19.01.2014 | Hebräer 12,12-18.22-25 | Zweiter Sonntag nach Epiphanias
Pfr. Dr. Gottfried Martens

Vielleicht ist es ganz gut, wenn ihr euch jetzt zu Beginn dieser Predigt erst einmal kräftig in euren Arm kneift. Dann merkt ihr es vielleicht noch deutlicher: Nein, es ist kein Traum, es ist tatsächlich Wirklichkeit, was ihr gerade erlebt, was gerade mit euch geschieht.

Ja, wo seid ihr denn gerade? In der Dreieinigkeitskirche in Steglitz natürlich, in einem Gebäude, das ihr gut kennt, nicht gerade fürchterlich modern, von außen auch nicht gerade besonders einladend, in einem Gottesdienst, dessen Sprache ihr vielleicht nur zum Teil versteht, in einem Gottesdienst, in dem es auch nicht immer so ruhig zugehen mag, wie ihr euch dies wünschen mögt, in einem Gottesdienst, in dem ihr gemeinsam mit so vielen Menschen sitzt, deren Schwächen und Macken euch zum Teil nur allzu bekannt sein mögen, die des Pastors, der da vorne steht, ganz gewiss mit vornean. Wo seid ihr gerade? Scheinbar bloß in einer Veranstaltung einer Kirchengemeinde, in einer Versammlung von Menschen, die ähnliche Interessen haben, Ähnliches denken. Doch die Predigtlesung des heutigen Sonntags öffnet euch die Augen, wo ihr in Wirklichkeit heute Morgen gelandet seid: „Ihr seid gekommen zu dem Berg Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, und zu den vielen tausend Engeln und zu der Versammlung und Gemeinde der Erstgeborenen, die im Himmel aufgeschrieben sind, und zu Gott, dem Richter über alle, und zu den Geistern der vollendeten Gerechten und zu dem Mittler des neuen Bundes, Jesus, und zu dem Blut der Besprengung, das besser redet als Abels Blut.“ Da seid ihr heute Morgen gelandet, und das muss man erst mal verkraften, das muss man sich erst noch mal in Ruhe anschauen, was das eigentlich bedeutet:

Ja, allen Ernstes: Ihr seid heute Morgen hier im himmlischen Jerusalem angekommen, mitten im Himmel, mitten in Gottes neuer Welt, seiner neuen Stadt. Ich weiß, es gibt manche unter euch, die träumen davon, eines Tages nach New York oder nach Los Angeles fliegen zu können, einmal solch eine Traumstadt zu besuchen. Doch was sind New York oder Los Angeles, was sind San Francisco oder Sydney schon im Vergleich zum himmlischen Jerusalem, in dem du heute Morgen angekommen bist! Gottes Stadt ist unendlich großartiger, unendlich schöner als die schönste Stadt, die man hier auf Erden besuchen kann. Und du bist heute Morgen nicht bloß zu einer kurzen Stippvisite, nicht zu einem Wochenendtrip in diese Stadt gekommen, sondern diese Stadt ist dein Zuhause, dort sollst du, dort wirst du für immer wohnen, in alle Ewigkeit. Nein, allein bist du hier in dieser Stadt ganz gewiss nicht: Du bist umgeben von vielen tausend Engeln, die heute gemeinsam mit dir diesen Gottesdienst feiern, die mit dir singen, Gott loben, Gottes Gegenwart feiern. Ja, kneife dich ruhig noch mal, damit es dir klar wird: Du bildest dir hier nichts ein: Du singst hier schon mit den Engeln Gottes, die diese Kirche füllen bis auf den allerletzten Platz. Unser manchmal eher etwas schwächer klingender Gesang vereint sich mit dem Gesang der Engel und klingt so ganz wunderbar in Gottes Ohren, viel schöner noch als der Philharmonische Chor.

Nun magst du einwenden: Ich kann mich noch so kneifen, davon sehe ich die Engel immer noch nicht. Recht hast du: Sehen kannst du sie noch nicht. Aber sehen kannst du schon die Versammlung und Gemeinde der Erstgeborenen, wie sie hier genannt wird, die große Schar derer, die im Himmel aufgeschrieben sind. Fast jeden Sonntag hören wir hier in dieser Kirche wieder neue Namen, die im Himmel aufgeschrieben werden, wenn die, die diesen Namen tragen, durch das Wasser der Taufe Bürger dieses himmlischen Jerusalems werden. Ja, schau dich um: Da sitzen lauter Menschen, deren Namen im Himmel geschrieben sind. Schau nicht darauf, ob sie deinem Geschmack entsprechen, ob dir ihr Benehmen gefällt oder nicht. Denke daran: Du wirst mit ihnen gemeinsam in alle Ewigkeit Gott loben und preisen – und das wird dich einmal nie mehr nerven, sondern nur noch freuen, auch wenn du es dir im Augenblick vielleicht noch nicht so ganz vorstellen kannst.

