13.06.2011 | 1. Mose 11,1-9 | Pfingstmontag

Thessa aus Bramfeld ist 16 geworden. Das weiß mittlerweile die ganze Republik. Denn per Facebook hatte sie zu ihrer Geburtstagsparty eingeladen. Leider hatte sie jedoch bei ihrer Einladung einen kleinen Fehler gemacht und ein Häkchen an der falschen Stelle gesetzt. Und so wurde aus der privaten Geburtstagsparty eine öffentliche Veranstaltung, zu der sich Facebook-Nutzer aus ganz Deutschland anmeldeten. Innerhalb von kurzer Zeit waren es nicht weniger als 16.000, die ihr Kommen zu der Party ankündigten; Thessa-T-Shirts wurden gedruckt, ein Thessa-Geburtstags-Song wurde komponiert; Reisegruppen aus allen Teilen Deutschlands organisierten Fahrten nach Hamburg, um Thessa persönlich gratulieren zu können. Voller Entsetzen sagte Thessa die geplante Geburtstagsfeier gleich wieder per Facebook ab; doch es war bereits zu spät. Am Vorabend ihres Geburtstags versammelten sich schließlich immerhin noch 1.600 Jugendliche vor Thessas Haus, trampelten Zäune nieder und Vorgärten platt und hielten die Polizei kräftig in Schach, zumal die meisten von ihnen im Laufe des Abends nicht gerade nüchterner wurden. Thessa selber war bereits längst vorher zu ihrer Oma geflüchtet; doch mit ihrer unfreiwilligen Berühmtheit wird sie von nun an leben müssen.

Ja, was sich da vor einigen Tagen in einer Reihenhaussiedlung in Hamburg abspielte, wäre vor einigen Jahren noch gar nicht vorstellbar gewesen. Die moderne Kommunikationstechnik macht es möglich, Menschen in früher ungeahntem Ausmaß miteinander zu verbinden. Das hat gewiss sehr viele Vorteile – aber wohin das alles führen kann, hat eben auch nicht bloß Thessa schon leidvoll erfahren müssen.

So neu ist die Geschichte mit Thessa in Wirklichkeit nämlich gar nicht; die wird uns in etwas veränderter Form auch schon gleich zu Beginn der Bibel, im 11. Kapitel des 1. Mosebuchs, berichtet. Da beschreibt der Erzähler, wie Menschen sich schon von Beginn der Menschheitsgeschichte an in Bewegung setzen, sich verändern, zu neuen Ufern aufbrechen. Das steckt in uns Menschen drin, dass wir Neues entdecken, Neues ausprobieren wollen, dass wir die Umstände, unter denen wir leben, verbessern wollen. Erfinderisch sind wir Menschen von Anfang an gewesen, so berichtet es uns hier der Erzähler: Damals begnügten sich die Menschen nicht bloß damit, in ein neues Siedlungsgebiet zu ziehen, sondern sie entwickelten auch neue Bautechniken, schufen haltbare Baumaterialien, kamen auf die Idee, die gebrannten Ziegel durch Asphalt als Mörtel miteinander zu verbinden. Das war damals schon mindestens so clever wie die Idee von Herrn Zuckerberg mit dem Facebook-Portal. Doch nun begnügen sich die Menschen nicht damit, sich mit dem neuen Baumaterial ihre Häuser zu bauen. Ein gemeinsames Projekt muss her, und alle müssen mitmachen: „Lasst uns“, so heißt es hier gleich zweimal. Da reden einige gleich für alle, und der Rest kann sich dem dann schwerlich verweigern, wenn durch das „Lasst uns“ doch jeder gleich mit vereinnahmt wird. Eine Metropole soll gebaut werden mit einem Stadtturm, dessen Spitze bis an den Himmel reicht, bis in den Bereich Gottes. Einen Namen machen wollen sich die Erbauer damit, wollen sich dadurch unsterblich machen, sich eine Zukunft sichern – auch ohne Gott, mit dem sie durch ihr Bauwerk doch gleichzuziehen gedenken.

