02.10.2011 | Jesaja 58,7-12 | Erntedankfest

Wie stellt ihr euch das Paradies auf Erden vor? Vielleicht tatsächlich so ähnlich wie in einer Ausschreibung des Tourismusamtes von Queensland in Australien vor zwei Jahren. Das bot nämlich eine Stelle als Bewohner einer kleinen Insel im Gebiet des Great Barrier Reefs an. Man wurde dort gratis in einer schönen Villa am Meer mit Pool untergebracht, erhielt ein Gehalt von 78.000 Euro und hatte nur die eine Aufgabe, im Internet von dem schönen Wetter und der schönen Insel zu schwärmen und damit Werbung für den Tourismus in dieser Region zu machen. Mehr als 30.000 Bewerbungen gingen für diesen Job ein – ja, das klang wirklich nach dem Paradies auf Erden.

Wie stellt ihr euch das Paradies auf Erden vor? Auch als Leben am Strand einer Südseeinsel? Oder würdet ihr das Paradies lieber doch hier in Berlin ansiedeln? Keine Schule, Geld, so viel, wie man will, tägliches kostenloses Essen bei McDonalds, wöchentliche Ausflüge in den Heidepark, Computerspiele bis zum Abwinken? Je nach Altersstufe könnte man jetzt sicher noch die verschiedensten paradiesischen Szenarien entwickeln, die wir uns so vorstellen könnten. Doch wohl den allermeisten Paradiesen wäre vermutlich eines gemeinsam: Was sie so schön macht, ist, dass wir alles bekommen, was wir gerne haben wollen.

Paradiesische Zustände beschreibt auch der Prophet in den Worten der alttestamentlichen Lesung des heutigen Erntedankfestes: Er verspricht uns, dass wir strahlen werden vor Freude, dass Wunden bei uns heilen werden, dass wir keinen Mangel leiden werden, sondern im Gegenteil unbeschreiblichen Überfluss erleben werden. Doch was Jesaja hier schildert, ist nicht bloß ein Traumjob für einen Einzelnen und ist erst recht nicht bloß ein schöner Wunschtraum, der mit der Realität nichts zu tun hat. Sondern Jesaja spricht schon ganz konkret davon, wie es uns Menschen richtig gut, ja geradezu paradiesisch gut gehen kann. Doch dieses Paradies besteht nun gerade nicht darin, dass wir alles haben und bekommen, was wir uns wünschen, so zeigt es uns Jesaja. Sondern dieses Paradies fängt da an, Wirklichkeit zu werden, wo wir nicht alles für uns haben wollen, sondern ganz von uns selber wegblicken, hin
- auf unseren Nächsten
- auf Gott

I.
Ein Paradies hatten sich damals vor zweieinhalbtausend Jahren auch die Israeliten erhofft, die aus der babylonischen Gefangenschaft nach Jerusalem zurückgekehrt waren. Jetzt, so dachten sie, würde eine neue Heilszeit anbrechen mit paradiesischen Zuständen im heiligen Land. Doch von diesen paradiesischen Zuständen war auch Jahre und Jahrzehnte nach der Rückkehr aus Babylon in Jerusalem wenig zu spüren. Mit viel Mühe hatte man den Tempel wieder aufgebaut; aber der Rest von Jerusalem war immer noch eine ziemliche Ruinenlandschaft, und eine richtige Stadtmauer gab es auch immer noch nicht. Doch schwerer wog noch anderes: Man hielt zwar wieder Gottesdienste im Tempel; doch ansonsten verhielt man sich in der Stadt im Umgang miteinander wieder genau so, wie es die Propheten schon vor dem babylonischen Exil kritisiert hatten: Gottesdienst und Alltagsleben wurden fein säuberlich voneinander getrennt; wer in den Aufbaujahren zu Reichtum gekommen war, pflegte seine Frömmigkeit im Tempel, aber zeigte, wenn er den Tempel verließ, kein Erbarmen mit den Armen und Hungernden, deren Lage sich immer weiter verschlechterte.

Doch nicht bloß die Armen und Hungernden klagten über ihre Not. Auch diejenigen, denen es bereits besser ging, jammerten darüber, dass ihre Lebenssituation von paradiesischen Verhältnissen  immer noch sehr weit entfernt sei. Und darauf reagiert nun Gott, schickt seinen Propheten und lässt dem Volk verkündigen, was denn da bei ihm ganz gründlich schief läuft, ja, warum bei ihm gerade keine paradiesischen Verhältnisse herrschen:
Das liegt daran, so macht es der Prophet deutlich, dass ihr allen Ernstes glaubt, das Paradies bestünde darin, dass ihr immer mehr bekommt und habt. Doch mit dieser Einstellung verbaut ihr euch gerade das Paradies. Der Schlüssel zum paradiesischen Leben ist gerade nicht das „Immer-mehr-haben-Wollen“, sondern der Schlüssel zum paradiesischen Leben ist, so paradox es auch klingen mag, persönliche Hingabe, die Offenheit für den Nächsten, die Bereitschaft, ihn am eigenen Leben teilhaben zu lassen.

