22.04.2011 | St. Lukas 23,33-49 | Karfreitag

Wir haben ja wirklich keine Ahnung. Keine Ahnung haben wir davon, was dieser kurze Satz, den St. Lukas hier schreibt, in Wirklichkeit bedeutet: „Sie kreuzigten ihn dort.“ Die ersten Hörer und Leser des Lukasevangeliums, die hatten zumindest eine Ahnung davon, was das hieß, hatten Kreuze und Gekreuzigte vermutlich selber schon gesehen, wussten aus eigener Anschauung, dass es die brutalste und entehrendste Form der Todesstrafe war, die man sich überhaupt nur vorstellen konnte. Eine leise Ahnung dessen, was diese Worte des heiligen Lukas in Wirklichkeit bedeuten, können wir uns verschaffen, wenn wir uns schlicht und einfach medizinisch kundig machen, was bei einer Kreuzigung eigentlich geschah, wo und wie die langen Nägel durch die Handgelenke und die Füße getrieben wurden, was für körperliche Reaktionen das Hängen am Kreuz auslöste, wie der Gekreuzigte schließlich einen qualvollen Erstickungstod starb. Schon allein der Gedanke daran mag uns beinahe unerträglich erscheinen, erst recht, wenn wir den kennen und lieben, der dies durchgemacht hat. Doch letztlich können wir uns selbst mit noch so vielem guten Willen nicht in ihn, den Gekreuzigten, hineinversetzen, in das, was er in jenen Stunden von seiner Verurteilung durch Pilatus bis zu seinem letzten Atemzug tatsächlich durchgemacht hat.
 
St. Lukas verzichtet hier in seinem Evangelium auch darauf, die Qualen Jesu im Einzelnen darzustellen und auszumalen. Er versucht hier nicht, literarisch mit Mel Gibsons Film „Die Passion Christi“ mitzuhalten, uns mit Details der Pein Jesu zu schocken, aufzurütteln, zu bewegen. Ihm geht es um Anderes, ja um mehr: Ihm geht es darum, zu schildern, was für einen Sinn dieses entsetzliche Geschehen eigentlich hat, was für eine Bedeutung auch für uns. Lukas erzählt einfach, und indem er erzählt, beginnt sich genau dieser Sinn, diese Bedeutung der Kreuzigung Christi auch für uns zu erschließen. Das Kreuz Christi ist, so zeigt es uns der Evangelist,
Zeichen des Anstoßes
Königsthron
Zentrum der Welt

I.
Vor einigen Tagen habe ich mich daran gemacht, Konfirmationskreuze für unsere Konfirmanden im Internet zu bestellen. Das war gar nicht so einfach. Gesucht habe ich nach einem Kreuz, auf dem auch tatsächlich Jesus Christus abgebildet ist, das also nicht einfach nur als netter Schmuckgegenstand taugt. Doch solche Kreuze findet man mittlerweile kaum noch als Bronzeanhänger. Stattdessen wird einem im Internet eine Parade von Geschmacklosigkeiten in Kreuzform präsentiert: Hübsche, bunte Kreuzchen in trendigen Modefarben, die nichts, aber auch gar nichts mehr davon erkennen lassen, wozu ein solches Kreuz eigentlich einmal gebraucht wurde, gekreuzigte Tauben und gekreuzigte Fische und gekreuzigte Bibelsprüche – nur kein gekreuzigter Christus. Der verkauft sich offenbar nicht. Mit Müh und Not habe ich schließlich bei einem Anbieter noch die dreißig letzten Kreuze mit Christus ergattert; mal sehen, ob ich in Zukunft wieder fündig werde.

Dabei hätte ich es eigentlich wissen sollen: Der Anblick eines gekreuzigten Christus ist nicht schön, so schildert es uns schon St. Lukas selber, wenn auch ganz zurückhaltend, auf seine Weise. Er beschreibt den Anblick des Gekreuzigten nicht; stattdessen richtet er seinen Blick auf die Soldaten, die da unter dem Kreuz sitzen und die Kleider des gekreuzigten Christus verteilen. Ja, alles haben sie ihm, Christus, ausgezogen, nichts haben sie ihm gelassen: Splitterfasernackt hängt er da am Kreuz – ein Anblick, der auch uns heute so anstößig ist, dass es kaum eine wirklich realistische Darstellung des gekreuzigten Christus in der Kunst gibt. Und wenn es ein Künstler dennoch wagen sollte, ihn, Christus, so darzustellen, wie er dort am Kreuz gehangen hat, dann löst das jedes Mal einen Skandal aus, wenn solch ein Bildnis irgendwo ausgestellt wird. Ja, auch auf den Kreuzen, die ich bestellt habe, hat man Jesus dann doch lieber wieder ein Tuch um die Lenden gewickelt.

