06.04.2014 | Hebräer 13,12-14 | Judika
Pfr. Dr. Gottfried Martens

Am vergangenen Mittwoch war ich zu einer wichtigen Anhörung in einem Asylfolgeverfahren in der Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Mecklenburg-Vorpommern in Horst. Um dorthin zu gelangen, muss man an den äußersten westlichen Rand von Mecklenburg-Vorpommern fahren – und dann, ganz am Ende, hinter Feldern und Wiesen, in einer ehemaligen NVA-Kaserne, liegt es schließlich, das Heim, in dem die Asylbewerber, die dem Land Mecklenburg-Vorpommern zugewiesen werden, zunächst einmal untergebracht werden. Ganz weit draußen, weit weg von menschlicher Zivilisation. Zum nächsten Supermarkt muss man von dort 90 Minuten zu Fuß laufen. Diejenigen, die kommen, sollen gleich erfahren: Ihr gehört nicht zu uns, ihr seid in unserer Mitte nicht willkommen, ihr seid draußen, wir drinnen. Und diese Erfahrung machen eben nicht nur die Bewohner des Heims in Horst. Immer wieder höre ich von solchen Asylbewerberheimen ganz weit draußen vor der Stadt, aus denen man nur mit einem Fußmarsch von mehreren Kilometern zum nächsten Laden, zur nächsten Bushaltestelle gelangen kann. Und selbst wenn man das Glück hat, etwas zentraler zu wohnen, erfährt man als Asylbewerber doch auf manch andere Weise, wie einem signalisiert wird, dass man draußen vor bleiben soll, nicht arbeiten, nicht studieren soll, nicht Anteil haben soll am gesellschaftlichen Leben. Ja, auch viele Glieder unserer Gemeinde wissen, was das heißt, draußen zu leben, draußen vor dem Tor.

In unserer heutigen Predigtlesung macht uns der Verfasser des Hebräerbriefs deutlich, dass dies nicht nur eine Erfahrung von Asylbewerbern in unserem Land ist, sondern dass dies eine Lage ist, in der wir uns als Christen ganz grundsätzlich befinden: Wir sind alle miteinander Außenseiter, Leute, die draußen vor sind, nicht hineinpassen in eine Gesellschaft, die überhaupt nicht mehr im Blick hat, dass wir miteinander unterwegs sein könnten, unterwegs zu einem Ziel, das eben nicht hier auf Erden zu finden ist oder verwirklicht werden kann.

Nein, wir passen als Christen nicht hinein in eine Welt, in eine Gesellschaft, die sich nicht an Gottes Willen und Gebot orientiert, sondern nur noch an dem, was gerade eine vermeintliche oder tatsächliche Mehrheit für in Ordnung hält. Wir passen als Christen nicht hinein in eine Gesellschaft, in der der Sonntagmorgen zu einer freien Verfügungsmasse geworden ist, in der kaum einer damit rechnet, dass jemand noch auf die verrückte Idee kommen könnte, an diesem Morgen allen Ernstes in die Kirche zu gehen. Wir passen als Christen nicht hinein in eine Gesellschaft, die überhaupt nicht mehr im Blick hat, dass es noch eine größeres Glück auf Erden geben könnte, als Karriere zu machen, ein trautes Familienleben zu pflegen und vielleicht sogar schließlich ein eigenes Häuschen errichten zu können. Wir passen als Christen nicht hinein in eine Gesellschaft, die sich nach außen hin so tolerant gibt und zugleich doch sofort anfängt, aggressiv und intolerant zu reagieren, wenn jemand zu deutlich zu seinen christlichen Überzeugungen und Wertevorstellungen stehen sollte. Und noch einmal in ganz anderer Weise erfahren dies eben diejenigen, die früher einmal offiziell dem Islam angehörten und sich davon dann lossagten: Wie schnell man dann draußen vor ist, erfuhren viele schon in ihrer Heimat, erfuhren, dass man schließlich so weit draußen vor war, dass man das Land verlassen musste. Und genau das ist eine Erfahrung, die nicht wenige nun auch in ihren Asylbewerberheimen machen, wie sie ausgegrenzt, bedroht, angegriffen werden, wenn muslimische Mitbewohner erfahren, dass sie es gewagt haben, das muslimische Lager zu verlassen auf dem Weg zu einem besseren Ziel.

Doch der Verfasser des Hebräerbriefes stimmt hier in den Versen unserer heutigen Predigtlesung nun kein Klagelied an, schimpft nicht auf diejenigen, die uns Christen zu verstehen geben, dass wir mit unserem Glauben einfach draußen vor sind. Sondern er weitet unseren Blick, macht uns deutlich, dass wir uns damit in allerbester Gemeinschaft befinden, in der Gemeinschaft mit keinem Geringeren als Christus, unserem Herrn, selber. Dessen Leben endete eben auch draußen vor dem Tor, draußen auf der Müllkippe der Stadt Jerusalem, auf dem Hügel Golgatha, weit entfernt von den Wohnsitzen der Reinen, der Frommen und Gerechten. Und das war eben nicht ein bedauerliches Versehen und eben auch unendlich mehr als ein handfester Justizskandal: Es musste so sein, dass Jesus draußen vor dem Tor starb, am Ort der Unreinheit. Denn er hatte ja die Sünde und Unreinheit der ganzen Welt auf sich genommen, hatte sich von dieser Sünde und Unreinheit gleichsam verseuchen lassen, hatte sie dorthin geschafft, wo die Israeliten damals entsorgten, was unrein war. Ja, ganz allein ließ Jesus sich ausstoßen draußen vor das Tor, damit die, die zu ihm, zu seinem Volk gehören, geheiligt werden, das heißt: in die Gemeinschaft mit Gott aufgenommen werden. Ja, eben darin liegt unser Heil, unsere Hoffnung, unsere Rettung begründet, dass Jesus seinen Weg konsequent weitergegangen ist – bis er ganz draußen schließlich sein Blut vergoss und starb: für uns.

