15.01.2011 | 2. Mose 33,17b-23 | 2. Sonntag nach Epiphanias

Einmal im Jahr laden die Bundesministerien hier in Berlin ein zu einem Tag der offenen Tür. Einmal im Jahr ist es uns Bürgern möglich, hinter die Kulissen zu schauen, sich anzugucken, wo denn die Minister so arbeiten, ja, wenn wir Glück haben, vielleicht sogar einen leibhaftigen Minister oder eine leibhaftige Ministerin persönlich zu Gesicht zu bekommen. Ja, solche Tage der offenen Tür sollen die Verbundenheit zwischen den Bürgern und der Regierung fördern, indem sie unsere Neugier wenigstens ein Stück weit befriedigen.

In der alttestamentlichen Lesung des Zweiten Sonntags nach Epiphanias will der Mose auch mal hinter die Kulissen blicken. Nein, er will nicht bloß einen Minister oder gar eine Bundeskanzlerin zu Gesicht bekommen, sondern vielmehr keinen Geringeren als ihn, Gott selbst, in seiner ganzen Herrlichkeit. Doch in seinem Fall ist es keineswegs Neugier, die ihn zu dieser geradezu ungeheuerlichen Bitte an Gott veranlasst: „Lass mich deine Herrlichkeit sehen!“ Sondern der Mose befindet sich, als er diese Bitte an Gott richtet, in einer tiefen Krisensituation: Vorausgegangen war die Geschichte mit dem Goldenen Kalb, war der Versuch des Volkes Israel, sich selber einen Anblick Gottes nach seinen eigenen Wünschen und Vorstellungen zu schaffen. Ja, vorausgegangen war die Reaktion Gottes, dass er sich von seinem Volk zurückziehen wollte und sein Volk im Weiteren nur durch einen Boten in das Gelobte Land führen wollte. Gott zieht sich zurück angesichts der Halsstarrigkeit seines Volkes, lässt es seinen weiteren Weg allein gehen. Und Mose – der soll nun die Aufgabe übernehmen, das Volk unter diesen Umständen ans Ziel zu führen, gleichsam ganz allein, ohne der Gegenwart Gottes gewiss sein zu dürfen. Ja, wie sollte er das bloß hinbekommen? Und so bekniet er Gott, seine Ankündigung zurückzunehmen, bekniet ihn, doch selber sein Volk auf seinem Weg zu begleiten, ja, ihm voranzugehen. Und Gott lässt sich allen Ernstes durch diese Bitte des Mose erweichen, verspricht ihm, doch wieder mit seinem Angesicht das Volk zu führen und zu leiten. Doch das reicht dem Mose noch nicht. Er möchte nach dem, was geschehen ist, noch mehr verstehen und erkennen können, möchte alle Unklarheit in Bezug auf Gott ein für alle Mal hinter sich lassen, möchte Gott so klar und eindeutig sehen, dass ihm künftig keine Fragen mehr bleiben, warum Gott ihn und sein Volk gerade so und nicht anders führt.

Schwestern und Brüder, wer von uns könnte den Mose mit seiner Frage, mit seiner Bitte nicht allzu gut verstehen? Gott einmal so richtig in seiner Herrlichkeit schauen zu dürfen, endlich einmal Klarheit zu haben, warum Gott uns in unserem Leben so und nicht anders führt – wer wollte sich das nicht wünschen? Auch bei uns geht es ja nicht darum, einfach unsere Neugier zu befriedigen, dass wir mal gucken wollen, wie Gott denn so aussieht. So viel Respekt haben wir dann wohl doch vor Gott, so viel wissen wir dann wohl doch von ihm, dass wir nicht auf die Idee kommen, ihn einfach gleichsam wie ein Tier im Zoo anschauen zu wollen. Dass das nicht geht, muss ich euch wohl kaum erklären. Aber die Frage danach, wie es denn mit unserem Leben weitergehen soll, die Frage danach, warum Gott uns so Unbegreifliches erfahren lässt, warum er uns in unserem Leben mitunter ganz andere Wege führt als die, die wir selber als gut empfinden würden, die mag sich uns dann doch immer wieder stellen, nein, eben nicht als rein theoretische Frage, sondern als eine Frage, die uns umtreibt, die an uns bohrt, die letztlich zu der einen entscheidenden Frage unseres Lebens werden kann.

