22.08.2010 | Apostelgeschichte 9, 1-20 (12. Sonntag nach Trinitatis)

12. SONNTAG NACH TRINITATIS – 22. AUGUST 2010 – PREDIGT ÜBER APOSTELGESCHICHTE 9,1-20

Saulus aber schnaubte noch mit Drohen und Morden gegen die Jünger des Herrn und ging zum Hohenpriester und bat ihn um Briefe nach Damaskus an die Synagogen, damit er Anhänger des neuen Weges, Männer und Frauen, wenn er sie dort fände, gefesselt nach Jerusalem führe. Als er aber auf dem Wege war und in die Nähe von Damaskus kam, umleuchtete ihn plötzlich ein Licht vom Himmel; und er fiel auf die Erde und hörte eine Stimme, die sprach zu ihm: Saul, Saul, was verfolgst du mich? Er aber sprach: Herr, wer bist du? Der sprach: Ich bin Jesus, den du verfolgst. Steh auf und geh in die Stadt; da wird man dir sagen, was du tun sollst. Die Männer aber, die seine Gefährten waren, standen sprachlos da; denn sie hörten zwar die Stimme, aber sahen niemanden. Saulus aber richtete sich auf von der Erde; und als er seine Augen aufschlug, sah er nichts. Sie nahmen ihn aber bei der Hand und führten ihn nach Damaskus; und er konnte drei Tage nicht sehen und aß nicht und trank nicht. Es war aber ein Jünger in Damaskus mit Namen Hananias; dem erschien der Herr und sprach: Hananias! Und er sprach: Hier bin ich, Herr. Der Herr sprach zu ihm: Steh auf und geh in die Straße, die die Gerade heißt, und frage in dem Haus des Judas nach einem Mann mit Namen Saulus von Tarsus. Denn siehe, er betet und hat in einer Erscheinung einen Mann gesehen mit Namen Hananias, der zu ihm hereinkam und die Hand auf ihn legte, damit er wieder sehend werde. Hananias aber antwortete: Herr, ich habe von vielen gehört über diesen Mann, wie viel Böses er deinen Heiligen in Jerusalem angetan hat; und hier hat er Vollmacht von den Hohenpriestern, alle gefangen zu nehmen, die deinen Namen anrufen. Doch der Herr sprach zu ihm: Geh nur hin; denn dieser ist mein auserwähltes Werkzeug, dass er meinen Namen trage vor Heiden und vor Könige und vor das Volk Israel. Ich will ihm zeigen, wie viel er leiden muss um meines Namens willen. Und Hananias ging hin und kam in das Haus und legte die Hände auf ihn und sprach: Lieber Bruder Saul, der Herr hat mich gesandt, Jesus, der dir auf dem Wege hierher erschienen ist, dass du wieder sehend und mit dem Heiligen Geist erfüllt werdest. Und sogleich fiel es von seinen Augen wie Schuppen und er wurde wieder sehend; und er stand auf, ließ sich taufen und nahm Speise zu sich und stärkte sich. Saulus blieb aber einige Tage bei den Jüngern in Damaskus.
Und alsbald predigte er in den Synagogen von Jesus, dass dieser Gottes Sohn sei.

Wie seid ihr eigentlich Christen geworden? Die Antworten, die ihr auf diese Frage geben mögt, dürften vermutlich äußerst unterschiedlich ausfallen. Nur in einem werden eure Antworten wohl alle übereinstimmen: Keiner von euch ist so Christ geworden wie der Apostel Paulus, wohl keinem von euch ist der auferstandene Christus in solch einem hellen Lichtglanz erschienen, wie Paulus dies vor den Stadttoren von Damaskus erfuhr, dass dieser Lichtglanz ihn geradezu umhaute, blendete und zu Boden sinken ließ.
Was können wir also mit der Epistel dieses heutigen Sonntags anfangen, wenn das, was uns St. Lukas uns hier schildert, von unserer Lebenswirklichkeit so weit entfernt zu sein scheint, wenn wir alle miteinander nichts erlebt haben, was mit dem vergleichbar wäre, was uns hier berichtet wird? Doch der Schein trügt: Auch wenn keiner von uns genau auf dieselbe Weise wie Paulus bekehrt und zum Christen gemacht worden ist wie der Völkerapostel, so ist doch auch im Leben von einem jeden von euch grundsätzlich dasselbe abgelaufen, was wir hier eben hier in der Epistel gehört haben. Denn Christen geworden sind auch wir einzig und allein durch den auferstandenen Christus:

- Er begegnet uns.
- Er fragt uns.
- Er führt uns in die Gemeinde.

