03.08.2014 | 2. Mose 16,2-3.11-18 | 7. Sonntag nach Trinitatis
Pfr. Dr. Gottfried Martens

„Früher war mehr Lametta“, so beobachtete es schon vor einigen Jahren Opa Hoppenstedt. Früher waren die Sommer wärmer oder nicht so warm oder trockener, jedenfalls besser als heute. Früher war sowieso alles besser: Da herrschte noch Ordnung in der Gesellschaft, da gab es noch nicht all die vielen Probleme, mit denen wir uns heute herumzuschlagen haben. Ach, warum kann denn nicht alles wieder sein wie früher?

Die Sehnsucht danach, dass alles wieder so sein sollte wie früher, hat nicht erst Opa Hoppenstedt gepackt. Die packte schon vor dreieinhalbtausend Jahren die Israeliten auf ihrem Weg durch die Wüste. Da war es noch gar nicht lange her, seit sie zu Gott geschrien hatten, er möge sie doch endlich aus der Sklaverei in Ägypten befreien, möge ihnen doch endlich die ersehnte Rettung schenken. Und dann hatte Gott ihr Schreien gehört, hatte sie aus Ägypten geführt, hatte sie auf wunderbare Weise durch das Schilfmeer hindurchgeführt, dem Gelobten Land entgegen. Und was machen sie, die Israeliten? Sie fangen an zu mosern und zu jammern: Früher war alles besser – ach, was hatten wir es damals gut in Ägypten: Genug zu essen, ja Töpfe voller Fleisch, ein richtig schönes Leben! Und dann kommt dieser blöde Mose und führt uns in die Wüste, wo wir verhungern! Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man über diese Kurzsichtigkeit der Israeliten lachen, darüber, wie sie ihr eigenes Gefängnis mit einem Mal verklären und so wundervoll finden, worüber sie kurz zuvor noch geklagt hatten. Doch so sind wir Menschen: Sobald wir irgendwie mit Problemen in der Gegenwart konfrontiert werden, neigen wir zu sogenanntem regressiven Verhalten, ziehen uns in Gedanken zurück in die Vergangenheit, in der angeblich alles besser war: die Gesellschaft, der Sommer, das Lametta, die Fleischtöpfe, überhaupt alles.

„Wir“ sage ich ganz bewusst. Es geht nicht nur um Opa Hoppenstedt und die Israeliten. Es geht auch um uns. „Früher war mehr Lametta“ – diese Einstellung gibt es auch in der Kirche. Früher, da war in der Kirche noch mehr los, da war die Kirche noch voll – oder wahlweise auch: Früher, da war unsere Gemeinde noch so schön klein und überschaubar, da dauerten auch die Gottesdienste nicht so lange – und der Pastor hatte viel mehr Zeit für uns. Früher war jedenfalls alles besser, einfacher, schöner.

Und genauso kann sich die Vergangenheit für diejenigen unter uns verklären, die aus ihrer Heimat fliehen mussten. Jetzt, wo man im Asylbewerberheim sitzt, da erscheint die Wohnung, in der man vorher gelebt hat, noch größer, da erscheinen umgekehrt die Probleme, die man damals hatte, gar nicht mehr so groß, da fragt dann doch auch so mancher: Warum bin ich hier eigentlich in dieser Wüste gelandet? Hätte ich nicht doch dort bleiben können, dort, wo es so viel einfacher ist, an das leckere persische Essen heranzukommen?

Menschlich verständlich sind diese Reaktionen, ganz klar. Und doch, so macht es uns die alttestamentliche Lesung dieses Sonntags deutlich, bringt dieser Rückzug in die Vergangenheit gar nichts. Zum einen war die Vergangenheit in Wirklichkeit oft gar nicht so schön, wie wir sie jetzt verklären. Aber selbst wenn sie so schön gewesen wäre, würde uns das zum anderen auch nichts nutzen, darauf immer nur zurückzublicken. Wir sind hier und jetzt auf einem Weg, und auf diesen Weg hat uns kein anderer als Gott selber gestellt. Wer sich darüber beschwert, dass nicht mehr alles so ist, wie es früher einmal war, der beschwert sich letztlich über Gott selber, über seine Führung, verschließt die Augen davor, dass wir unterwegs sind in die Zukunft, hin zum Ziel unseres Lebens, selbst wenn der Weg dorthin auch durch die Wüste führen mag.

Denke an die Israeliten in der Wüste, wenn Dir auch solche Gedanken durch den Kopf gehen, warum in Deinem Leben, warum in der Kirche nicht mehr alles so sein kann wie früher, warum der Weg jetzt so schwierig ist. Die konnten auch nicht erkennen, wohin sie dieser Weg führen würde und schauten darum in die falsche Richtung, sahen nicht nach vorne und nicht nach oben.

Doch genau dahin will Gott unseren Blick lenken, genau dahin lenkte Gott auch damals den Blick der Israeliten. Wie hätten wir wohl an Gottes statt reagiert, wenn wir uns nach der ganzen Rettungsaktion das Gemoser des Volkes hätten anhören müssen? Ob wir nicht doch geneigt gewesen wären, dem Volk ganz kräftig einen auf den Deckel zu geben, damit es merkt, wie undankbar es gewesen ist? Doch Gott reagiert hier ganz anders: Er bestraft sein Volk nicht, sondern er hilft ihm, gibt ihm, was es braucht, gibt ihm, was er natürlich auch längst vorher für sein Volk geplant hatte. Aber jetzt ist eben genau der Augenblick gekommen, an dem sein Volk auch verstehen kann, dass und wie er für sein Volk sorgt.

