09.10.2011 | Klagelieder 3,22-26.31-32 | 16. Sonntag nach Trinitatis

Wenn hier in unserem Land irgendwo ein schreckliches Unglück passiert oder ein furchtbares Verbrechen begangen wird, dann kann man ziemlich sicher davon ausgehen, dass an einem der nächsten Tage in dem betroffenen Ort ein besonderer Gottesdienst zum Gedenken an die Opfer gehalten wird. Und zu diesem Gottesdienst strömen dann die Menschen in großen Scharen, ja, selbst solche, die man mitunter ansonsten noch nicht einmal zu Heiligabend in der Kirche antrifft. Der Humanistische Verband hat sich schon wiederholt lautstark darüber beschwert, dass sich bei solchen Anlässen niemand für seine Angebote einer schönen atheistischen Gedenkfeier interessiert, sondern dass die Leute ihrer Trauer ausgerechnet in einer Kirche Ausdruck verleihen wollen, dass sie sich mit ihrer Trauer ausgerechnet an Gott wenden, mit dem sie ansonsten in ihrem Leben oftmals doch gar nicht so viel zu tun haben wollen.

Ja, das ist schon ein besonderes Phänomen, dass Gott in unserem weithin entkirchlichten Land doch immer noch als Spezialist für Trauerfälle wahrgenommen und gebraucht wird, dass man solche schrecklichen Ereignisse gerade nicht zum Anlass nimmt, um sich demonstrativ vom Glauben an Gott zu verabschieden, sondern von ihm etwas erwartet, was man sich selber in solch einer Situation offenbar nicht zu geben vermag.

Das ist in der Tat ein Phänomen, denn so einfach lassen sich ja Gott und das Schreckliche, was diese Menschen, die da kommen, gerade erfahren haben, eben nicht auseinanderdröseln. Wenn Gott wirklich Gott ist, dann kann man ja nicht einfach damit kommen, dass man behauptet, Gott habe mit all diesem Schrecklichen gar nichts zu tun. Und es wäre in Wahrheit auch tatsächlich kein Trost, wenn wir versuchen würden, etwa dem Teufel alles Schreckliche in dieser Welt in die Schuhe zu schieben und Gott nur als für alles Gute und Erfreuliche zuständig zu erklären. Damit würden wir ja Gott unterstellen, ihm seien gerade die Teile unseres Lebens aus den Händen geglitten, in denen wir ihn am allerdringendsten gebraucht hätten. Nein, so einfach können wir uns das alles nicht machen.

Und damit, Schwestern und Brüder, sind wir nun schon mitten drin in der alttestamentlichen Lesung dieses Sonntags:
Da erleben wir mit, wie ein Mann ebenfalls mit einer Katastrophe klarzukommen versucht, mit einer Katastrophe, die er gerade selber erlebt und durchlitten hat: die furchtbare Zerstörung und Plünderung seiner Stadt Jerusalem, die Gräueltaten, die die Bewohner der Stadt hautnah erfuhren. Und nun sitzt der Mann da in den Trümmern der Stadt, ja in den Trümmern seiner Existenz, seines Lebens und versucht damit irgendwie klarzukommen. Und auch er klammert Gott in der Bewältigung dessen, was ihm da widerfahren ist, nicht aus, sondern er nimmt Gott als Urheber all des Schrecklichen, das er da gerade miterleben musste, ganz ernst. Und was dabei hier in den Klageliedern herauskommt, das ist nun in der Tat auch für uns ganz hochaktuell, kann auch uns helfen, als Christen, als Menschen, die an Gott glauben, mit Katastrophenmeldungen umgehen zu können. Dreierlei macht der Verfasser der Verse unserer heutigen Predigtlesung hier:
- Er klagt.
- Er beruft sich auf Gottes Versprechen.
- Er setzt alles auf eine Karte.

I.
Der Beginn unserer heutigen Predigtlesung klingt ja erst einmal sehr schön und erbaulich: „Die Güte des HERRN ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu.“ „All Morgen ist ganz frisch und neu des Herren Gnad und große Treu“, so singen wir es entsprechend in einem Kirchenlied.

Doch richtig verstehen können wir diese Worte erst, wenn wir auf die Verse blicken, die unserer Predigtlesung vorangehen. Da redet der Verfasser nämlich Klartext, dass wir erst einmal die Luft anhalten mögen, dass solche Worte allen Ernstes in der Bibel stehen: „Gott hat mich geführt und gehen lassen in die Finsternis und nicht ins Licht. Er hat seine Hand gegen mich gewendet und erhebt sie gegen mich Tag für Tag. Und wenn ich auch schreie und rufe, so stopft er sich die Ohren zu vor meinem Gebet. Gott lässt mich den Weg verfehlen, er hat mich zerfleischt und zunichte gemacht.“ Ja, so redet einer, der Furchtbares durchgemacht hat und zugleich Gott als Gott ernst nimmt.