I.

„Jeder hat eben seinen Glauben!“ – Vielleicht habt ihr solche oder ähnliche Sprüche auch schon mal gehört. Und an diesem Spruch ist durchaus einiges dran. Denn es gibt in der Tat keinen Menschen, der nicht an irgendetwas glaubt, der nicht an irgendetwas sein Herz hängt, nicht irgendetwas oder irgendjemand vertraut, und sei es nur sich selber. Die Frage ist nicht, ob ein Mensch glaubt, sondern woran er glaubt, worauf er sich in seinem Leben verlässt, ob es die eigene Stärke, ob es das Geld ist, ob es Beziehungen sind, ob es die Familie ist, der Beruf, ein Hobby oder was auch immer. Doch die Behauptung „Jeder hat eben seinen Glauben“ wird dann schief und problematisch, wenn dadurch der Eindruck erweckt wird, als sei der Glaube an Christus letztlich auch nur so eine Art von selbstgebasteltem Glauben, eine Möglichkeit und Fähigkeit, die in uns Menschen drinsteckt und die wir je nach Bedürfnis nutzen können. Der eine glaubt eben an den Gott im Grunewald, der andere glaubt an seinen Fußballverein und der dritte ist eben ein bisschen altmodisch und glaubt an Christus. Nein, so läuft die Geschichte nicht. Ich kann mir nicht aussuchen, ob ich an Christus glauben will oder nicht; der Glaube an Christus wird mir auch nicht angeboren, selbst wenn ich einen lutherischen Stammbaum über zehn Generationen zurückverfolgen kann. Sondern wir werden alle miteinander als Saulusse geboren, als Menschen, die von Christus erst einmal gar nichts wissen wollen und keinen Zugang zu ihm haben.
Doch dann ist Christus gekommen zu einem jeden von euch, ist euch in eurem Leben begegnet – nein, wie gesagt, in aller Regel nicht in der gleichen Weise wie dem Paulus damals. Aber es ist derselbe auferstandene Christus, der sich damals seinen größten Gegner geschnappt und zu seinem Boten gemacht hat und der nun auch in deinem Leben am Werk gewesen ist. Vielleicht hat er es bei dir ganz unscheinbar gemacht, vielleicht waren es einfach die Eltern, durch deren Worte Christus zu dir geredet hat, oder es waren Freunde, oder es war vielleicht eine Kinderbibelwoche – Christus, der stärker ist als alle seine Feinde, der hat unendlich viele Möglichkeiten, Menschen zu erreichen und sie zum Glauben an ihn zu führen.
Eines ist allerdings in allen Fällen gleich: Die Christusbegegnung ist immer auch mit der Taufe verbunden. Damals führte die Begegnung mit Christus vor den Stadttoren von Damaskus dazu, dass Paulus sich als allererstes, nachdem er wieder sehen konnte, erst einmal taufen ließ. Bei vielen von euch ist die Taufe sogar die allererste Gestalt der Christusbegegnung gewesen, der Ort, an dem Christus euch zum ersten Mal in eurem Leben begegnet ist, in euer Leben eingegriffen hat und zwar gleich so grundlegend, dass er euch zu neuen Menschen gemacht hat, die ganz zu ihm gehören und ein Leben haben, das stärker ist als der Tod. Und bei euch beiden, liebe Irina, lieber Waldemar, ist es wieder so gewesen, dass Christus euch erst einmal in seinem Wort begegnet ist, das ihr in den Gesprächen gehört habt, die wir in den letzten Wochen miteinander geführt haben, dass er durch dieses Wort an euch gearbeitet hat und euch dazu geführt hat, dass ihr euch heute ganz fröhlich und bewusst habt taufen lassen. Aber auch für euch gilt, wie für uns alle: Ihr habt euch den Glauben an Christus nicht selber aus den Rippen geleiert; er, Christus, ist es, der euch nun heute in der Taufe begegnet ist und der nun auch weiter euch begegnen, weiter an euch arbeiten will, damit euer Glaube wächst und stärker wird, damit er, Christus, euch in eurem Leben immer lieber und wichtiger wird.
Wie seid ihr also Christen geworden? Zunächst einmal und vor allem nicht durch euch selber, durch eure Entscheidung, sondern dadurch, dass Christus auch in eurem Leben gezeigt hat, dass er lebt, dass er der Herr ist, dass er die Kraft hat, Glauben zu wirken, den wir selber niemals aus uns hervorrufen könnten.

II.

