16.03.2014 | Hebräer 11,8-10 | Reminiszere
Pfr. Dr. Gottfried Martens

Vor einigen Jahren konnten die meisten unserer deutschen Gemeindeglieder sich kaum vorstellen, was es eigentlich heißt, ein Flüchtling zu sein. Gewiss, da gab und gibt es einige ältere Gemeindeglieder, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus ihrer Heimat flüchten mussten. Und da waren und sind, nicht zu vergessen, die Glieder unserer Gemeinde, die 1941 aus ihrer Heimat an der Wolga vertrieben wurden, in Viehwaggons gepackt und irgendwo in der sibirischen oder kasachischen Steppe wieder herausgeworfen wurden. Auch sie konnten und können so manche Geschichte davon erzählen, was es heißt, fern von der Heimat in der Fremde leben zu müssen.

Mittlerweile ist uns das Thema „Flüchtlinge“ hier in unserer Gemeinde im wahrsten Sinne des Wortes ganz nahe gerückt. Wir haben nun so viele Schwestern und Brüder in unserer Mitte, die selber Flüchtlinge sind, die bewegende Geschichten erzählen können davon, wie sie ihre Heimat verlassen mussten, wie sie mitunter über Jahre hinweg auf der Flucht blieben, bis sie schließlich hier in Deutschland ankamen. Ja, wir nehmen Anteil an diesen Flüchtlingsschicksalen, ärgern uns, wenn diesen Flüchtlingen unterstellt wird, sie seien nur hierher nach Deutschland gekommen, um unsere Sozialsysteme ausnutzen, wir zittern mit denen, die abgeschoben zu werden drohen, und freuen uns darüber, wenn wieder jemand in unserer Mitte endlich als Flüchtling anerkannt wird, den ersehnten Paragraphen 60.1 erhält, der ihm die Perspektive für einen längeren Aufenthalt in Deutschland eröffnet, die Hoffnung darauf, hier in Deutschland endlich ganz ankommen, endlich zu Hause sein zu können.

Durch unsere Erfahrungen mit Flüchtlingen in der Gemeinde – und erst recht durch die Erfahrungen, die viele von uns selber als Flüchtlinge gemacht haben – nehmen wir zugleich die Worte der Heiligen Schrift noch einmal neu wahr, erkennen staunend, wie viele Flüchtlingsgeschichten uns in der Bibel eigentlich erzählt werden. Heute haben wir nun schon wieder eine solche Flüchtlingsgeschichte als Predigtlesung. Ja, mehr noch: Der Verfasser des Hebräerbriefes macht uns deutlich: Als Christen können wir gar nichts anderes sein als Flüchtlinge, und zwar wohlgemerkt als Flüchtlinge, die nicht schon ihren Paragraphen 60.1 in der Tasche haben, die noch nicht am Ziel ihrer Flucht angekommen sind.  Nein, Flüchtlinge sind wir, so zeigt es uns der Hebräerbrief,

-    die verlassen haben, wo sie zuvor waren
-    die in der Fremde leben
-    die immer noch unterwegs sind zum Ziel

I.
Von Abraham erzählt der Hebräerbrief hier, von Abraham, der noch in hohem Alter von Gott aus seiner vertrauten Umgebung gerufen wird, der im Gehorsam gegenüber Gottes Ruf das aufgibt, was in seinem Leben doch so festzustehen schien, und losmarschiert, ohne zu wissen, wohin: „Er zog aus und wusste nicht, wo er hinkäme.“