Hochaktuell ist der Zwiespalt, den der Erzähler hier in diesen Versen am Beginn der Bibel beschreibt: Ist es falsch, sich um Fortschritt zu bemühen und Neues zu erfinden? Nein! Ist es falsch, eine große Stadt zu bauen, hohe Türme, Wolkenkratzer zu bauen? Nein! Ist es falsch, E-Mail-Programme und Facebook zu benutzen? Nein! Ist es falsch, Organisationen zu schaffen, die Menschen verschiedener Herkunft in einer größeren Einheit zusammenzufassen? Nein! Ist es falsch, in einer Europäischen Union zu leben oder bei den Vereinten Nationen mitzumachen? Nein! Und doch verbergen sich in all dem, was eigentlich nicht falsch, was eigentlich ganz vernünftig und lobenswert erscheint, immer wieder die gleichen Gefahren:
Das geht schon los mit dem „Lasst uns“: Wir kennen diesen Gruppendruck schon im kleineren Rahmen: Wenn alle anderen mitmachen, dann kann ich mich doch nicht ausklinken, dann muss ich doch auch mit dabei sein! Nun ist auch das ja nicht unbedingt falsch; in vielen Fällen ist das ja auch völlig in Ordnung und sogar gut und sinnvoll, wenn wir uns an dem beteiligen, was sich eine Gruppe von Menschen, zu der wir gehören, so vorgenommen hat. Wenn sich eine Gruppe von Freunden trifft und beschließt, miteinander ins Kino zu gehen, dann haben wir erst einmal keinen Grund zu sagen, da könnten wir nicht mitmachen, das sei ja Gruppendruck. Doch anders ist es natürlich schon, wenn die Gruppe sich etwas vornimmt, was eigentlich mit unserem Christsein nicht zu vereinbaren ist: Lasst uns gemeinsam uns ins Koma saufen, lasst uns gemeinsam den Typen da hinten abziehen – da kann und darf das für uns eben kein Argument sein, dass die anderen das auch machen und ich doch nicht als Außenseiter dastehen kann. Und dieser Gruppendruck kann in größerem Rahmen natürlich noch ganz andere Ausmaße annehmen: Wir kennen das aus Diktaturen, in denen alle dasselbe tun und denken sollen, in denen es geradezu als Verbrechen geahndet wird, eigene Wege zu gehen, sich dem zu verweigern, was doch alle anderen auch machen: „Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“ Und auf diesem Hintergrund sollen wir durchaus auch immer wieder kritisch hinterfragen, was größere Organisationen wie etwa auch die EU uns in vielleicht sogar guter Absicht als verbindlich vorgeben und was sich ja längst schon nicht mehr auf die Normgröße von Bananen beschränkt. Dass Zusammenschlüsse von Menschen schnell eine Eigendynamik entwickeln, wissen wir eben nicht erst seit Thessas Geburtstag.

