17.03.2010 | Philipper 3,10 (3. Fastenpredigt: „Das Kreuz Christi - Der Trost Im Leid“)

MITTWOCH NACH LAETARE – 17. MÄRZ 2010 – DRITTE FASTENPREDIGT ÜBER DAS KREUZ CHRISTI: „DER TROST IM LEID“ (PHILIPPER 3,10)

Ihn, Christus, möchte ich erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden und so seinem Tode gleich gestaltet werden.

Wenn ich mit meinen Konfirmanden Fahrten unternehme, bleibt es ihnen nicht erspart, dass ich mit ihnen jeweils eine ganze Reihe von Kirchen besichtige. Zu den elementaren Dingen, die ich ihnen bei diesen Kirchenbesichtigungen beibringe, gehört natürlich auch der Unterschied zwischen Romanik und Gotik, zwischen romanischen und gotischen Kruzifixen. Ja, dieser Unterschied prägt sich auch schon Konfirmanden ein, der Unterschied zwischen dem sieghaften Christus, der vom Kreuz herab herrscht, und dem leidenden Christus, dessen Füße übereinander ans Kreuz genagelt sind, dessen Körper vom Schmerz gezeichnet und oft auch verdreht ist.
Ja, eine ganz neue Sichtweise des Kreuzes Christi begegnet uns in diesen Kruzifixen aus der Zeit der Gotik, eine Sichtweise, in der das persönliche Leiden Christi und darin zugleich das Leiden der Menschen insgesamt ins Zentrum der Betrachtung rückt: Menschen, gezeichnet von den Schrecknissen der Pestzeiten und anderer Plagen und Leiden, fanden sich im Bildnis des Gekreuzigten wieder, fanden darin Trost in ihrem Leid. Eine ganz besondere Form der Frömmigkeit entwickelte sich aus dieser Ausrichtung auf das Leiden des Herrn: Lieder wurden im Mittelalter gedichtet, die gleichsam jedes Körperteil des gekreuzigten Christus einzeln betrachteten und meditierten und daraus Trost und Glaubensstärkung schöpften. Paul Gerhardt hat auf diese Meditationslieder zurückgegriffen, sie ins Deutsche übertragen, und so finden wir auch in unserem Gesangbuch Lieder, die das Haupt des Gekreuzigten oder auch seine Füße andachtsvoll betrachten. Kreuzwegandachten entwickelten sich in dieser Zeit, in der man Schritt für Schritt den Leidensweg des Gekreuzigten mitging und betrachtete und versuchte, sich in das Leiden des Gekreuzigten ein Stück weit hineinzuversetzen.
Nun rede ich die ganze Zeit so, als ob es sich hier bloß um ein Phänomen vergangener Zeiten und Jahrhunderte handelte. Doch eben diese Passionsfrömmigkeit, die in der Zeit des Mittelalters aufkam und auch die Frömmigkeit der lutherischen Kirche, besonders im 17. Jahrhundert, in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, sehr prägte, prägt doch auch unsere Frömmigkeit bis heute in besonderer Weise. Wenn nun am kommenden Sonntag Judika die Passionszeit im engeren Sinne beginnt, dann können wir uns diese Zeit bis zum Karfreitag doch kaum ohne die Lieder Paul Gerhardts und anderer Liederdichter dieser Zeit vorstellen, und als ich damals hier in die Gemeinde kam, war es eine der ersten Bitten, die mich erreichte, dass ich doch ja auch die Kreuzwegandacht in unserer Gemeinde beibehalten möge. Ja, die Betrachtung des Leidens und Sterbens unseres Herrn, sie gehört zweifelsohne mit zum Herzstück unserer Frömmigkeit als lutherische Christen.
Ich wage es dennoch einmal, und auch das ist ja nun gut lutherisch, zu fragen, ob diese Form der Passionsfrömmigkeit, der Meditation des Leidens Christi, eigentlich biblisch ist. Können wir uns auf die Heilige Schrift berufen, wenn wir in dieser Weise das Leiden unseres Herrn bis in seine Einzelheiten hinein meditieren, wie wir dies aus den Gottesdiensten der Passionszeit, wie wir es auch in unserer persönlichen Frömmigkeit gewohnt sind?
