13.01.2013 | St. Johannes 1,29-34 | Fest der Taufe Christi

Der Schreck saß den Bewohnern des Hauses in der Zwickauer Frühlingsstraße noch lange in den Knochen: Einen lauten Knall hatten sie gehört, und dann sahen sie, dass die Hälfte des Gebäudes in die Luft gesprengt worden war. Doch der eigentliche Schreck kam erst später: Als sie nämlich herausfanden, dass ihre so freundlich wirkenden Nachbarn, die auch mal Pizza oder einen Prosecco für die anderen ausgegeben hatten, in Wirklichkeit eine Terrorzelle gewesen waren, die für den Mord von mehr als zehn Menschen verantwortlich waren. Wie konnte das sein, dass man jahrelang mit diesen Menschen Wand an Wand wohnt – und sie doch in Wirklichkeit überhaupt nicht kennt? So werden sich die Nachbarn sicher gefragt haben.

Ja, meistens sind es unliebsame Überraschungen, wenn man im Nachhinein erfährt, mit wem man da zusammengelebt hat, wer der Nachbar war, den man so gut zu kennen glaubte und den man in Wirklichkeit doch gar nicht kannte, von dem man nicht ahnte, was er tatsächlich so alles trieb. Dass man dagegen einen Prominenten als Nachbarn hat, ohne ihn zu kennen, kommt eher selten vor. Den würde man dann ja schon vom Fernsehen her kennen – und Journalisten oder die Polizei vor der Tür würden erst recht darauf aufmerksam machen, dass da nicht bloß irgendjemand im Haus wohnt, sondern tatsächlich jemand ganz Besonderes.

Von solch einem seltenen Ereignis berichtet der Evangelist St. Johannes in der Predigtlesung des heutigen Festtags. Um Johannes den Täufer und Jesus geht es hier in diesen Versen. Ja, die beiden kannten sich schon lange, waren sich beide schon in den Leibern ihrer Mütter begegnet, als sie beide noch nicht geboren waren. Man kann es sich gut vorstellen, dass sich die beiden auch später in ihrem Leben immer wieder einmal begegnet sind. Und doch, so bekennt es Johannes der Täufer hier, hatte er letztlich gar keine Ahnung, wer dieser Mensch war, den er doch eigentlich zu kennen glaubte. Da musste ihm erst Gott selber die Augen öffnen, damit ihm klar wurde, dass Jesus mehr war als ein gleichaltriger junger Erwachsener, mehr als ein entfernter Verwandter mütterlicherseits.

Kennst du Jesus? Es mag sein, dass du diese Frage innerlich erst einmal empört von dir weist: Natürlich kenne ich ihn, sonst würde ich wohl heute Morgen nicht hier in der Kirche sitzen. Natürlich kenne ich ihn, ich weiß, was die Bibel, was die Kirche von ihm sagt. Natürlich ist mir klar, dass er nicht einfach bloß ein netter Mensch, auch nicht bloß ein Prophet ist. Ja, was Johannes der Täufer da eben in der Predigtlesung von sich gegeben hat, das wusste ich auch alles längst schon vorher, das brauchte er mir eigentlich nicht mehr zu sagen.

Wirklich nicht? Als der Johannes damals sein Evangelium schrieb, da wusste er, dass diejenigen, die sein Evangelium einmal im Gottesdienst hören würden, auch vorher schon eine Menge über Jesus kannten. Und doch schreibt er sein Evangelium, weil er davon überzeugt ist, dass auch diejenigen, die Jesus eigentlich schon kennen, ihn dennoch noch einmal, noch vertiefter kennenlernen sollten. Und das gilt eben auch für uns. Johannes will uns vor Augen stellen, was das eigentlich heißt:
- Jesus ist das Lamm Gottes.
- Jesus ist der Sohn Gottes.

I.
Als am vergangenen Montag durchsickerte, dass der Internationale Großflughafen Willy Brandt in Berlin-Schönefeld auch in diesem Jahr nicht eröffnet werden wird und überhaupt nicht abzusehen ist, ob und wie man aus dieser Bauruine jemals noch einen funktionierenden Flughafen machen kann, war klar, was nun folgen würde: Es begann die übliche Suche nach den Sündenböcken für dieses Desaster, und die waren schnell gefunden; dazu musste man ja auch nicht sonderlich viel Fantasie aufbringen. Ja, das ist ein verbreiteter und verständlicher Reflex, wenn wir mit Schuld und Versagen konfrontiert werden, dass wir Verantwortliche, Schuldige bei ihrem Versagen behaften, Konsequenzen und Bestrafungen fordern. So funktioniert das Zusammenleben in unserer Gesellschaft.