Nein, dieser Auszug des Abraham hatte nichts zu tun mit Hermann Hesses Worten, wonach jedem Anfang ein Zauber innewohne. Von diesem Zauber hat der Abraham vermutlich genauso wenig gespürt wie diejenigen unter uns, die in den vergangenen Jahren eines Tages einen Handyanruf erhielten, der sie warnte, bloß nicht mehr nach Hause zurückzukehren, weil die Polizei dort schon auf sie wartete. Und so waren sie mit einem Mal ohne Zuhause, auf der Flucht, zunächst im eigenen Land und dann schließlich auch weiter auf dem Weg Richtung Europa. Ja, das tut weh, Vertrautes zurücklassen zu müssen, das schöne Haus, mitunter auch den eigenen Swimmingpool. Das tut noch mehr weh, Eltern, Geschwister, Freunde zurücklassen zu müssen – erst recht, wenn man sich noch nicht einmal von ihnen verabschieden konnte. Doch was unsere Geschwister in ihrer Heimat im Iran oder Afghanistan erlebt haben, das gilt ganz grundsätzlich auch für einen jeden Christen: Einüben sollen wir, Vergangenes loszulassen, uns nicht an das zu klammern, was gewesen ist. Christen leben nicht rückwärtsgewandt, nicht so, dass sie dem nachtrauern, was gewesen ist und nun nicht mehr ist, dass sie die guten alten Zeiten verklären, als alles noch in Ordnung war. Wir blicken als Christen in der Tat immer wieder nach vorn, hin auf das Ziel unseres Lebens. Und eben darum können wir dann auch loslassen, was gewesen ist, selbst wenn es uns wehtut.

Genau das haben wir im vergangenen Jahr ja auch in unserer Gemeinde erlebt, dass wir zurückgelassen haben, was über Jahrzehnte hinweg selbstverständlich erschien, dass wir dem Ruf unseres Herrn gefolgt sind in eine Zukunft, von der wir selber auch noch nicht wissen, wo wir einmal ankommen werden, hier auf Erden, wohlgemerkt. Ja, das tut weh, das ruft auch Ängste hervor. Aber es ist zugleich gut für uns, auch in unserer Gemeinde, dies einzuüben, dass wir als Christen nicht daran arbeiten, alles wieder zurückzudrehen, wie es einmal war, sondern getrost nach vorne schauen. Gott selber ist es doch, der uns den Weg in die Zukunft weist. Und mit ihm gewinnen wir allemal mehr, als wir mit unserem Auszug aus dem, was uns vertraut war, verlieren.

II.
Wenn man lange auf der Flucht war, lange im Ungewissen leben musste, dann hat man ein großes Ziel, eine große Sehnsucht: endlich irgendwo anzukommen, wo man ganz zu Hause sein kann, wo man dauerhaftes Bleiberecht hat. Ja, was für eine Freude ist das, wenn man dann endlich den Flüchtlingspass in der Hand hält, wenn man sich endlich daran machen kann, sich hier in Deutschland ganz einzurichten! Ja, genau das wünschen wir einem jeden von euch, dass er dies endlich erfährt, hier in Deutschland, hier in Berlin ganz zu Hause zu sein. Und wir freuen uns natürlich darüber, dass ihr alle miteinander darum bemüht seid, euch hier in unserem Land ganz zu integrieren.