Schauen wir uns an, wie die Heilige Schrift vom Leiden und Sterben unseres Herrn Jesus Christus spricht, so fällt in der Tat zunächst einmal eine gewisse Nüchternheit auf. Mit der Schilderung von Einzelheiten hält man sich zumeist zurück; erst recht können wir den Berichten der Evangelisten nach der eindrücklichen Schilderung der Angst Jesu in Gethsemane keinerlei Aussagen über die Emotionen Jesu entnehmen, die er im weiteren Verlauf seines Kreuzweges empfunden hat. Wichtiger ist es den Evangelisten, genau wie dem Apostel Paulus, den Sinn dieses Leidensweges Jesu in der Schilderung herauszustellen, deutlich zu machen, dass Jesus diesen Weg für uns geht, dass sich gerade in diesem Kreuzweg Gottes Liebe zu uns Menschen offenbart. Dass Jesus für uns gestorben ist, dass er es für uns getan hat – das ist den Zeugen des Neuen Testaments ganz wichtig; wie sich Jesus bei all dem, was er durchlitt, gefühlt hat, tritt dahinter auffällig zurück. Das Interesse daran erwachte im Verlauf der Kirchengeschichte tatsächlich erst, als überhaupt das Leiden des einzelnen Menschen stärker ins Zentrum der Betrachtung rückte.
Und doch haben wir natürlich keinen Grund dazu, unsere Lieder, unsere Kreuzwegandachten, unser persönliches Begehen der Passionszeit nun preiszugeben. Zunächst einmal bleibt ja festzuhalten, dass wir uns in unseren Betrachtungen des Leidens Christi ja immer wieder auf die biblischen Texte selber zurückbeziehen, sie bedenken, sie meditierend aufnehmen. Grundlage unserer Frömmigkeit ist nicht eine Spekulation, sondern das Wort der Heiligen Schrift selber. Und dort lesen wir nicht nur das Wort des Apostels Paulus, dass er in der Gemeinde in Korinth nichts anderes wissen wollte als allein Jesus Christus den Gekreuzigten, dort erkennen wir bei der Lektüre der vier Evangelien schnell, welches Gewicht gerade die Schilderung des Leidens und Sterbens Jesu in der Gesamtkonzeption der Evangelien hat: „Passionsgeschichte mit ausführlicher Einleitung“, so hat man etwas das Markusevangelium genannt; doch eigentlich passt diese Bezeichnung für alle vier Evangelien: All das, was in den Kapiteln vor der Passionsgeschichte berichtet wird, erhält seinen eigentlichen, tiefsten Sinn erst von dem her, was dann in diesen letzten Kapiteln geschildert wird, erhält seinen Sinn allein vom Kreuzestod Jesu her. Ob es Wundergeschichten sind, ob es die Bergpredigt ist, ja, selbst die Weihnachtsgeschichte – ohne die Passionsgeschichte würde man ihre Bedeutung letztlich nicht erfassen können. Ja, wir tun von daher gut daran, uns mit diesen so entscheidend wichtigen Berichten der Heiligen Schrift immer und immer wieder gründlich zu befassen.
Hilfreich ist die meditative Betrachtung des Leidens und Sterbens unseres Herrn Jesus Christus auch aus einem zweiten Grund: Sie leitet uns immer wieder dazu an, dieses Leiden und Sterben in zweifacher Weise wahrzunehmen: Als sacramentum und exemplum, als Heilsgeschehen für uns und als Vorbild für uns, um die theologische Terminologie an dieser Stelle einmal aufzunehmen. Sacramentum ist das Leiden und Sterben unseres Herrn für uns vor allen Dingen: Beschäftigen wir uns damit, dann wollen wir uns immer wieder vor Augen halten, dass all dies, was Christus getan und erlitten hat, uns zugute geschehen ist und uns hier und heute zugute kommt. Es ist eben kein teilnahmsloser Voyeurismus, der sich an den Qualen eines Menschen weidet, der in der Betrachtung des Leidens und Sterbens Christi zum Ausdruck kommt – im Gegenteil: Gerade auch da, wo man in der Betrachtung über den biblischen Text hinaus sich in den leidenden Christus hineinzuversetzen versucht, dient es immer wieder aufs Neue dazu, sich die zentrale Botschaft des Neuen Testaments vor Augen zu halten und einzuprägen: Dass Christus für unsere Sünden gestorben ist nach der Schrift, wie Paulus das wohl älteste uns überlieferte Glaubensbekenntnis der Christenheit im 1. Korintherbrief zitiert. Einmalig ist das, was Christus in diesem Sinne erleidet, unwiederholbar, nicht nachahmbar. Und gerade so hält unsere Meditation des Leidens und Sterbens Christi den Kern unseres christlichen Glaubens fest.