Den Saulus mit seinem römischen Namen Paulus hat Christus damals auf dem Weg nach Damaskus regelrecht umgehauen und ihn dann mit einer Frage konfrontiert: „Saul, Saul, was verfolgst du mich?“ Eine Frage war das, die das gesamte Leben und Wirken des Saulus grundlegend in Frage stellte. Denn genau das war ja bisher sein Lebensinhalt gewesen: Christen zu verfolgen und zu verhindern, dass sich die Botschaft immer noch weiter ausbreitete, dass Gott den gekreuzigten Christus von den Toten auferweckt habe. Doch nun muss Paulus von einer Sekunde auf die andere feststellen, dass er sich dabei offenkundig total verrannt hatte, dass seine Bemühungen, den christlichen Glauben zu vernichten, scheitern mussten, weil die Voraussetzung, von der er ausging, von vornherein falsch war, weil dieser gekreuzigte Jesus eben entgegen seiner festen Überzeugung eben doch von den Toten auferstanden war und es von daher völlig vergeblich war, gegen die Verkündigung dieser Botschaft und gegen die, die sie ausbreiteten, irgendwie anzugehen. „Saul, Saul, was verfolgst du mich?“ – Der, der so fragt, stellt sich ganz hinter die, die zu ihm gehören, macht deutlich, dass der Widerstand des Paulus nicht bloß den Christen, sondern letztlich ihm, Christus selber, gilt. „Saul, Saul, was verfolgst du mich?“ – Eine ganz einfache Frage ist das, die aber eben doch das ganze Leben des Paulus aus den Angeln hebt.
Nein, nicht alle Christen machen, wie gesagt, solch eine Erfahrung wie der Apostel Paulus. Aber es gibt eben doch so viele Christen, die eine ganz ähnliche Erfahrung wie Paulus vor oder auch lange nach ihrer Taufe gemacht haben. Da lief ihr Leben scheinbar sehr gut, genau wie das Leben des Paulus damals scheinbar doch sehr gut lief. Der hatte nach seinem Empfinden keine Probleme, der hatte auch keine Glaubenskrise, der war mit sich im Reinen – bis zu dem Augenblick, in dem Christus selber ihn von den Beinen haute. Und so gibt es auch heute viele Menschen, denen es offensichtlich doch gut geht in ihrem Leben, die scheinbar alles haben, was man für sein Leben braucht, die glücklich und zufrieden sind – auch ohne dass Christus in ihrem Leben irgendeine Rolle spielt. Doch dann passiert etwas in ihrem Leben, was sie umhaut – ein Schicksalsschlag, eine Krankheit, vielleicht auch eine Burnout-Erfahrung, jedenfalls etwas, was auch sie fragen lässt: Was machst du da eigentlich in deinem Leben? In was für eine Richtung läuft dein Leben eigentlich? Ja, glaubst du allen Ernstes, du könntest in deinem Leben allein ohne Christus, vielleicht gar gegen ihn klarkommen? Ja, mitunter haut Christus uns in unserem Leben ganz schön heftig von den Beinen. Aber mitunter lässt er diese Fragen auch ganz langsam und allmählich immer lauter und deutlicher in unserem Leben werden: Was machst du da eigentlich? Was ist eigentlich der Sinn und das Ziel deines Lebens? Glaubst du wirklich, du könntest mich aus deinem Leben heraushalten?
Wie gesagt, diese Frage stellt Christus nicht bloß an Menschen vor ihrer Taufe. Die stellt er uns oft genug, wenn wir schon längst getauft sind und doch längst aus dem Auge verloren haben, was das eigentlich für uns bedeutet. Nein, Christen werden und bleiben wir oft genug gerade nicht deshalb, weil wir in unserem Leben erfahren haben, dass dann in unserem Leben alles immer glatt läuft und wir keine Probleme haben. Sondern Christen werden und bleiben wir oft genug gerade dadurch, dass Christus uns und unser Leben in Frage stellt, alles gerade nicht glatt laufen lässt, sondern uns mitunter vielleicht auch auf eine schmerzliche Weise zwingt, noch einmal neu über unser Leben nachzudenken. Den Paulus hat Christus damals vor den Stadttoren von Damaskus auch nicht zu einem Supermann gemacht, ihn mit unglaublichen Kräften ausgestattet. Sondern er hat ihm gezeigt, dass er allein gar nichts kann, dass er sich führen lassen muss, weil er von sich aus gar nicht dazu in der Lage ist. Ja, genau das gehört auch zu unserem Christsein immer wieder mit dazu, dass wir es lernen, dass wir nicht selber die Macher in unserem Leben sind, sondern dass wir geführt werden müssen von ihm, der uns immer wieder neu nach unserem Leben fragt.

