12.10.2011 | Philipper 1,19-26 | Mittwoch n.d. 16. Sonntag nach Trinitatis

„Ach, es wäre doch schön, wenn ich nun bald heimgehen könnte“, so erklärte die ältere Dame, als sie mit ihrer Familie beim Kaffeetrinken anlässlich ihres 86. Geburtstags zusammen saß. Die Familienangehörigen reagierten entsetzt: „Sag doch so was nicht; dir geht es doch noch ganz gut; du kannst doch noch locker hundert werden! An den Tod wollen wir nun wirklich nicht denken, erst recht nicht an solch einem schönen Geburtstag.“ Die ältere Dame schwieg. Sie wusste, ihre Kinder hatten mit Kirche und Glauben nicht viel am Hut; sie konnten nicht verstehen, was sie meinte und wie sie es meinte. Nein, lebensmüde war sie nicht; aber sie hatte doch, je älter sie wurde, eine immer stärkere Sehnsucht nach ihrem eigentlichen Zuhause bei Christus. Und darum sprach sie auch bewusst vom „Heimgehen“.

Schwestern und Brüder, wenn mir ältere Gemeindeglieder sagen, sie würden gerne heimgehen, dann widerspreche ich Ihnen nicht und versuche auch nicht, ihnen dies auszureden. Ich sage ihnen sehr wohl, dass ich mich sehr freue, sie jetzt noch hier bei uns zu haben, und ich sage ihnen auch, dass ich mir persönlich wünschen würde, dass das auch noch eine Weile so bleibt. Aber ihnen die Sehnsucht nach der himmlischen Heimat, nach dem Zuhause bei Gott ausreden zu wollen – auf die Idee würde ich dann doch nicht kommen. Denn in Wirklichkeit ist dieser Wunsch, heimgehen zu wollen zu Christus, ja bestens biblisch begründet, so haben wir es eben in unserer heutigen Predigtlesung gehört.

Da sitzt der Apostel Paulus im Gefängnis. Jeden Tag muss er damit rechnen, dass er aus seiner Zelle geholt und hingerichtet wird. Eine gruselige Vorstellung, möchten wir meinen. Doch Paulus sieht die Dinge ganz anders: „Ich habe Lust, aus der Welt zu scheiden und bei Christus zu sein“, schreibt er den Christen in Philippi. Nein, er hat nicht deshalb solche Lust, aus der Welt zu scheiden, weil er die quälende Ungewissheit dort in seiner Zelle nicht länger aushält und lieber tot sein will als weiter dort in diesem Drecksloch zu sitzen. Sondern es ist einzig und allein diese Aussicht, für immer in der sichtbaren Gemeinschaft mit Christus leben zu können, die ihn sehnsüchtig darauf warten lässt, endlich dort am Ziel seines Lebens ankommen zu dürfen.

Schwestern und Brüder: Ich formuliere es einmal ganz bewusst: Wenn wir als Christen keine Sehnsucht danach haben, heimgehen und bei Christus sein zu dürfen, dann haben wir etwas ganz Entscheidendes in unserem christlichen Glauben irgendwie noch nicht so ganz richtig kapiert. Wenn uns Gottes Wort auch nur eine leise Ahnung davon vermittelt, was uns am Ziel unseres Lebens erwartet, dann ist es mehr als naheliegend, dass wir da hinwollen, dass wir uns dahin sehnen: Christus selber schauen zu dürfen, keine Fragen, keine Zweifel mehr zu spüren, nichts mehr zu erfahren, was unsere vollkommene Freude an Christus trübt und einschränkt – ja, wenn wir uns darauf nicht freuten, wären wir geradezu mit dem Klammerbeutel gepudert.

Sollten wir uns also am besten alle miteinander nur noch in die Ecke setzen und darauf warten, dass wir nun endlich aus dieser bösen Welt abgerufen werden – oder dabei womöglich sogar noch ein wenig nachhelfen?