Und damit sind wir schon bei der zweiten Gefahr, die der Erzähler uns hier in der biblischen Geschichte vor Augen stellt: Die Menschen glauben, ihre Zukunft allein, ohne Gott, sichern zu können, selber wie Gott werden zu können und damit auf Gott letztlich verzichten zu können. Damals hatten die Menschen noch die naive Feststellung, sie könnten mit einem genügend hohen Bauwerk vielleicht doch schon in den Bereich Gottes vorstoßen. Heute sehen die Grenzüberschreitungen, die Menschen vornehmen, ein wenig anders aus: Menschen maßen sich an, darüber zu entscheiden, welcher Mensch ein Lebensrecht hat und welcher nicht, welcher Mensch am besten erst gar nicht geboren werden sollte und welcher Mensch den Krankenkassen oder den Angehörigen nicht mehr allzu lange auf der Tasche liegen sollte. Menschen fangen an, Gott zu spielen, Herr über Leben und Tod, nehmen sich das Recht zur Selektion menschlichen Lebens heraus, propagieren als Fortschritt, was in Wirklichkeit doch ein Eingriff in Gottes Hoheitsbereich ist, und berufen sich dabei darauf, dass dies doch dem Willen der Mehrheit, dem gesunden Volksempfinden, entspricht. Doch Zukunftssicherung ohne Gott, das geschieht nicht nur, wo es um Gentechniken und Embryonen, wo es um Entscheidungen über das Leben alter und kranker Menschen geht. Sondern das geschieht ganz unspektakulär im Alltag so vieler Menschen: Sie bauen sich ihre eigene Lebenswelt auf, möchten am liebsten den Himmel auf Erden in ihrem Leben schaffen – und lassen für Gott in dieser Lebenswelt überhaupt keinen Platz. Sich selber einen Namen zu machen durch die Zeugung von Nachkommen, durch Karriere, durch einen großen Bekanntenkreis – das reicht doch; wozu brauche ich noch Gott, wenn ich auch so genügend Spaß im Leben haben kann? Extrem kurzsichtig ist solches Denken, unterschätzt Gott völlig, unterschätzt völlig die Möglichkeiten, die er hat, in unser menschliches Leben einzugreifen.

Mit bitterer Ironie beschreibt der Erzähler hier, wie Gott sich gleichsam aus dem Himmel ganz tief herabbeugt, um diesen scheinbar so riesigen Turm, der bis an Gottes Welt heranreichen soll, überhaupt wahrnehmen zu können: „Ist der süß!“ Doch Gott begnügt sich nicht mit der Betrachtung des Turms. Er weiß, wie sich die Dinge weiterentwickeln, wenn Menschen ohne ihn, Gott, ohne seine Maßstäbe glauben, alles umsetzen zu können, was sie sich ausgedacht haben. Er weiß, wie sich die Dinge weiterentwickeln, wenn Menschen sich berauschen lassen von dem Gedanken einer Einheitswelt, einer Einheitsregierung, einer Einheitssprache, wenn Vielfalt und Querdenken nicht mehr erwünscht sind.  Er weiß, wie kurzsichtig es ist, wenn Menschen glauben, Gott aus ihrer Zukunftsplanung ausklammern zu können. Und so greift Gott hier ein: Er verwirrt die Kommunikation zwischen den Menschen, dass sie einander nicht mehr verstehen können und sich so, getrennt nach Sprachen, zerstreuen und in verschiedenen Ländern ansiedeln. Ist das nun eine Strafe Gottes oder eine gnädige Rettungsmaßnahme für die Menschen, die Gott mit dieser Sprachverwirrung vornimmt?

Es gilt wohl beides zugleich: Nicht nur viele Schüler, die sich mit Fremdsprachen schwertun, würden sich von Herzen wünschen, es hätte die babylonische Sprachverwirrung nicht gegeben; wir erleben es ja auch darüber hinaus, wie oft wir Menschen uns selbst bei gleicher Muttersprache gründlich missverstehen und aneinander vorbeireden, erleben es, wie es sich gerade auch in der Kommunikation, im Gespräch immer wieder auswirkt, dass wir Sünder sind, Menschen, die um sich selber kreisen und deren Herz eben nicht ganz auf Gott und sein Wort ausgerichtet ist. Umgekehrt wissen nicht nur Dolmetscher darum, dass verschiedene Sprachen auch einen großen Reichtum bedeuten, dass wir Menschen viel weniger von dem, was wir in dieser Welt erfahren und empfinden, ausdrücken könnten, wenn es nur eine Sprache gäbe. Ja, verschiedene Sprachen können etwas Wunderbares sein – wenn wir nur Wege finden, über Sprachgrenzen hinweg miteinander in Verbindung zu kommen.