III.

Und damit sind wir schon beim Dritten, was zum Christwerden und Christbleiben unabdingbar dazugehört: Christus schickt den Paulus nach Damaskus, damit sich dort die christliche Gemeinde, vertreten durch den Hananias, um ihn kümmert. Ganz klar macht es Christus dem Paulus gleich von vornherein: Ohne Kirche, ohne Gemeinde kannst du nicht Christ sein, denn Christ zu sein bedeutet eben gerade nicht ein guter Mensch zu sein, der sich einigermaßen an die meisten der Zehn Gebote hält. Sondern Christ zu sein, bedeutet eben, in der Gemeinschaft der Gemeinde mit anderen Christen zu leben, sich durch diese Gemeinschaft immer wieder neu im Glauben stärken und ermutigen zu lassen.
Und genau das gilt eben auch für uns heute. Niemand von euch kann Christ sein ohne die Gemeinschaft der Gemeinde, ohne die Gemeinschaft der Kirche. Durch die Taufe seid auch ihr in diese Gemeinschaft aufgenommen worden, und Christus selber schickt euch immer wieder in diese Gemeinschaft, weist euch an sie, mahnt euch, ja nicht zu glauben, ihr könntet ohne diese Gemeinschaft irgendwie auskommen, könntet ohne diese Gemeinschaft Christen bleiben. Ihr braucht das Gegenüber, das euch im Auftrag Christi sein Wort zusagt, ihr könnt euch nicht selber die Hand auflegen, ihr könnt euch nicht selber die Sünden vergeben. Das hat Christus dem Paulus damals deutlich gemacht, und das macht er uns hier in seinem Wort deutlich.
Aber dann lässt St. Lukas uns hier ja auch noch einen Blick auf die andere Seite werfen, der auch für uns ganz wichtig ist. Er schildert uns hier den Hananias, gleichsam stellvertretend für die Gemeinde in Damaskus, zeigt, wie der Hananias kräftig schlucken muss, als Christus ihm aufträgt, ausgerechnet den Saulus zu besuchen und ihn in die Gemeinde aufzunehmen. Was – solch einen Problemfall sollen wir in unsere Gemeinde aufnehmen? Einen Menschen mit solch einer Vergangenheit? Der passt doch nun wirklich nicht in unsere Gemeinde hinein. Im Gegenteil, bei dem müssen wir doch sogar befürchten, dass der unserer Gemeinde schadet! Doch Christus lässt sich nicht abbringen: Geh nur hin! Ich weiß schon, weshalb ich gerade den Paulus zu euch in die Gemeinde geschickt habe!
Vor ganz ähnliche Herausforderungen wie damals der Hananias sind auch wir in unserer Gemeinde immer wieder gestellt. Gewiss, wir werden hier um unseres Glaubens willen nicht verfolgt und stehen damit auch nicht vor der Zumutung, frühere Christenverfolger in unsere Gemeinde aufnehmen zu müssen. Die Menschen, die neu in unsere Gemeinde kommen, sind doch immer wieder sehr viel erfreulichere Erscheinungen, genau wie ihr beide, liebe Irina, lieber Waldemar. Doch es bleibt für uns als Gemeinde dennoch immer wieder eine Herausforderung, immer und immer wieder auf neue Gemeindeglieder zuzugehen, den Worten unseres Herrn zu folgen: Geh nur hin, halte keinen Abstand zu ihnen. Es bleibt für uns immer wieder neu eine Herausforderung, Menschen mit ganz unterschiedlichen Biographien, mit ganz unterschiedlicher Herkunft in unsere Gemeinde aufzunehmen und ihnen zu zeigen, dass sie bei uns willkommen sind, dass wir uns über sie freuen, dass es für uns keinen Unterschied macht, ob ein Mensch in Kasachstan, im Iran, in China oder in Berlin geboren ist. Denn wir sind eben kein Verein, der sich seine Vereinsmitglieder aussuchen kann. Christus ist es doch, der in unserer Gemeinde am Werke ist, er ist es, der Menschen zu Christen macht, indem er ihnen begegnet, sie vor die entscheidenden Fragen ihres Lebens stellt und sie dann auch konkret in unsere Gemeinde führt. Ja, Gott sei Dank, dass er das auch mit uns gemacht hat, ja, Gott sei Dank, dass auch wir Christen sein dürfen, Menschen, die, so unterschiedlich sie auch sein mögen, doch alle durch die Taufe zu Christus gehören, ja, die kraft ihrer Taufe alle miteinander für immer mit ihm leben werden, mit ihm, dem auferstandenen Herrn! Amen.