Exemplum ist das Leiden und Sterben unseres Herrn Jesus Christus aber auch zugleich: Beispiel, das uns dazu anleitet, in der Nachfolge unseres Herrn in seinen Fußtapfen zu bleiben, wie es der 1. Petrusbrief so eindrücklich formuliert: Ja, ein Vorbild hat er uns darin hinterlassen, so betont es St. Petrus, er, der keine Sünde getan hat und in dessen Mund sich kein Betrug fand, der nicht widerschmähte, als er geschmäht wurde, nicht drohte, als er litt. Gerade in den Kreuzwegandachten spielt auch dieser Aspekt des Leidens Christi als exemplum eine wichtige Rolle. Biblisch berechtigt ist diese Betrachtungsweise etwa von diesen Aussagen des 1. Petrusbriefes her, solange zugleich klar bleibt, dass die Betrachtung des exemplum Christi nicht das sacramentum verdeckt oder gar in Frage stellt. Dies ist bei nicht wenigen Entwürfen moderner Kreuzwegandachten der Fall, die oft mehr das Leiden heutiger Menschen betrachten als das Leiden Christi selber und damit die Heilsbedeutung des Kreuzes Christi oft kaum noch erkennbar werden lassen.
Trost im Leid, den suchen wir auch heute noch, nicht viel anders als die Menschen des 16. Jahrhunderts und schon des Mittelalters, in der Betrachtung des Kreuzes Christi. Auch wenn es uns, was die äußeren Umstände angeht, heute hier in Deutschland unendlich besser geht als den Menschen vergangener Jahrhunderte, bleibt das Leiden doch der Begleiter unseres Lebens, drängt sich uns damit auch immer wieder als ungelöste Frage auf. Ja, gut tun wir daran, wenn wir uns über das Leid dieser Welt und das Leid unseres Lebens nicht einfach allgemein unsere eigenen philosophischen Gedanken machen, sondern diese Frage immer wieder im Blick auf den Gekreuzigten bedenken, im Blick darauf, dass Gott sich in ihm uns letztgültig zu erkennen gegeben hat. Ich kann über das Leiden eben nur so angemessen als Christ sprechen, dass ich zugleich vom leidenden Gott rede. Und nur allzu verständlich ist es, wenn ich dann auch in meiner Betrachtung dieses leidenden Gottes mich immer tiefer in die Gemeinschaft mit ihm hineinziehen lasse: „Ihn möchte ich erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden und so seinem Tode gleichgestaltet werden“, so schreibt schon der Apostel Paulus im Brief an die Philipper. Wenn ich um die ganz reale Gemeinschaft mit Christus weiß, in die ich in der Heiligen Taufe aufgenommen worden bin und die ich immer wieder von neuem im Heiligen Mahl erfahre, dann ist es nur zu verständlich, dass ich mich danach sehne, ihn, meinen Herrn, immer tiefer zu erkennen, immer tiefer zu bedenken, was das bedeutet, dass ich mit ihm verbunden bin und diese Verbindung mein Leben prägt. Und dann darf es für mich eben auch ein Trost sein zu wissen, dass dieser Herr, mit dem ich so eng verbunden bin, mich bis in die tiefsten Tiefen meines Lebens versteht, weil er diese Tiefen, ja noch viel tiefere Tiefen, selber durchlitten hat. Denn, so betont es der Hebräerbrief, „wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde.“ Ja, diese Gewissheit kann und darf sich dann auch in der Meditation dessen Ausdruck verleihen, was Christus auf seinem Weg zum Kreuz und am Kreuz selber erlitten hat.
Das Kreuz als Trost im Leid – es erweist im Leben von uns Christen noch einmal in ganz besonderer Weise seine Kraft, wenn es auf unser eigenes Sterben zugeht. Wie gut, wenn wir gerade dann ihn, den gekreuzigten Christus, als sacramentum und exemplum als Bild vor Augen haben! Wie gut, wenn zumindest in kirchlichen Krankenhäusern noch in jedem Krankenzimmer ein Kruzifixus hängt, auf den der kranke und auch der sterbende Mensch seinen Blick richten kann, ja, wie gut, wenn wir es auch einem sterbenden Menschen zu Hause ermöglichen, auf ihn, den Gekreuzigten, blicken zu dürfen! Wenn sich im Sterben vollendet, was in der Taufe begonnen wurde, als wir mit Christus gestorben und gerade so mit ihm eins geworden sind, dann ist es allemal gut, wenn wir mit Paul Gerhardts Meditation des Hauptes Christi beten können: „Erscheine mir zum Schilde, zum Trost in meinem Tod, und lass mich sehn dein Bilde in deiner Kreuzesnot. Da will ich nach dir blicken, da will ich glaubensvoll dich fest an mein Herz drücken. Wer so stirbt, der stirbt wohl.“ Amen.