Und genau so läuft es leider eben oft genug auch unter Christen, auch in christlichen Gemeinden ab: Weh dem, der Schuld auf sich geladen, der versagt hat: Der muss damit rechnen, dass ihm das immer wieder nachgetragen und angekreidet wird, was er da mal gesagt oder getan hat. Solches Versagen, solche Schuld ist dann allemal Grund genug, der betreffenden Person aus dem Weg zu gehen, mit ihr nichts mehr zu tun haben zu wollen, ja das, was man mit ihr erlebt hat, auch möglichst vielen anderen Menschen, gerade auch in der Gemeinde weiterzuerzählen.

Kennst du auch solch einen Menschen, der etwas gesagt oder getan hat, was du ihm niemals vergessen wirst, kennst du auch solch einen Menschen, mit dem du lieber nichts mehr zu tun haben willst in deinem Leben, weil du ihm nicht vergeben willst? Dann, so bezeugt es dir Johannes der Täufer hier, dann kennst du Jesus nicht, hast du noch keine Ahnung, wer er wirklich ist: Er ist das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt.

Jesus trägt die Sünde der Welt – mache dir klar, was das heißt: Die Sünde dieses Menschen, mit der du ihn immer noch behaftest, die liegt doch in Wirklichkeit schon gar nicht mehr bei ihm, die liegt doch schon längst auf den Schultern des Lammes Gottes, des gekreuzigten Christus. Der trägt nicht nur die Sünde von ein paar ganz besonders gutwilligen und netten Menschen, sondern die Sünde der ganzen Welt, auch die Sünde des Ekelpakets, um das du lieber einen großen Bogen machst, auch die Sünde von Verbrechern, selbst die Sünde, man wagt es kaum auszudenken, jener Verbrecher aus der Zwickauer Frühlingsstraße. Ja, Jesus trägt sogar die Sünde und das Versagen von Pastoren. Und er trägt eben auch deine eigene Sünde, die an dir zu kleben scheint wie Pattex, mit der du dich herumquälst und die du einfach nicht loszuwerden scheinst. Das schaffst du auch nicht, indem du dir irgendetwas einredest, dass schaffst du auch nicht, indem du von dir selber ablenkst und dein Versagen jemand anders in die Schuhe schiebst. Das schaffst du auch nicht, indem du deine Schuld leugnest oder schönredest. Du wirst sie nicht selber los, und brauchst sie auch nicht loszuwerden. Jesus, das Lamm Gottes, hat sie dir doch schon längst abgenommen und auf seine Schultern genommen.

Ja, da brauchen wir ein ganzes Leben lang, um Jesus kennenzulernen als der, der er wirklich ist: Das Lamm Gottes, das sich dafür hat ans Kreuz nageln lassen, damit dich deine Schuld nicht mehr zu Boden drückt und damit du aufhören kannst, deine Schuld auf andere zu schieben oder andere bei ihrer eigenen Schuld zu behaften. Du kannst nur so von der Schuld anderer Menschen reden, dass du zugleich auch von dem Lamm Gottes redest, das diese Sünde trägt und fortschafft, ja endgültig fortschafft. Das griechische Wort, das hier steht, das beschreibt die Tätigkeit der BSR, das beschreibt die endgültige Entsorgung, nicht bloß in einem Zwischenlager, sondern so, dass dich die Folgen dessen niemals mehr einholen werden, was er, Jesus, da für dich am Kreuz weggeschleppt hat. Kennst du Jesus? Ja, dann weißt du es hoffentlich, was es bedeutet, dass er das Lamm Gottes ist, dann wird das hoffentlich auch deinen Umgang mit Schuld und Versagen prägen!

II.
Und Jesus ist der Sohn Gottes, das ist das andere, was Johannes der Täufer uns hier vor Augen stellt. Da mögen wir dann noch mehr innerlich gähnen als bei der Aussage, dass Jesus das Lamm Gottes ist. Ist doch logisch, dass Jesus Gottes Sohn ist.