Wie reagiert Gott auf diese Frage, auf die Bitte des Mose und auf unsere Bitte? Er reagiert zunächst einmal so darauf, dass er eine klare Grenze setzt: „Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.“ Nein, das liegt nicht an Gott, der sich gleichsam ein Stück Privatsphäre gegenüber uns Menschen sichern will, einen Bereich, in den ihm keiner hineingucken soll. Sondern das liegt an uns Menschen, dass wir Gott nicht sehen können, das liegt daran, dass wir den Anblick Gottes alle miteinander nicht ertragen könnten, weil uns im Licht der Gegenwart Gottes von einem Augenblick auf den anderen klar würde, was es bedeutet, dass wir durch die Sünde von Gott getrennt sind, dass wir nicht so sind, wie Gott uns eigentlich haben möchte. Ein Akt seiner Liebe ist es also, dass Gott dem Mose und uns diese Grenze setzt, ein Akt seiner Liebe, der uns davor bewahrt, im Lichtglanz Gottes zu vergehen. Ja, gut ist es für uns, dass wir Gott so, wie wir sind, nicht zu sehen bekommen, dass uns diese letzte Klarheit über uns selber erspart bleibt, die bei uns nichts Anderes als tödliches Erschrecken auslösen könnte. 

Doch Gott begnügt sich nicht damit, die Bitte des Mose mit diesem Hinweis abzuwehren, begnügt sich nicht damit, seine Gnade und Zuwendung zu ihm, zu uns Menschen dadurch zum Ausdruck zu bringen, dass er sich unseren Blicken entzieht. Sondern er geht auf die Bitte des Mose, geht auch auf unsere Bitte ein, wenn auch möglicherweise ganz anders, als wir dies selber erwartet und uns erhofft hätten:
Er gibt sich uns in seinem Wort zu erkennen.
Er erschließt uns einen Raum mit festem Boden.
Er lässt uns hinter ihm her blicken.

I.
Das erste, was Mose als Antwort Gottes auf seine Bitte erfährt, ist eben dies, dass Gott zu ihm spricht und sich in dem, was er ihm sagt, ganz eindeutig zu erkennen gibt und festlegt: „Ich will vor dir kundtun den Namen des Herrn: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.“

Dass wir Gott nicht sehen können, heißt eben nicht, dass wir keine Ahnung davon haben könnten, wer Gott ist und wie er eigentlich zu uns steht. Seinen Namen nennt Gott dem Mose hier, und in diesem Namen zeigt Gott, wer er wirklich ist: Kein sprunghafter, unberechenbarer Gott, auf dessen Zusagen man sich nicht verlassen kann, sondern ein Gott, dessen Versprechen sich durch nichts und niemand erschüttern lassen: Ja, wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig. Wenn ich jemand meine Gnade, mein Erbarmen, meine Bereitschaft, zu vergeben, zugesagt habe, dann gilt das auch, komme, was da wolle. Allerdings macht Gott in seiner Selbstvorstellung zugleich auch dies Andere deutlich: Seine Gnade und sein Erbarmen sind durch keinen Anderen und nichts Anderes veranlasst als durch ihn selber allein. Nicht wir Menschen schaffen es, selbst Mose nicht, Gott mit irgendwelchen Tricks herumzubekommen oder mit irgendwelchen Aktionen zu beeindrucken: Der Grund für Gottes Gnade und Erbarmen liegt einzig und allein in ihm selber, weil er nun einmal ein solcher Gott ist, der seinem Wesen nach ein gnädiger und barmherziger Gott ist.

Und eben darüber brauchst du nicht zu spekulieren, sondern das hat Gott dir genauso auf den Kopf zugesagt, als er seinen Namen, den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, über dir kundgetan hat am Tag deiner Heiligen Taufe: Da hat er es dir versprochen, dass er dir gnädig sein wird, und das ist ja nicht bloß eine nette Floskel, sondern die wichtigste Nachricht deines Lebens: Gott verspricht dir, dich nicht auf die Schuld und das Versagen deines Lebens festzunageln, sondern dir alle Schuld und alles Versagen immer und immer wieder zu vergeben, dir immer wieder einen Neuanfang zu schenken. Das heißt nicht, dass du in deinem Leben immer verstehst, warum Gott dich so und nicht anders führt. Aber das eine sollst und darfst du wissen: Er ist und bleibt dein Vater, der sich darauf festgelegt hat, dass du einmal für immer in seiner Gegenwart wirst leben dürfen. Und eben deshalb muss alles, was du in deinem Leben erfährst, letztlich eben doch diesem einen Ziel dienen: Dass du dort ankommst, wo du einmal in völliger Klarheit begreifen wirst, warum Gott dich in deinem Leben so geführt hat, wie er dies getan hat.