Dass Hingabe an Gott und den Nächsten nicht heißt, dass wir darauf verzichten, Geld zu verdienen, um uns und unsere Familie zu ernähren, ist klar. Das Brot, das wir mit dem anderen teilen, muss in dieser Welt natürlich erst mal verdient werden. Und doch leuchtet es zugleich sogar vielleicht schon mit etwas Nachdenken ein, dass das, was Jesaja hier verkündigt, in Wirklichkeit gar nicht so irrsinnig ist: Wenn ich das Glück meines Lebens darin suche, immer mehr zu haben, immer mehr zu erleben, dann lebe ich letztlich immer aus dem Defizit heraus, weil ich sehe und spüre, was ich alles noch nicht besitze, was ich noch nicht erlebt habe. Doch wenn ich mein Leben mit anderen teile, abgebe von dem, was ich habe, dann erfahre ich mich darin selber als reicher Mensch, dem noch mehr geschenkt worden ist, als er eigentlich braucht, dann erfahre ich, wie ich weiterreiche, womit ich selber beschenkt worden bin.

Schwestern und Brüder, wenn der Prophet hier in den Worten unserer alttestamentlichen Lesung immer wieder argumentiert: Wenn du das und das tust, dann wird das und das geschehen, dann will er uns damit nicht weismachen, dass wir uns mit unseren guten Werken, mit unserer Hingabe irgendwie bei Gott den Himmel verdienen könnten, ihn damit gnädig stimmen könnten. Abgeben, uns hingeben können wir als Christen nur, weil wir davon leben, dass Gott sich uns ganz und gar hingegeben hat, dass er auf alles verzichtet hat, was ihm lieb und wichtig war, als er seinen Sohn für uns hat am Kreuz sterben lassen. Doch genau das soll und kann unser Leben als Christen nun so prägen, dass wir als Christen anders leben können, dass wir als Christen gerade so auch glücklich leben können, dass wir nicht immer mehr haben wollen, sondern uns vielmehr der Not derer öffnen, die auf unsere Zuwendung angewiesen sind.

Schwestern und Brüder, es geht nun gar nicht zuerst und vor allem darum, dass wir von dem Geld, was wir haben, einen Teil an Bedürftige spenden. Jesaja möchte gar nicht, dass wir uns auf diese Art und Weise aus seiner Anleitung zu einem glücklichen Leben gleichsam freikaufen. Gewiss merken wir auch und gerade an unserem Umgang mit Geld und Besitz, ob wir tatsächlich in der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes leben oder immer noch so sehr an dem kleben, was scheinbar doch uns und nur uns gehört. Aber Jesaja geht es noch um mehr, es geht ihm hier darum, dass wir, wie er es so schön formuliert, den Hungrigen unser Herz finden lassen. Hungrige – ja, damit meint Jesaja gewiss auch Menschen, die auf ganz praktische Hilfe von uns angewiesen sind, aber nicht zuletzt auch Menschen, die hungrig sind nach Liebe, nach Zuwendung, nach Anerkennung, Menschen, die hungrig danach sind, nicht als minderwertig von oben herab behandelt zu werden, sondern wahrgenommen und respektiert zu werden als Brüder und Schwestern. Den anderen das eigene Herz finden zu lassen, nicht nur auf den eigenen Vorteil aus zu sein, sondern für andere da zu sein – ja, genau das können und werden wir, so hoffe ich, auch jetzt wieder auf unserer Jugendkreis-Herbstfreizeit miteinander einüben.

Nein, Jesaja fuchtelt hier nicht mit der Moralkeule herum. Sondern er verspricht uns im Gegenteil, dass es uns paradiesisch gut geht, wenn wir von dem Bestreben lassen, immer mehr haben zu wollen, und unseren Lebensinhalt in der Hingabe an andere finden. Doch dazu müssten wir uns in der Tat erst einmal auf seine Worte einlassen, und das fällt uns eben so schwer. Und damit sind wir schon bei dem anderen Teil seiner Botschaft:

II.
Das Paradies fängt da an, wo Menschen ganz von sich selber wegblicken auf Gott.
Im Verlaufe der Geschichte haben Menschen ja schon verschiedentlich versucht, ein Paradies auf Erden dadurch zu schaffen, dass alle Menschen auf ihren Besitz verzichten, dass alle nur noch alles gemeinsam haben. Doch all diese Versuche sind gescheitert und müssen scheitern, so können wir es schon hier aus den Worten des Propheten Jesaja erkennen. Denn zur Hingabe an den Nächsten, zum Verzicht zugunsten des Nächsten gehört immer auch zugleich die Hinwendung zu Gott, so macht es der Prophet hier deutlich. Wenn wir Gott aus unserer Sehnsucht nach einem Paradies ausklammern und glauben, wir könnten dieses Paradies mit etwas gutem Willen selber schaffen, dann müssen wir uns nicht wundern, wenn am Ende doch wieder nur die Hölle herauskommt.