Der Apostel Paulus geht mit seiner Sehnsucht nach dem Leben bei Christus anders um: Ja, er weiß, etwas Besseres könnte ihm in Wirklichkeit nicht passieren, als bald schon Christus schauen zu dürfen. Und doch weiß er zugleich, dass es für seine Gemeinden wohl doch nötiger ist, wenn er noch eine Weile hier auf Erden bleibt und seinen Dienst weiter bei ihnen versehen kann, und so plant er aus seiner Todeszelle doch zugleich schon wieder seine nächste Reise nach Philippi. Sehnsucht nach der himmlischen Heimat und Engagement hier auf Erden schließen sich also offenbar nicht aus, ja, bedingen einander sogar ein ganzes Stück weit. Wer weiß, dass ihm das Allerbeste im Leben auf jeden Fall noch bevorsteht, der braucht keine Angst davor zu haben, nicht genügend hier in diesem Leben mitzubekommen, der lässt sich von solchen Ängsten nicht treiben, sondern kann sich denen zuwenden, die seinen Dienst brauchen.

Und so ist das eben auch bei uns: Ja, wir dürfen uns auf den Himmel freuen, ganz gewiss. Doch diese Freude macht uns gerade nicht weltfremd, sondern lässt uns erst recht die Aufgaben anpacken, die Gott uns in unserem Leben stellt. Diese Freude bewahrt uns gerade davor, nur um uns selber zu kreisen, macht uns frei zum Dienst am Nächsten. Wann es dann einmal soweit sein wird, dass wir für immer bei Christus sein werden, das bestimmt der allein, der Herr über Leben und Tod ist, da sollen und dürfen wir ihm nicht hineinpfuschen. Gott weiß, was für einen Sinn auch das Leben eines Menschen hat, der selber nichts mehr zu leisten vermag, der scheinbar doch zu nichts mehr nütze ist. Es geht auch Paulus hier nicht um preußisches Pflichtbewusstsein, sondern darum, dass in allem, was er tut und was er erleidet, Christus an seinem Leib verherrlicht wird, wie er es hier formuliert.

Gewiss, sehen werden wir Christus erst, wenn er selber uns einmal die Augen für ihn öffnen wird bei seiner Wiederkunft oder wenn wir die Grenze des Todes überschritten haben. Aber es ist ja nicht so, dass wir jetzt noch fern von Christus wären. Wer getauft ist, für den gilt jetzt schon, was Paulus hier schreibt: Christus ist mein Leben.

„Christus ist mein Leben“ – Gott geb’s, dass wir das dem Apostel Paulus so nachsprechen können, dass nicht auf unserer Todesanzeige einmal stehen wird: „Nur Müh und Arbeit war dein Leben“ oder „die Familie war sein Leben“. Nein, was unser Leben als Christen ausmacht, ist Christus allein, er, der auch heute wieder mit seinem Leib und Blut in uns Wohnung nimmt, in uns lebt und unser Leben mit seinem Leben erfüllt. Da kommt dann jetzt schon gleichsam der Himmel auf die Erde, da verliert dann schließlich sogar die Todesgrenze ihre letzte Bedeutung: Mit Christus verbunden bin ich hier und dort. Das Leben, das ich jetzt schon verborgen in mir trage seit meiner Taufe, ist kein anderes Leben als das, das ich einmal in alle Ewigkeit mit ihm, Christus, führen werde. Das lässt es uns hier auf Erden aushalten, ja, das hilft uns, uns an unserem Leben hier auf Erden zu erfreuen, dass wir wissen: Was wir auch erleben mögen: Alles muss uns schließlich zum Besten, zu unserem Heil dienen. Denn Christus ist ja unser Leben. Und das bleibt so, wenn wir heute Abend nach Hause gehen, das bleibt so in unserer Todesstunde, das bleibt so, wenn wir einmal gemeinsam mit dem heiligen Paulus vor ihm stehen werden und feststellen werden: Das ist ja noch viel besser, als wir es je geahnt haben. Ist das nicht wunderbar, mit solch einer Vorfreude leben zu dürfen? Amen.