II.
In seinem Wort gibt sich Gott dir erkennen: Im Wort, das er in deiner Taufe zu dir gesagt hat, und in dem Wort, das du immer und immer wieder hören darfst, wenn dir dieses Wort hier im Gottesdienst verkündigt wird.

Doch Gott macht mit dem Mose noch mehr: Er verweist ihn nicht bloß auf sein Wort, sondern er stellt ihn in eine Felskluft, von der aus er, Mose, die Gegenwart Gottes erfahren darf, ohne dabei zu vergehen. Was für ein eindrückliches Bild wird uns hier in diesen Worten vor Augen gestellt: Da steht der Mose in diesem Raum im Felsen, Gott kommt ihm ganz nahe und hält seine Hand über ihm, um ihn vor den verzehrenden Folgen seiner Gegenwart zu schützen, bis diese ganz besondere Gottesbegegnung für Mose vorübergegangen ist.

Wohlgemerkt: Nicht Mose bestimmt, wo und wie er Gott in seiner Herrlichkeit begegnen kann und darf. Gott ist es, der ihm den Raum zuweist, ja, ihn in diesen Raum stellt, an dem und in dem die Begegnung des Mose mit ihm, dem lebendigen Gott, stattfindet, eine Begegnung, die über das Gespräch, das Mose hier mit Gott führt, offenkundig noch hinausgeht, ihn Gott noch näherbringt als in dem gesprochenen Wort allein.

Du brauchst nicht auf den Berg Sinai zu steigen, um diese Erfahrung zu machen, die Mose damals dort oben auf einem Fels stehend gemacht hat. Gott eröffnet dir einen anderen Raum, in den du dich stellen kannst, um seine Gegenwart zu erleben, ohne zu vergehen. Denn nichts Anderes geschieht doch, wenn du hierher nach vorne kommst, um das Heilige Mahl zu empfangen. Nein, dieses Heilige Mahl haben nicht wir uns als Kirche ausgedacht, um uns damit irgendwie an Christus zu erinnern, um ihm und damit Gott selbst in Gedanken nahe zu sein. Sondern dieses Mahl gründet auf der Anweisung Christi selber, nicht anders, als damals auch, als Gott dem Mose seinen Ort in der Felsspalte zuwies. Und da trittst du nun also auch heute wieder in diesen Raum, den Gott dir eröffnet und zuweist. Sehr viel zu sehen bekommst du hier nicht, genauso, wie das auch damals bei Mose der Fall war. Und doch ist er gegenwärtig, der gnädige und barmherzige Herr, ja, nun tatsächlich noch einmal direkter als bei Mose damals. Er hält nicht nur seine Hand über deinem Kopf, sondern er nutzt deinen Kopf, deinen Mund, um dadurch in dir Wohnung zu nehmen, um dich seine Gegenwart erfahren zu lassen, die tatsächlich über die Gegenwart des gehörten Wortes allein hinausgeht. Ganz und gar verbirgt sich Gott dabei in dieser Begegnung, wie damals bei Mose auch, lässt dich nur ein Stück Brot und einen mit Wein gefüllten Kelch sehen. Und doch ist er selber darin gegenwärtig, so, dass du nicht aufschreien musst vor dem Lichtglanz seiner Herrlichkeit, sondern gnädig verschont wirst und bleibst vor dem Tod, ja, vor dem ewigen Tod. Gott wählt die Art und Weise seiner Begegnung mit dir; lass dich darum immer wieder von ihm in die Felsspalte, in diesen Raum stellen, erlebe es so immer wieder von Neuem, wie der Herr hier und jetzt gegenwärtig ist, dich seine Gegenwart erfahren lässt im Vorübergehen!