Doch in Wirklichkeit hing er da ohne Tuch, schutzlos und wehrlos den Gaffern, den Schaulustigen unter dem Kreuz ausgeliefert. Und die begnügen sich nicht mit dem Gaffen, die reißen nun auch ihre Sprüche: die Oberen des Volkes, die Soldaten, selbst einer der beiden Mitgekreuzigten. Der Inhalt ihres Spotts ist immer derselbe: Es ist die augenfällige Diskrepanz zwischen der Aufschrift über dem Kreuz Jesu, dass hier der König der Juden hängt, und der scheinbaren Hilflosigkeit und Wehrlosigkeit dieses Nackedeis, der da unter diesem Schild nach Luft ringt. Ein gekreuzigter König, ein festgenagelter Auserwählter Gottes, ein hingerichteter Messias – was für ein Widerspruch, was für ein Unsinn! Ja, darüber kann man doch nur noch seine Witze reißen!

Ja, zutiefst eindrücklich schildert uns St. Lukas hier an dieser Stelle die Zumutung unseres christlichen Glaubens, die Zumutung eines Glaubens an einen gekreuzigten Gott. Wie gesagt, wenn wir denn nur eine Ahnung davon hätten, was es bedeutet, gekreuzigt zu werden, dann würde uns diese Zumutung noch viel deutlicher vor Augen stehen, würden wir uns niemals einfach an das Kreuz und den Gekreuzigten so gewöhnen können, wie wir es zumeist längt getan haben. Eine Elendsgestalt soll unser Gott sein, und das heißt ja auch umgekehrt: Gott soll sich selber so schwach gemacht haben, dass er Spott und Entehrung, Qualen und Tod erleidet? Das stellt doch unsere Vorstellung von einem großen und starken Gott ganz und gar auf den Kopf!

Ja, ein Zeichen des Anstoßes war und ist das Kreuz und soll es auch sein. Regen wir uns darum nicht darüber auf, wenn Menschen den Anblick des Kreuzes nicht ertragen können, versuchen wir ja nicht, den Anblick des Kruzifixus dadurch zu verharmlosen, dass wir ihn zum abendländischen Kulturgut erklären! Wenn Menschen sich beim Anblick eines Kruzifixus gar nichts mehr denken und dies einfach nur für normal halten, ist das bedenklicher, als wenn ihnen wenigstens der Skandal des Kreuzes noch bewusst ist. Doch Gott geb’s, dass wir an diesem Skandal des Kreuzes nicht bloß keinen Anstoß nehmen, sondern tatsächlich in dieser festgenagelten Gestalt unseren Herrn und Gott erkennen, dass wir gerade darin unser Heil und unseren Trost finden, dass Gott selber um unsertwillen so schwach geworden ist, dass er es bis heute um unsertwillen erträgt, verleumdet, verspottet, verlästert zu werden! Wie gut, dass uns das St. Lukas hier so eindrücklich in seiner Erzählung vor Augen stellt!

II.
Der Gekreuzigte soll ein König sein? Für die Umstehenden ist das nicht mehr als ein schlechter Witz. Doch einen gibt es, der tiefer blickt, der in Jesus den erkennt, der er in Wirklichkeit ist: „Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst“, so redet einer der beiden Mitgekreuzigten Jesus an, setzt sich bewusst ab von dem Geläster über Jesus, in das auch sein Kumpel auf der anderen Seite von Jesus mit eingestimmt hat. „Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst“ – jawohl, in dein Reich. So redet man einen König an, einen Herrscher über sein Reich. Und darauf lässt sich Jesus nun in der Tat ansprechen. Zu den Lästerreden der anderen schweigt er, versucht nicht, sich zu verteidigen, versucht nicht, sie in eine Diskussion zu verwickeln – einmal ganz abgesehen davon, dass man als Gekreuzigter zu langen Reden ohnehin nicht mehr in der Lage war. Doch für den Mitgekreuzigten, den Schächer, wie Martin Luther ihn genannt hat, hat Jesus noch einen Satz übrig, nein, nicht irgendeinen, sondern einen Satz, der die ganze Lebensperspektive dieses Mannes total verändert: In der Verdammnis befindet er sich, so hatte er es gerade zuvor selber festgestellt, hatte bekannt, dass er mit dem, was er getan hatte, sein Leben verwirkt hatte, nein, nicht nur sein irdisches Leben, sondern auch seine ewige Zukunft. Was ihm nun noch blieb, war das Gnadengesuch an den König. Und der König spricht sein Urteil zu ihm vom Kreuz, von seinem Königsthron: „Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“ Ja, diese Worte verändern alles: Sie machen aus einem verdammten Menschen einen Freigesprochenen, aus einem Menschen ohne Zukunftsperspektive einen Menschen, dessen Horizont sich nun bis in die ewigen Freuden des Paradieses weitet. Ja, darum hängt Christus da am Kreuz, damit dieser Schächer und alle anderen, die ihr Leben verfehlt haben, zu ihm kommen und aus seinem Mund Vergebung der Sünden, Leben und Seligkeit empfangen können.

„Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein!“ – Was für ein Trost auch für uns! Es gibt keine Sünde, die zu groß wäre, es gibt keine Biographie, die zu verkorkst wäre, dass wir uns nicht an ihn, Christus, den Gekreuzigten, wenden und um sein Erbarmen, um sein Gedenken bitten dürften. Ja, es gibt sie, gottlob, die Gnade für den Schächer, das Erbarmen für den, der sein ganzes Leben von Gott und seinem Wort nichts wissen wollte und am Ende nur noch diese eine Bitte um Vergebung zu äußern vermag. Nichts sagt Jesus davon, dass der Schächer nun im Jenseits erst noch mal all das wiedergutmachen müsste, was er hier in seinem Leben nicht mehr in Ordnung bringen konnte, nichts sagt Jesus davon, dass dieser Schächer schlechter behandelt würde als all die Menschen, die immer in der Gemeinschaft mit Gott ihr Leben geführt hatten. Auch der Schächer landet im Paradies, nicht mit Verzögerung, sondern sofort, heute noch.

Denke daran, wenn es einmal auf dein Sterben zugehen wird: Heute noch wirst du mit Christus im Paradies sein. Da gibt es keinen langen Zwischenraum, kein Wartezimmer zum Himmel, keinen Reinigungsort, den du erst noch durchlaufen müsstest. Du schließt die Augen – und sofort hast du ihn in alle Ewigkeit vor Augen, ihn, deinen Herrn und Heiland Jesus Christus, der auch für dich am Kreuz gehangen hat, damit du nicht im Dunkel des ewigen Todes versinkst. Ja, vergessen wir es nie: Das ist kein automatischer Prozess, dass wir nach unserem Tod im Paradies landen, das liegt nicht daran, dass wir von Natur aus eine unsterbliche Seele in uns tragen würden, die von unserem Sterben nicht betroffen wäre. Sondern das liegt einzig und ganz und gar daran, dass Christus dir persönlich den Himmel zuspricht, ja auch in diesem Gottesdienst, wenn er dir gleich wieder all deine Schuld hier am Altar vergibt in der Kraft dessen, was er am Kreuz für dich erlitten hat.

Vom Kreuz herab regiert Christus, unser König, spricht die frei, die ihn um Erbarmen bitten, und bittet auch für die um Vergebung, die selber noch gar nicht so weit sind, dass sie merken, dass sie diese Vergebung überhaupt nötig haben: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun! Ja, höre diese Worte, wenn dich der Kummer plagt über geliebte Menschen, die von Gott, von Christus, so gar nichts wissen wollen: Christus tritt im Gebet auch für die ein, die ihn ans Kreuz nageln, bittet auch für all diejenigen, die ihn noch nicht kennengelernt haben oder ihn schon wieder vergessen haben. Ja, für alle hängt er da am Kreuz: für verkrachte Existenzen, für seine Gegner, ja, auch für die, die dort unten stehen und sich die Mäuler über ihn zerreißen. Auch wenn sie es nicht ahnen: Sie stehen auch vor ihrem König, der sein Volk regiert mit Liebe, Vergebung und Erbarmen.

III.
Ja, was dort am Kreuz geschieht, hat in der Tat Auswirkungen auf die ganze Welt: Wenn er, der König der Welt, stirbt, dann verdunkelt sich das Angesicht der Erde, dann wird es finster. Ja, da zerreißt dann auch der Vorhang im Tempel, der das Allerheiligste, den Ort der Gegenwart Gottes, vom Rest des Tempels abtrennte: Weil er, der König der Welt, stirbt, nimmt er weg, was uns Menschen von Gott trennen könnte, versöhnt sich Gott selbst durch den Tod seines Sohnes mit uns und eröffnet uns den freien Zugang zu sich. Kein Ereignis der Weltgeschichte, die folgende Auferstehung Jesu einmal ausgenommen, hat eine solche Bedeutung für uns Menschen, als eben dies, was zu dieser Stunde in Jerusalem geschah; das Kreuz auf der Müllkippe von Golgatha in einer scheinbar abgelegenen römischen Provinz ist und bleibt in Wirklichkeit das Zentrum der Welt, der Wendepunkt der Weltgeschichte.

Und so stehst nun auch du jetzt und hier unter diesem Kreuz, und St. Lukas richtet mit seiner Erzählung die Frage auch an dich: Was bedeutet das nun für dich, was ich dir gerade geschildert habe? Wie reagierst du darauf? Bleibst du nur unbeteiligter Zuschauer, der sich das Spektakel des Kreuzes mit einer Mischung aus Neugier und Ekel angeschaut hat und nun sich wieder von ihm abwendet? Schüttelst du nur den Kopf über die Zumutung dessen, was du da nun gerade zu hören bekommen hast? Begnügst du dich damit, das Kreuz als trendigen Schmuckartikel in dein Leben zu integrieren, das sonst vielleicht mit Gott nicht viel zu tun hat? Oder bekennst du dich auch vor all den anderen, die nur herumlästern, zu ihm, wie es jener römische Hauptmann getan hat, erkennst du in ihm, dem Gekreuzigten, deinen König, deinen Herrn und Retter, so absurd dies auch erscheinen mag? Er hängt doch auch für dich dort – einzig und allein, damit sein rettendes Wort am Ende deines Lebens auch für dich gilt: „Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“ Amen.