Schwestern und Brüder: Die Heilige Schrift sagt nicht, dass wir so zu Gott beten oder so über ihn reden müssen. Aber sie macht uns deutlich, dass wir allen Ernstes so zu ihm und über ihn reden dürfen. Wenn wir nicht so furchtbare Erfahrungen in unserem Leben durchgemacht haben wie der Beter im zerstörten Jerusalem damals oder wie so manche Menschen heute auch noch, wird uns diese Art und Weise, über und mit Gott zu reden, vielleicht sehr fremd vorkommen, mögen wir es vielleicht sogar für empörend und unanständig halten, Gott solche Klagen an den Kopf zu werfen. Doch für diejenigen, die so etwas Ähnliches durchgemacht haben, sind solche Klagen nicht bloß ein Ventil, eine Form von Psychohygiene, dass man einfach mal all seine Wut und Verzweiflung herausschreit, um sich anschließend besser zu fühlen. Sondern für diejenigen, die so etwas durchgemacht haben, ist solch eine Klage mitunter die einzige Möglichkeit, überhaupt noch an Gott festhalten zu können. Und Gott selber gestattet diese Form des Umgangs mit ihm, lässt sie uns in seinem Wort, der Heiligen Schrift, überliefern, jawohl, als Anleitung auch zum eigenen Beten in ähnlichen Situationen. Denn wer so betet, nimmt ihn, Gott, ernst, gibt ihm gerade auch in den bitteren Vorwürfen, die da geäußert werden, doch noch die Ehre. Ja, solches Klagen und Herausschreien der eigenen Not ist allemal Gott wohlgefälliger als eine stumme Abwendung von ihm, als eine Gleichgültigkeit gegenüber Gott, die ihn letztlich gar nicht als Herrn unseres Lebens respektiert.

Sagen wir es also noch einmal ganz offen: Wir können Gott oftmals gar nicht verstehen, nicht in dem, was wir in dieser Welt insgesamt erleben, und oft genug auch nicht in dem, was wir in unserem eigenen Leben erfahren. Gott ist nicht logisch, und das, was wir von seinem Wirken zu erkennen meinen, ist es oftmals auch nicht. Und eben darum ist es so gut und so wichtig, dass wir das aussprechen dürfen, was uns da bewegt und uns fragend dastehen lässt. Ja, wir dürfen die Seiten seines Handelns, die für uns ganz dunkel bleiben, Gott vorhalten, brauchen da nichts diplomatisch zu verklausulieren. Gott blickt ohnehin in unser Herz, lässt es zu, dass wir klagen, wie er es auch ertragen hat, dass sein eigener Sohn ihm gegenüber seine Klage herausgeschrien hat: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

II.
Doch der Verfasser unserer Predigtlesung belässt es schließlich nicht bei der Klage. Nur auf Klagen, nur auf Fragezeichen kann eine Beziehung zu Gott auf die Dauer nicht aufgebaut sein. Nein, der hier klagt, versucht nicht, sich selber irgendwelche Antworten auf seine Fragen und Klagen zurechtzulegen. Die Klagen bleiben stehen, auch in ihrer ganzen Heftigkeit.

Doch dann setzt der, der geklagt hat, noch einmal ganz neu an: Er setzt an bei der Grundlage seiner Beziehung zu Gott, die ihm letztlich auch das Klagen überhaupt erst ermöglicht: Er erinnert sich daran: Gott hat sich doch schon längst mit seinem Volk und damit ganz konkret auch mit mir verbunden, hat doch sein Versprechen gegeben, dass er sich nicht von mir abwenden, mich nicht für immer verstoßen will. Ja, versprochen hat mir Gott, dass seine Liebe und seine Güte das letzte und entscheidende Wort in der Beziehung zwischen ihm und mir haben sollen.

Und genau darauf sollen und dürfen auch wir uns verlassen, wie der Verfasser der Klagelieder damals auch. Ja, wir haben in Wirklichkeit sogar noch viel mehr Grund, bei Gottes Versprechen, bei dem Bund anzusetzen, den er zwischen sich und uns geschlossen hat. Gott hat es uns doch ganz eindrücklich gezeigt, dass seine Liebe und Treue nicht bloß nette Worte sind, sondern dass er es damit ganz ernst meint, todernst geradezu. Wenn wir Gott in dem, was wir in dieser Welt und in unserem Leben erfahren, so gar nicht verstehen können, dann sollen und dürfen wir auf den gekreuzigten Christus blicken. Da hat Gott seinen neuen Bund mit uns geschlossen, hat ihn gerade so geschlossen, dass er selber all das durchlitten hat, was wir Menschen so gar nicht verstehen und begreifen können. Da am Kreuz, da hat Gott sich endgültig darauf festnageln lassen, wer er in Wirklichkeit ist: ein Gott, der uns Menschen so sehr liebt, dass er bereit ist, auf alles zu verzichten, nur damit wir für immer in seiner Gemeinschaft leben. Wir bekommen das mit unseren anderen Erfahrungen oft genug nicht zusammen; doch von dem Verfasser der Klagelieder können wir lernen, von unseren Fragen, die wir haben mögen, immer wieder wegzublicken auf Gottes ganz klare Versprechen und Zusagen, die er uns gibt.