Ja, unsere Predigtlesung geht noch weiter: Wenn wir hier heute Morgen unseren Gottesdienst feiern, dann sind sie auch alle da: die Geister der vollendeten Gerechten, wie der Hebräerbrief sie hier nennt: also all diejenigen, die schon vor uns im Glauben an Christus gestorben sind und jetzt schon schauen dürfen, was uns erst noch durch Gottes Wort erschlossen werden muss. Alle Heiligen feiern diesen Gottesdienst mit: Die Gottesmutter Maria vornean, die Apostel und Propheten, die Märtyrer der ersten Jahrhunderte der Kirche, die Opfer der Gewaltherrschaft Hitlers und Stalins, ja, auch all die Christen, die im Iran und Afghanistan um ihres Glaubens willen ermordet worden sind. Alle singen sie mit, alle feiern sie mit an diesem Morgen, machen uns mit ihrem Gesang Mut, ja dranzubleiben an Christus, ja hier zu Hause zu bleiben in Gottes neuer, wunderbarer Stadt.

Und damit sind wir schon beim Allergrößten und Allerwichtigsten, was wir hier heute Morgen in diesem so unscheinbaren Gebäude erleben dürfen: Wir begegnen Gott, dem Richter über alle, und diese Begegnung braucht uns keinen Schrecken einzujagen, lässt uns nicht voller Entsetzen von hier fliehen. Denn da ist er doch zugleich: der Mittler des neuen Bundes, Jesus, da ist es, sein Blut, für uns vergossen, nicht um nach Rache zu rufen wie einst Abels Blut, sondern um ausgeteilt zu werden zur Vergebung der Sünden, hier an diesem Altar. Ja, kneife dich noch einmal: Du begegnest heute Morgen nicht bloß einem Pastor und ein paar netten Menschen: Du begegnest dem Herrn und Richter der Welt, darfst es heute Morgen live miterleben, wie du verschont, gerettet wirst durch Christus, wenn er sich mit dir aufs Neue verbindet im Heiligen Mahl.

Ja, du bist heute Morgen angekommen im Himmel, bist schon angekommen am Ziel deines Lebens, bekommst hier unendlich mehr geboten als bloß 72 Jungfrauen. Eigentlich würde ich an dieser Stelle nun allzu gerne die Predigt abschließen, dir einfach nur gratulieren und Amen sagen. Aber nun hat deine Ankunft im Himmel, die du heute Morgen hier im Gottesdienst erfährst, doch noch eine Besonderheit: Du hast im Augenblick nämlich leider noch die Möglichkeit, den Himmel wieder zu verlassen, hast noch die Möglichkeit, nicht wieder an diesen Ort der Begegnung mit Gott zurückzukehren, sondern ihm künftig, ja auch einmal für immer fernzubleiben. Ja, ich weiß, es wäre der helle Wahnsinn, es wäre geradezu unfasslich. Aber es passiert leider in der Tat immer wieder; es passierte damals im ersten Jahrhundert zur Zeit der Abfassung des Hebräerbriefes, und es passiert auch im 21. Jahrhundert: Menschen, denen doch eigentlich klar war, was es heißt, in Gottes Gegenwart treten zu dürfen, hier am Altar den Himmel auf Erden zu erfahren, bleiben dieser Begegnung mit Christus fern, glauben allen Ernstes, sie hätten dafür keine Zeit, hätten Wichtigeres zu tun, glauben, es würde sich nicht lohnen, dafür am Sonntagmorgen extra aufzustehen, glauben, eine Begegnung mit Freunden und Bekannten sei wichtiger als die Begegnung mit dem auferstandenen Jesus Christus, glauben, das Geld, das sie am Wochenende verdienen könnten, sei mehr wert als der Eintritt in das himmlische Jerusalem. Menschen, die doch einmal auf Gottes Wort gehört haben, fangen an zu glauben, sie würden etwas verpassen, wenn sie sonntags immer nur in der Kirche herumsitzen, wenn sie Gottes Geboten folgen, fangen an zu glauben, ein bisschen Spaß und Unterhaltung für wichtiger zu halten als die Teilhabe an Gottes großem Freudenfest.

Und eben darum stellt uns der Hebräerbrief so eindrücklich vor Augen, wo wir heute Morgen gelandet sind, stellt uns vor Augen, was wir preisgeben würden, wenn wir meinten, darauf verzichten zu können. Eindrücklich wirbt er um uns, damit wir ja nicht aussteigen aus dem Himmel, damit wir ja nicht das Erstgeburtsrecht im Himmel eintauschen gegen das Linsengericht eines Lebens ohne Gottes Wort hier auf Erden. Ja, kneife dich noch einmal, nimm es wahr: Es ist nicht bloß der Pastor, der jetzt von der Kanzel zu dir redet. Es ist Christus selber, der um dich wirbt, der dich nicht verlieren will, auch und erst recht nicht, wenn du erst mal deinen Aufenthalt hier in Deutschland in der Tasche hast. „Seht zu, dass ihr den nicht abweist, der da redet“, so formuliert es der Hebräerbrief hier. Verschließe deine Ohren nicht vor Christus, vor seinem Wort! Verschließe deine Augen nicht vor dem, was dich hier in Wirklichkeit umgibt! Es geht nicht darum, ob du es hier nett oder interessant findest. Es geht um unendlich mehr: Es geht um dein ewiges Zuhause, es geht um den Himmel! Ja, Gott geb’s, dass du immer im Himmel anzutreffen bist – in jedem Gottesdienst und dann auch einmal, wenn der Tag kommt, an dem die letzte Entscheidung über dein Leben fällt, der Tag, an dem du einmal für immer dort bleiben wirst, wo du in deinem Leben zu Hause warst. Dann, ja dann wirst du endgültig verstehen, was schon heute und hier geschieht, ja wo du heute Morgen tatsächlich gelandet bist! Amen.