Hingabe an den Nächsten kann letztlich nur da gelingen, wo ich zugleich mit meinem Leben ganz an Gott rückgebunden bin, wo er mich festhält, und mir damit die Angst nimmt, ich könnte in meinem Leben etwas versäumen, wenn ich in meinem Leben nicht alles auf mich selber ausrichte. Paradiesisch wird unser Leben erst da, wo wir erkennen, dass der tiefste Sinn unseres Lebens in der Hingabe an ihn liegt, der selber die Liebe ist. Wer sein Leben in der Verbindung mit Gott führt, der wird in der Tat zu einer Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt, der kann dieses Wasser des Lebens dann auch in der Hingabe an den Nächsten weiterreichen.

Ganz unvollkommen wird diese Hingabe an den Nächsten bei uns immer bleiben, ganz klar. Wir merken, wie schwer wir uns damit tun, loszulassen, was uns gehört, wir merken, wie uns die Angst umtreibt, in unserem Leben zu kurz zu kommen und nicht genügend zu erleben. Wir merken, wie schwer wir uns damit tun, unsere Liebe auch denen zukommen zu lassen, die uns nicht gleich sympathisch sind. Die Wenigsten von uns haben bei sich zu Hause Obdachlose wohnen; ja, wir schaffen es oftmals ja noch nicht einmal, darauf zu verzichten, auf andere mit dem Finger zu zeigen, die aus unserer Sicht doch viel schlechter sind als wir selber. Ja, wenn das Paradies nur daran hinge, dass wir umsetzen, was Jesaja den Israeliten damals ans Herz legte, dann bliebe das Paradies für uns immer nur ein unerreichbarer Wunschtraum. Doch Gott antwortet auf unsere Bitte um Vergebung für unser Versagen, für unser so wenig paradiesisches Leben, schließt uns die Tür zum Paradies immer wieder von Neuem auf, wenn uns die Hand aufgelegt und es uns auf den Kopf zugesprochen wird: Dir sind deine Sünden vergeben. Da schenkt Christus selber dir die Kraft zum Neuanfang und damit auch zur Hingabe, da hilft er dir, schon hier und jetzt zu erfahren, wie ein scheinbar weltfremdes Leben in der Hingabe an den Nächsten in Wirklichkeit glücklich macht.

Erntedankfest feiern wir heute, lassen uns daran erinnern, wie Gott uns immer wieder von Neuem viel reicher beschenkt, als wir es verdient haben. Erntedankfest feiern wir heute, damit das Jammern über all das, was wir nicht haben, verstummt und der neidische Blick auf das, was andere haben und wir nicht, hingelenkt wird auf das, was Gott uns schon längst geschenkt hat. Ein Blick auf diese Gaben und ein Blick in unserem Alltag auf Menschen, denen es so viel schlechter geht als uns, macht uns wieder deutlich, dass jeder Tag, den wir erleben, trotz all der Probleme, die wir haben mögen, immer noch „another day in paradise“, ein weiterer Tag im Paradies ist, wie es Phil Collins in einem seiner Lieder sehr eindrücklich beschrieben hat. Wir sind so reich beschenkt von Gott in jeder Hinsicht, dass wir wahrlich nicht auf eine Südseeinsel jetten müssen, um dort das Paradies zu finden. Das finden wir schon hier, dürfen schon jetzt einen Vorgeschmack jenes Paradieses in Vollendung erleben, wenn Christus selbst uns Hungrigen das Brot bricht und uns mit seinem Leib und Blut sättigt hier im Heiligen Mahl. Mehr können wir in Wirklichkeit gar nicht haben; da haben wir im Gegenteil schon mehr als genug zum Abgeben. Gott geb’s, dass Menschen genau dies dann auch in unserer christlichen Gemeinde immer wieder erfahren: Hier finden wir ein Dach, unter dem alle Platz haben; diesen Ort müssen wir nie hungrig und durstig verlassen. Hier geht es anders zu als sonst auf der Welt; hier wird unser Leben heil. Ja, hier bekommen wir schon eine Vorahnung davon, wie es einmal für immer sein wird – im Paradies. Amen.