Und damit sind wir auch schon bei dem Fest, das wir heute feiern, dem Heiligen Pfingstfest. Da feiern wir, dass Gott sich eben nicht bloß damit begnügt hat, damals die Sprachen der Menschen zu verwirren, sondern dass er gleichsam noch einmal ganz von vorne angefangen hat, von sich aus trotz aller unterschiedlichen Sprachen eine Einheit der Menschen zu schaffen, eine Einheit, die gerade nicht Menschen von Gott wegführt und sie dazu veranlasst, sich an Gottes Stelle zu setzen, sondern eine Einheit, die gerade dadurch verwirklicht wird, dass Menschen gemeinsam ihn, Gott, als ihren Herrn anerkennen.

Gewiss, man kann auf vielen Ebenen versuchen, Einheit über Sprachgrenzen hinwegzuschaffen – auf politischem Gebiet oder durch Schüleraustausch oder durch das Praktizieren gemeinsamer Hobbys oder das Pflegen gemeinsamer Weltanschauungen oder auch schlicht und einfach dadurch, dass man sich über Sprachgrenzen hinweg besäuft. Doch solche Einheitsbemühungen bleiben immer begrenzt, und ihre Ergebnisse bleiben immer wieder sehr wacklig. Doch die Einheit, die Gott selber schafft, die hat eine ganz andere Basis, die hat von daher auch eine ganz andere Festigkeit. Sie beruht nicht auf dem guten Willen aller Beteiligten und auch nicht darauf, dass alle Beteiligten sich möglichst ähnlich sind. Sondern sie beruht einzig und allein darauf, dass alle, die in diese Einheit aufgenommen werden, von einem Neuanfang Gottes profitieren, davon, dass Gott ihnen ihre Schuld, ihre Gottesvergessenheit, ihre Abwendung von ihm durch die Hingabe seines Sohnes am Kreuz vergeben hat. Und diese Vergebung, die wirkt sich dann eben auch im Umgang miteinander in dieser Einheit auf: Der andere, die andere muss nicht so werden wie ich, der oder die kann ruhig ganz anders sein und bleiben als ich, eine andere Sprache sprechen, eine andere Partei wählen, einen ganz anderen Geschmack haben als ich. Und dennoch sind sie Bruder und Schwester, leben mit mir aus derselben Vergebung Gottes, leben immer wieder neu von Gottes großem Neuanfang in ihrem Leben. Gemeinsam mit mir fragen sie nach Gottes Willen für unser Leben, gemeinsam mit mir teilen sie die Freude über das, was Christus für uns getan hat.

Ja, die Kirche ist Gottes Antwort auf den Turmbau zu Babel: Die Kirche ist eben gerade nicht der Versuch von uns Menschen, an Gott heranzukommen, sondern sie ist Gottes Angebot, mit uns Menschen in Verbindung zu kommen. Eine Einheit schafft Gott in dieser Kirche, die nach menschlichem Ermessen doch gar nicht möglich scheint und die wir doch hier in unserer Gemeinde immer wieder auch ganz handgreiflich erfahren können: Alte und Junge, Besserverdienende und Hartz IV-Empfänger sitzen hier nebeneinander in der Kirchenbank; Juden und Perser, Russen und Amerikaner, Afrikaner und sogar ein paar Deutsche finden sich hier in diesem Kirchgebäude unter dem Kreuz Christi ein, singen und beten miteinander, knien nebeneinander am Altar und werden durch die Teilhabe am Leib und Blut Christi zu dem einen Leib Christi zusammengeschlossen. Ja, uns verbindet unendlich mehr als die Facebook-Gemeinde; bei uns geht hier in jedem Gottesdienst noch unendlich mehr ab als bei Thessa vor ihrem Wohnzimmerfenster. Bleibt nur zu hoffen, dass sich das allmählich auch bei Facebook rumspricht. Wir hätten auch gegen 16.000 Besucher eigentlich nichts einzuwenden! Amen.