Heute haben wir es im Gottesdienst wieder miterleben können, wie Gott mit einem Menschen seinen Bund geschlossen hat, ihm die unverbrüchliche Zusage gegeben hat, dass er ihn in alle Ewigkeit lieben und ihn in alle Ewigkeit leben lassen wird. Es mag sein, dass auch Oliver in seinem Leben Gott nicht immer verstehen wird. Doch Gott geb’s, dass er sich zugleich immer wieder an seiner Taufe festhalten kann, dass er jeden Morgen von Neuem fröhlich und dankbar sprechen kann: Gott sei Dank, ich bin getauft, ich bin und bleibe Gottes Kind, was auch in meinem Leben geschehen mag. Ja, auch dazu leitet uns Gott an, uns so konkret auf seine Versprechen zu berufen. Gott lässt sich bei seinen Versprechen packen, auch heute noch, ganz gewiss.

III.
Und dann macht der Verfasser der Klagelieder hier noch etwas: Er setzt in seinem Leben alles auf eine Karte.
Was hier in unserer Predigtlesung steht, klingt erst einmal ziemlich fromm und harmlos: „Der HERR ist mein Teil, spricht meine Seele.“ Doch was heißt das eigentlich? Als damals nach dem Einmarsch des Volkes Israel ins Gelobte Land dieses Land unter den verschiedenen Stämmen Israels aufgeteilt wurde, bekam der Stamm Levi kein Land ab; stattdessen erhielt er das Privileg, im Tempel Gott dienen und ihm damit besonders nahe sein zu dürfen. „Der HERR ist dein Teil“, so hieß es damals bei der Aufteilung des Landes. Und nun nimmt der Verfasser der Klagelieder dieses besondere Privileg für sich persönlich gerade in dem Augenblick in Anspruch, als der Tempel zerstört ist und es scheinbar völlig unsinnig ist, sich darauf noch berufen zu wollen.

Doch der Verfasser der Klagelieder meint hier noch mehr: Er meint in der Tat: Ich setze alles in meinem Leben auf eine Karte, und diese eine Karte heißt Gott. Ich kapiere ihn in vielem nicht, und doch vertraue ich darauf, dass mein Leben dadurch seinen Sinn erhält, dass ich mich zu Gott halte. Gott selbst wird mir einmal bei sich für immer ein Zuhause einräumen, und das ist unendlich wichtiger als alles, was ich sonst in meinem Leben bekommen kann.

Wie sieht das bei dir aus, in deinem Leben? Setzt du auch alles auf die eine Karte, setzt du dein Leben auch ganz auf Gott? Oder ist dir anderes erst einmal wichtiger? Hauptsache, ich verdiene in meinem Leben ordentlich Geld; Hauptsache, ich habe ein schönes Familienleben; Hauptsache, ich habe meine Hobbys und Freunde; Hauptsache, ich habe meinen Spaß!? Der Verfasser der Klagelieder hat es am eigenen Leibe erfahren: All das kann Gott einem nehmen, mitunter auch sehr plötzlich. Das Einzige, was einem wirklich niemand nehmen kann, ist das Zuhause bei Gott. Was auch für Katastrophen in unserem Leben über uns hereinbrechen mögen: Wer Gott als sein Teil hat, der wird am Ende auf jeden Fall als Gewinner dastehen. Setze darum in deinem Leben alles auf diese eine Karte; richte dein Leben ganz auf Gott aus, räume ihm die Zeit und den Platz ein, der ihm gebührt. Dann magst du manches in deinem Leben immer noch nicht verstehen; aber du wirst einmal mit dabei sein, wenn Gott es dir erklären wird, wenn du erkennen wirst, warum Gott all das getan hat, was dir jetzt noch so rätselhaft erscheint. Gott geb’s, dass in deinem Leben nicht erst eine Katastrophe geschehen muss, bis du das kapierst. Ja, Gott geb’s, dass auch du das in deinem Leben erfährst: Wer sich auf Gott verlässt, der wird am Ende nicht verlassen sein. Amen.