Willst du auch an dem Anteil haben, was er für dich dort am Kreuz getan hat? Willst du auch mit diesem Jesus Christus verbunden werden? Dann geht es nur so, dass du zu ihm hingehst, dort, wo er sich finden lässt: nicht bei den jubelnden Massen, nicht bei der großen Mehrheit, nicht in einem beschaulichen, bestens abgesicherten Leben. Sondern wenn du dich auf den Weg zu ihm begibst, dann musst du damit rechnen, zum Außenseiter zu werden, dann musst du damit rechnen, dass du die Geborgenheit der anonymen Masse verlässt. Dann musst du damit rechnen, ausgelacht und blöde angemacht zu werden, wenn andere mitbekommen, dass dein Weg dich sonntags in die Kirche führt. Dann musst du vielleicht auch damit rechnen, bedroht zu werden. Ja, dann hat das für viele von euch bereits geheißen, dass ihr alles zurücklassen musstet, was ihr hattet – nur um diesem Jesus nahe sein zu können.

Doch seid getrost: Gerade so, indem ihr für Jesus so viel zurückgelassen habt, seid ihr ihm, eurem Herrn, besonders nahegekommen. Gerade da, wo wir denken mögen, Gott habe uns im Stich gelassen, wo wir den Eindruck haben mögen, dass es doch eigentlich Wahnsinn ist, um dieses Jesus willen so viele Nachteile in Kauf zu nehmen, ja, gerade da dürft ihr erleben, dass ihr eben nicht allein seid, dass Jesus Christus selber euch unter seinem Kreuz zu einer neuen Gemeinschaft zusammenschließt, zu seinem Volk, zu seiner Kirche. Gemeinsam dürft ihr so erfahren, wie viel mehr uns hier von Christus geschenkt wird, als wir jemals aufgeben müssten, wie eben auch alles Leiden um Christi willen nicht sinnlos ist, sondern uns immer tiefer mit unserem Herrn verbindet.

Ja, es lohnt sich, loszumarschieren, zurückzulassen, was für viele das einzige Zuhause ist, das sie sich vorstellen können. Der gekreuzigte Christus lenkt unseren Blick weiter nach vorne, auf ein Ziel, das so wunderbar, so großartig ist, dass es alles Leiden, das wir hier auf Erden erfahren, unendlich aufwiegen wird. Gottes zukünftiger Stadt gehen wir entgegen, wenn wir uns nicht an das klammern, was für so viele Menschen der einzige Inhalt ihres Lebens ist. Gottes zukünftiger Stadt gehen wir entgegen, in der wir tatsächlich einmal endgültig zu Hause sein werden, aus der wir nie mehr ausgegrenzt oder gar abgeschoben werden, Gottes zukünftiger Stadt, in der einmal Menschen aus allen Völkern und Sprachen ihren Platz finden werden, in der nicht mehr einige in ein Heim draußen vor den Stadttoren verbannt werden.

Wer diese Stadt, wer dieses Ziel im Auge hat, der wird sich in dieser Welt immer ein ganzes Stück fremd fühlen, der wird von dieser Welt dann auch gar nicht mehr so ganz vereinnahmt werden wollen, den wird es hinausziehen aus einer Welt, die aus dem Blickwinkel der künftigen Stadt Gottes so kleinkariert und eng erscheint. Den wird es hinausziehen zu denen, die um Christi willen ihre irdische Heimat aufgegeben haben, zu denen, die so deutlich erkennbar ihre Schmach um Christi willen tragen. Genau dies hatte auch der jetzige Papst Franziskus vor Augen, als er vor dem Konklave von den beiden Kirchenbildern sprach: von der verkündenden Kirche, die aus sich selbst hinausgeht, und von der mondänen Kirche, die in sich, von sich und für sich lebt. Der Hebräerbrief will uns die Angst davor nehmen, Vertrautes zurückzulassen und neue Wege zu gehen – und dabei scheinbar ganz allein dazustehen. Wir gehen diesen Weg nach vorne doch immer gemeinsam mit Jesus – und der Weg endet eben nicht draußen, sondern drinnen, dort, wo wir einmal für immer zu Hause sein werden. Und bis wir dort ankommen, lasst uns immer wieder hinausgehen, losziehen und gemeinsam Ausländer sein. Wir wissen doch, wo wir wirklich hingehören! Amen.