Nein, logisch ist das überhaupt nicht, dass Jesus Gottes Sohn ist, vielmehr eigentlich unfasslich, dass Gott einen Sohn hat und dass dieser Sohn erst einmal quasi inkognito durch diese Welt läuft, bis er schließlich im Auftrag Gottes von Johannes geoutet wird. Wie unfasslich und wie entscheidend wichtig es ist, dass Jesus in der Tat der Sohn Gottes ist, das ist mir in den letzten Monaten immer wieder neu deutlich geworden in den Taufunterrichten für Menschen, denen in ihrem Leben immer wieder dies eine beigebracht worden war, dass Gott eben keinen Sohn hat, dass es Gotteslästerung sei, Gott auf diese Weise in die Nähe der Menschen zu rücken:
Jesus ist Gottes Sohn – das heißt eben: Gott ist nicht unendlich weit entfernt, nicht der große Unbekannte, nicht einer, bei dem man nie weiß, wie er letztlich zu einem steht. Sondern dass Jesus Gottes Sohn ist, das heißt: Gott legt sich eindeutig, unwiderruflich fest. Ich kann wissen, wer Gott ist und wie er zu mir steht. Ich kann es an dem erkennen, der für mich Mensch geworden ist, der für mich ans Kreuz gegangen ist.

Kennst du Jesus? Dann weißt du, dass Gott die Liebe ist, dass alles, was du in deinem Leben erfährst, dir schließlich doch zum Besten dienen muss. Dann weißt du, dass es für uns Menschen eigentlich gar nicht so wichtig ist, ob wir an Gott glauben, sondern dass es darum geht, an welchen Gott wir glauben – an einen Gott, der ganz im Jenseits bleibt, oder an einen Gott, der uns ganz nahekommt, der uns auf Augenhöhe begegnet. Wenn du ihn, Jesus, kennst, dann wirst du niemals auf die Idee kommen, ihn auszuklammern, wenn du mit Vertretern anderer Religionen sprichst, so, als ob es nur darauf ankäme, dass man überhaupt an ein höheres Wesen glaubt. Dann wirst du auch niemals ein Gebet mitsprechen können, das nicht im Namen Jesu Christi geschieht.

Kennst du Jesus? Dann wirst du den auch nicht für dich behalten können, den du kennengelernt hast, wirst es nicht verschweigen können, dass in ihm Gott zu uns Menschen gekommen ist. Ja, wenn du Jesus kennst, dann wirst du nicht auf die Idee kommen, andere Dinge in deinem Leben als wichtiger anzusehen, als ihm, dem Sohn Gottes, zu begegnen, wenn er dich zu sich einlädt, ihn, zu empfangen: Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!

III.
Kennst du Jesus? Nein, von dir aus kannst du ihn gar nicht kennen, kann ihn niemand von uns kennen. Kennen können wir ihn nur, weil er, Jesus, mit dem Heiligen Geist tauft, weil er auch uns in der Taufe den Heiligen Geist geschenkt hat, weil er mit seinem Heiligen Geist immer wieder bei uns am Werke ist, wenn wir sein Wort hören.

Ja, das ist Jesu Art, so macht es uns St. Johannes hier deutlich, dass er sich uns immer wieder durch Zeugen zu erkennen gibt – damals durch Johannes den Täufer und bis heute durch diejenigen, die ihn verkündigen. Diejenigen, die ihn, Jesus, verkündigen, sind selber für sich genommen gar nicht wichtig, die kochen alle nur mit Wasser, genau wie Johannes der Täufer damals auch nur mit Wasser getauft hat. An denjenigen, die ihn, Jesus, verkündigen, hängt darum auch nichts; sie sind austauschbar, ersetzbar. Wichtig ist allein der, den sie bezeugen, den sie verkündigen. Er wirkt durch ihr oft nur allzu menschliches Zeugenwort den Glauben an ihn, sorgt dafür, dass Menschen, ihn, Jesus, kennenlernen. Ja, Gott geb’s, dass auch du dich durch dieses Wort immer wieder neu zu ihm rufen lässt, hier an seinen Altar, und weißt und staunst und dich vor Freude darüber nicht mehr einkriegst, wem du hier begegnest, mit wem du hier nicht nur Wand and Wand wohnst, sondern eins wirst: mit keinem Geringerem als dem Lamm Gottes und dem Sohn Gottes – Jesus Christus. Der sei gelobt in Ewigkeit. Amen.