind von der Angst, etwas zu verpassen, nicht genügend mitzubekommen, Menschen, die, ob sie es sich bewusst machen oder nicht, getrieben sind von der Aussicht, dass ihre Lebenszeit begrenzt ist, und die darum möglichst viel mitnehmen wollen in der Zeit, die ihnen noch bleibt. Das klappt längst nicht immer so, wie man sich das wünscht, und dann haben diese Menschen, haben vielleicht mitunter auch wir den Eindruck, als ob uns das Leben allmählich unter unseren Händen zerrinnt, als ob Chancen und Gelegenheiten im Leben unwiederbringlich vorbeigehen. Und selbst wenn wir den Eindruck haben, es würde uns gelingen, uns in unserem Leben selber so zu verwirklichen, wie wir uns das wünschen und vorstellen, bleibt es doch dabei, dass wir selbst dann nicht freie Menschen sind. Unsere Lebensperspektive bleibt auch in diesem Fall begrenzt, lässt sich von uns nicht nach unseren eigenen Wünschen erweitern. Und am Ende unseres Lebens verengt sich diese Perspektive dann schließlich so sehr, dass wir den letzten Weg in unserem Sterben doch ganz allein gehen müssen, dass wir da niemand mitnehmen können, selbst wenn wir, was natürlich zu hoffen und zu wünschen ist, in unseren letzten Stunden Menschen an unserer Seite haben, die uns begleiten. Sterben muss jeder selber, das können wir niemanden stellvertretend für uns tun lassen, davon können wir uns auch nicht irgendwie freikaufen, dafür gibt es auch keine Alternativlösung. All unsere Träume von menschlicher Freiheit, sie kommen hier an ihr Ende.
Und auf diesem Hintergrund können wir nun überhaupt erst anfangen zu verstehen, was der Apostel Paulus hier an die Christen in Rom schreibt: Unser keiner lebt sich selber, schreibt er. Wir Christen sind nicht so naiv, dass wir allen Ernstes glauben, wir seien dadurch freie Menschen, dass wir niemanden in unserem Leben haben, der unser Leben bestimmt. Im Gegenteil, so zeigt es uns der Apostel: Wir werden gerade dadurch freie Menschen, dass wir einen anderen haben, der der Herr über unser Leben ist, an dem wir unser Leben ausrichten, ja, für den wir leben. Denn Christus, unser Herr, der versaut uns gerade nicht unser Leben, der nimmt uns gerade nicht die Freiheit, sondern schenkt sie uns. Wer an Christus glaubt, der braucht keine Angst mehr zu haben, das Wichtigste im Leben zu verpassen, nicht genügend mitzubekommen. Wenn wir in seiner Gemeinschaft leben, dann merken wir, dass wir nicht dadurch frei werden, dass wir uns selber verwirklichen, dass wir immer nur um uns, um die Erfüllung unserer Wünsche kreisen. Wenn wir in der Gemeinschaft mit Christus leben, dann erfahren wir, wie wir dadurch frei werden, dass uns Schuld, die wir in der Vergangenheit auf uns geladen haben, nicht mehr zu belasten braucht. Wenn wir in der Gemeinschaft mit Christus leben, dann erfahren wir, wie uns das frei macht, wenn wir nicht immer nur um uns selber kreisen. Dann erfahren wir, wie uns das frei macht, uns nicht immer an dem orientieren zu müssen, was alle anderen denken und tun. Dann erfahren wir, wie uns das frei macht, den Tod nicht mehr als letzte Grenze wahrnehmen zu müssen, an der unser Leben letztlich endet und scheitert, ja, die all unsere Pläne und Hoffnungen letztlich zunichte macht.
Unglaublich ist das, was der Apostel Paulus hier behauptet: Er schreibt: Keiner von uns stirbt sich selber. Als Christ gehe ich auch und gerade den letzten Weg meines Lebens nicht allein. Keinen Menschen kann ich auf meinem letzten Weg in den Tod mitnehmen. Aber Christus, der lässt mich eben auch in der letzten Einsamkeit des Todes nicht fallen; der bleibt an meiner Seite, der hält mich fest. Er ist diesen Weg doch schon vor mir gegangen und hat gerade so die Macht, die der Tod über uns Menschen hatte, gebrochen. Ja, wenn wir einmal auf unserem Sterbebett liegen, da werden wir es noch einmal neu erfahren, was doch auch jetzt schon für unser Leben gilt: Wir haben es als Christen unglaublich gut, weil wir einen Herrn haben, auf den unser Leben ausgerichtet ist und der uns seinerseits hält und trägt, uns Orientierung schenkt, die uns kein Mensch sonst geben könnte.