Doch was für euch als Flüchtlinge hier in Deutschland sicher gut und richtig ist, das gilt gerade nicht für uns in unserer Eigenschaft als Christen: Eindrücklich stellt uns der Hebräerbrief hier Abraham vor Augen, der zeit seines Lebens ein Fremdling blieb, einer, der in Zelten lebte, sich nicht fest niederließ. So sieht unser Leben als Christen aus: Deutschland ist eben nicht das Paradies und Berlin nicht die himmlische Stadt Jerusalem. Ja, wir leben in einer Gesellschaft, sind umgeben von Menschen, die zumeist nur noch dieses irdische Leben vor Augen haben, die darin voll und ganz aufgehen, die kein anderes Zuhause kennen als das, was sie sich hier auf Erden geschaffen haben. Wenn wir zeigen, dass wir eine ganz andere Lebensperspektive haben, wenn wir uns nicht an das klammern, was für die meisten anderen in ihrem Leben das Wichtigste ist, wenn wir nicht bei allem mitmachen, was die anderen doch auch machen, weil wir immer wieder auf Gottes Wort, auf seinen Ruf hören, dann werden wir in der Tat in unserer Umgebung schnell zu Außenseitern, zu Fremdlingen, zu Ausländern, zu Leuten, die einfach nicht dazu passen. Versuchen wir bloß nicht, das zu vermeiden, versuchen wir bloß nicht, uns so anzupassen, dass für andere gar nicht mehr erkennbar ist, wo wir eigentlich hingehören, ja, dass wir selber den Blick auf das Ziel unseres Lebens verlieren! Ja, wir sind als Christen anders als andere, wir folgen nicht jeder Leitkultur, die uns von der Gesellschaft aufgedrängt wird. Wir wissen: Alles, was wir haben und besitzen, ist doch nur eine Leihgabe Gottes, die wir eines Tages zurückgeben und für die wir uns dann auch verantworten müssen. Nichts, was wir haben, haben wir wirklich auf Dauer. Letztlich ist alles, worin wir uns aufhalten, ist jedes irdische Zuhause letztlich doch nur ein Provisorium. Und eben von daher können wir dann sogar dem baulichen Zustand unserer Dreieinigkeitskirche einen gewissen Charme abgewinnen: Zelt ist sie, noch nicht himmlisches Jerusalem, ein Zelt, durch das es auch mal durchregnet und dessen Toilettenanlagen nicht unbedingt himmlische Gefühle bei uns hervorrufen. Wir wissen: Wir bleiben nicht für immer hier; auch diese Kirche ist nicht mehr als eine Zwischenstation auf dem Weg in die Ewigkeit.

III.
Und damit sind wir schon beim Dritten, was uns der Verfasser des Hebräerbriefs vor Augen stellt: Wir sollen immer bedenken, wohin unsere Reise geht, was am Ende unseres Flüchtlingsdaseins steht: nicht bloß eine Duldung, nicht bloß ein Aufenthaltstitel von drei Jahren, nicht bloß eine leicht verbesserte Variante unseres jetzigen Lebens. Auf uns wartet vielmehr die endgültige, ewige Aufnahme in die Stadt Gottes, aus der wir niemals mehr abgeschoben werden können, in der es kein Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mehr geben wird, in der es auch keine Urlaubsscheine mehr geben wird, weil wir diese Stadt einmal in alle Ewigkeit nie mehr werden verlassen wollen: Diese Stadt wird nicht irgendwann wieder untergehen, wie so viele große Städte der Antike mittlerweile untergegangen sind, in dieser Stadt müssen wir auch nicht damit rechnen, dass sie voller verborgener Mängel steckt wie der Berliner Flughafen. Denn ihr Baumeister heißt nicht Klaus Wowereit oder Hartmut Mehdorn; ihr Baumeister ist kein Geringerer als Gott selber.

Noch sind wir eindeutig nicht an diesem Ziel angekommen: All die vielen Probleme, die uns in unserem Alltag zu schaffen machen, zeigen uns dies nur allzu deutlich. Doch der Hebräerbrief macht uns deutlich: Habt Geduld, gebt nicht auf, weil euch der Glaube an Christus in eurem Leben erst mal so wenig zu bringen scheint! Verliert über all dem, was euch in eurem täglichen Leben so wichtig scheint, doch ja nicht den Blick auf das Ziel! Bleibt doch nicht am Straßenrand liegen auf dem Weg in die himmlische Stadt Gottes!

Nein, wir sind noch nicht am Ziel. Aber immer wieder dürfen wir schon einmal kurz eintreten in diese himmlische Stadt, wenn wir das heilige Mahl feiern, wenn Gottes Stadt Gegenwart wird hier in diesem Kirchgebäude mit all seinen Macken und Defekten. Da finden wir jetzt schon Ruhe auf unserer Flucht, da dürfen wir jetzt schon erfahren, dass wir bei Gott alle keine Ausländer sind, sondern Gottes Hausgenossen, Mitbürger der Heiligen. Ja, da erfahren wir schon einen Vorgeschmack des ewigen Zuhauses bei Gott. Um in dieser Stadt Gottes anzukommen, haben nicht wenige von euch ihr irdisches Leben riskiert. Recht habt ihr! Es lohnt sich, Flüchtling zu sein! Amen.