III.
Und dann darf der Mose schließlich doch noch etwas sehen, darf hinter Gott dem Herrn hersehen. Was er dort gesehen, was ihm dort aufgegangen ist, das beschreibt die Heilige Schrift nicht. Aber sie leitet auch uns dazu an, hinter Gott herzusehen.

Was ist damit gemeint, dass wir hinter Gott hersehen dürfen? Das Wort, das hier im Hebräischen verwendet wird, meint nicht bloß das räumliche Hinterhersehen, sondern in besonderer Weise auch das zeitliche Hinterherblicken: Später, danach, kannst und darfst du mich erkennen, darfst verstehen, warum ich dich und dein Volk so geführt habe, wie ich dich und euch geführt habe.

Und auch dies gilt nicht bloß für Mose, auch dies gilt für dich und für mich ebenso: Gott leitet auch uns dazu an, hinter ihm herzublicken, im Rückblick zu erahnen, warum er uns in unserem Leben so und nicht anders geführt hat und führt. Vielleicht hast du diese Erfahrung auch schon in deinem Leben gemacht, dass da etwas in deinem Leben geschehen ist, was du zunächst einmal überhaupt nicht begreifen, was du erst recht nicht mit deinem Glauben an Gott zusammenbringen konntest. Völlig verborgen, völlig unverständlich blieb dir Gott, blieb dir Gottes Handeln zunächst einmal. Doch dann, viel später, vielleicht Jahre oder Jahrzehnte später, eben im Rückblick, fing dir dann doch an aufzugehen, warum Gott dir eben dies widerfahren ließ, warum das letztlich gut für dich war, obwohl dir das zunächst überhaupt nicht eingeleuchtet hatte. Ja, in so mancher Hinsicht lässt Gott uns so hinter sich hersehen, lässt uns im Nachhinein erkennen, wie er uns begegnet ist, ohne dass uns dies zunächst einmal klar gewesen war.

Doch es mag sein, dass dir auch nach vielen Jahren und Jahrzehnten immer noch unverständlich bleibt, warum Gott dich so manches hat erleben lassen, was sich allen menschlichen Erklärungsversuchen ganz und gar entzieht. Es mag sein, dass du auch jetzt gerade wieder dasitzt und dich fragst, wozu das denn bloß gut sein soll, was du hier und jetzt gerade durchmachen musst. Nein, nicht immer wird uns Gottes Handeln auch im Rückblick so klar, wie wir uns dies wünschen mögen. Doch was sehen wir denn, wenn wir auf Gottes Rücken schauen? Wir sehen sein Kreuz, jawohl, im tiefsten Sinne dieses Wortes. Sein Kreuz, das Kreuz seines Sohnes lässt Gott uns sehen, wenn wir hinter ihm herschauen und uns fragen, wer dieser Gott denn nun ist, der uns all dies in unserem Leben hat erfahren lassen. Wenn wir auf dieses Kreuz schauen, dann erkennen wir: Gott ist in Wirklichkeit nicht eine Fratze, vor der wir erschrecken, von der wir uns nur voller Schaudern und Entsetzen abwenden können. Sondern Gott ist in Wirklichkeit ein leidender Gott, ein Gott, der mit uns leidet und für uns leidet, ein Gott, der uns in unserem Leid und unserer Not versteht und der sich selbst für uns bis in den Tod dahingibt, damit unser Leben nicht in Entsetzen und Verzweiflung endet, sondern in dem hellen Licht seiner liebenden Gegenwart.

Epiphanias feiern wir in diesen Wochen, bekennen in diesen Wochen mit dem Evangelisten Johannes: Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit. Gott hat unsere Sehnsucht, seine Herrlichkeit zu sehen, erfüllt – in seinem Sohn, der Fleisch geworden ist, ein sterblicher Mensch, einer, der sich von Bethlehem auf den Weg macht, für uns ans Kreuz zu gehen. „Verherrlichung“ – so nennt Christus selber im Johannesevangelium seinen Kreuzestod. Da und nirgendwo anders sollen wir die Herrlichkeit Gottes erkennen und wahrnehmen. Da und nirgendwo anders wird ganz klar, wer Gott endgültig und in Wirklichkeit ist: einer, der nur dies eine für dich will: Dass für dich am Ziel deines Lebens nichts, aber auch gar nichts mehr unklar bleibt, weil du es betrachten und verstehen darfst im Licht seiner Gnade und Wahrheit. Amen.