Ja, dass wir Christus als den Herrn unseres Lebens haben, dass er unser Leben bestimmt, dass er auch das Ziel unseres Lebens ist, das hat eine geradezu unfassliche Konsequenz, so formuliert es der Apostel hier: „Leben wir, so leben wir dem Herrn. Sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: Wir leben oder wir sterben – so sind wir des Herrn.“ Das heißt ja nicht weniger als dies: Im Letzten und Tiefsten macht es für uns keinen Unterschied, ob wir hier auf Erden leben oder ob wir schon gestorben sind. Ja, natürlich soll uns das nicht völlig egal sein, ob wir leben oder sterben. Wir brauchen als Christen nicht irgendwo in der Ecke zu sitzen und frustriert darauf warten, wann wir denn nun endlich mal sterben dürfen. Im Gegenteil: Gerade wir Christen dürfen unser Leben hier auf Erden auch ganz fröhlich genießen, eben weil wir frei sind von der Angst, dass der Tod all unsere Lebensperspektiven zunichte macht. Ganz gelassen dürfen wir als Christen leben in der Gewissheit: Das Wichtigste kann mir niemand nehmen – nämlich dies, dass ich zu Christus gehöre, dass ich mit ihm verbunden bin. Daran wird sich in der Tat auch durch meinen Tod nichts ändern. Jede Teilnahme am Gottesdienst, jede Teilnahme am Heiligen Abendmahl ist von daher eine Vorbereitung auf unser Sterben, macht uns wieder von Neuem fest in der Gemeinschaft mit Christus, lässt uns wieder von Neuem erfahren, dass der Tod für die seinen Schrecken verloren hat, in denen der lebendige Christus leibhaftig lebt. Genau das gibt aber auch jeder Teilnahme am Gottesdienst einen tiefen Ernst. Keiner von uns weiß eben, wie lang er noch lebt, keiner kann sagen, wie nahe er schon an das Ende seines irdischen Lebens herangerückt ist. Und von daher tun wir gut daran, die Verbindung mit Christus ja nicht abreißen zu lassen, unser Leben immer wieder neu an ihm auszurichten. Dann wird sich in unserer Todesstunde in der Tat nichts Wesentliches bei uns ändern. Wir bleiben Glieder am Leib Christi, wir bleiben Glieder der Kirche, wir leben mit Christus, weil er lebt, weil er den Tod besiegt hat, weil er dafür gesorgt hat, dass für uns Christen der Tod nicht nach dem Leben, sondern vor dem Leben kommt.
Wie wird es dir also einmal nach deinem Tod ergehen? Nein, du wirst nicht verschwinden in ewiger Finsternis, du wirst nicht einfach bloß im Gedächtnis deiner Lieben weiterleben, du wirst auch nicht als Stern am nächtlichen Himmel weiterexistieren. Sondern du wirst den selber sehen dürfen, zu dem du jetzt schon gehörst, dem du jetzt schon immer wieder begegnest. Nein, diese Begegnung wird für dich keine große Überraschung sein. Du gehörst diesem Herrn doch jetzt schon, in dessen Gegenwart du einmal ewig leben, dich ewig freuen wirst. Ja, du wirst auch nach deinem Tod „des Herrn“ sein.
Und das reicht. Mehr Informationen über das, was nach dem Tod sein wird, brauchen wir nicht. Wir brauchen keine menschlichen Phantasievorstellungen über das Leben nach dem Tod, mit gebratenen Tauben, die einem in den Mund fliegen oder mit irgendwelchen hübschen Jungfrauen, die zumindest den männlichen Teil der Verstorbenen nach ihrem Tod beglücken. Hauptsache, wir wissen, dass wir bei Christus sind, dass er unser Herr bleibt, dass wir darum mit ihm leben werden. Das gilt für uns selber, und das gilt auch für unsere in Christus Verstorbenen. Als Christen haben wir es wirklich nicht nötig, zu versuchen, mit ihnen irgendwelchen Kontakt aufzunehmen, um uns zu vergewissern, dass es ihnen auch wirklich gut geht. Besser als bei Christus können sie es doch gar nicht haben; da kann man höchstens ein wenig neidisch werden, wenn man daran denkt, wie gut sie es haben. Und sie sind in der Tat auch nicht weit weg von uns. Der Himmel, in dem sie sich befinden, liegt doch nicht irgendwo in einer Ecke des Universums ein Stück hinter unserer Milchstraße. Er ist doch Gottes Dimension, dichter an uns dran, als wir es auch nur erahnen können. Wenn du etwas mit den Menschen, die dir im Tod vorangegangen sind, gemeinsam machen willst, dann komm hierher zum Gottesdienst. Da sind sie mit dabei – nein, nicht weil wir hier eine spiritistische Sitzung abhalten würden, sondern weil hier der Himmel auf die Erde kommt, weil wir hier mit einstimmen in den Lobgesang aller Heiligen und Vollendeten vor dem Thron Gottes, ja, weil der Tisch des Heiligen Mahles durch die Wand des Todes hindurchreicht bis ins Festmahl im Reich Gottes hinein. Ja, der Apostel macht es uns ganz deutlich: Für unsere Teilnahme am Gottesdienst macht es keinen Unterschied, ob wir leben oder ob wir schon tot sind. Mitfeiern können und sollen wir so oder so. Diejenigen, die uns schon im Glauben vorangegangen sind, die haben allerdings einen Vorteil: Die werden nie mehr auf die Idee kommen, auch nur einen Gottesdienst zu schwänzen, die dürfen jetzt schon mit eigenen Augen sehen, was uns hier noch verborgen bleibt: Dass es keine wichtigere Vorbereitung auf unser Lebensende geben kann, als eben diese, mit Christus verbunden zu werden und zu bleiben. Ja, das wünsche ich euch, dass man das auch einmal an eurem Sarg wird sagen können: Für diesen Menschen hat sich durch seinen Tod nichts Entscheidendes geändert. Denn – wir leben oder wir sterben: So sind wir des Herrn. Amen.