Schwestern und Brüder, ist uns das eigentlich klar, dass Gott ganz genau so auch mit uns umgeht wie mit den Israeliten damals? Wieviel Gemoser muss er sich auch von uns immer wieder anhören, wie viel Mangel an Vertrauen auf seine Führung muss er auch bei uns immer wieder entdecken! Doch Gott schlägt nicht einfach zu, sondern er gibt uns immer wieder, was wir brauchen. Damals hat er für die Israeliten auf doppelte Weise gesorgt: Er hat sie täglich mit Manna versorgt, und er hat ihnen dann auch noch als besondere Beilage die Wachteln geschickt, eine ordentliche Fleischmahlzeit mitten in der Wüste. Beides lässt sich heute durchaus auch ganz natürlich erklären: Die Wachteln, die als Zugvögel bei ihrem Weg über den Sinai auch heute noch mitunter so erschöpft sind, dass sie dort irgendwo landen und dann ganz leicht eingesammelt werden können, und der Saft der Manna-Tamariske, der in den kühlen Morgenstunden zu kleinen Kügelchen gerinnt, die schmackhaft und nahrhaft sind und ebenfalls leicht eingesammelt werden können. Doch selbst wenn das alles irgendwo erklärbar sein mag – es ist und bleibt allemal ein Wunder, dass die Israeliten dies alles gerade jetzt in diesem Augenblick erleben dürfen. Und es ist und bleibt allemal ein Wunder, dass sie alle miteinander so viel bekommen, wie sie brauchen.

Genau so macht Gott es auch heute: Das Geld, mit dem wir unser Essen kaufen können, fällt nicht einfach senkrecht vom Himmel. Aber dass wir jeden Tag neu genug haben, das ist nicht selbstverständlich, das ist und bleibt ein Geschenk unseres Vaters im Himmel, für das wir ihm Tag für Tag nur danken können. Und wenn wir genauer hinschauen, dann erkennen wir auch die vielen Wachteln in unserem Leben, zusätzliche Gaben Gottes in unserem Leben, die über das hinausgehen, was wir unbedingt brauchen und die unser Leben dann doch noch einmal mit besonderer Freude erfüllen. Gewiss, Gott gibt uns das, was wir brauchen, nicht immer schon gleich Jahre im Voraus. Täglich neu lehrt er uns, um das tägliche Brot zu bitten und für das tägliche Brot zu danken, täglich neu lehrt er uns, dass wir ganz von seiner Fürsorge abhängig sind und davon leben. Aber er hört immer wieder, wenn wir ihn um das tägliche Brot bitten, weiß noch besser als wir selber, wann wir das brauchen, was er uns dann gibt. Er sorgt für unsere leiblichen Bedürfnisse – ja, selbst und gerade auch in Asylbewerberheimen, lässt uns auch da nicht allein. Und er sorgt eben auch für unsere geistlichen Bedürfnisse, sorgt auch für seine Kirche. Es bringt eben nichts, dass wir zurückblicken auf das, was war. Staunen dürfen wir darüber, dass Gott uns auf dem Weg zum Ziel unseres Weges immer wieder neu mit seinem Manna versorgt, mit seinem Heiligen Mahl, mit den Gaben des Leibes und Blutes seines Sohnes. Das ist nicht selbstverständlich, nichts, worauf wir einen Anspruch haben, weil wir dafür doch auch einen Kirchenbeitrag zahlen. Das ist Sonntag für Sonntag neu ein Wunder, dass Gott uns mit seinen Gaben satt macht, dass er uns die Kraft schenkt, unseren Weg weiterzugehen als einzelne Christen und auch als Kirche insgesamt. Lassen wir uns daran gerade durch euch, liebe Schwestern und Brüder aus dem Iran und Afghanistan, erinnern, die ihr viel länger den Weg durch die Wüste gehen musstet, bevor ihr dieses Manna empfangen durftet. Es ist und bleibt ein solches Geschenk, dass wir hier in Deutschland so einfach an dieses Manna herankommen. Verachten wir es ja nicht, übersehen wir es ja nicht über unserem Klagen darüber, was angeblich oder tatsächlich in der Kirche und in unserem Leben nicht in Ordnung ist! Und denken wir nicht zuletzt immer wieder an das Ziel, zu dem wir unterwegs sind. Ganz bewusst lassen wir immer wieder zurück, was in der Vergangenheit gewesen ist – ob es nun wirklich schön oder nur scheinbar schön gewesen sein mag. Gott führt uns nicht deswegen durch die Wüste, um uns am Ende dann doch allein sitzen zu lassen. Sondern er weiß immer, wohin es geht, auch wenn wir es noch nicht erkennen können. Was uns Gott jetzt in unserem Leben schenkt, soll uns immer daran erinnern, dass uns am Ziel unseres Weges noch viel Größeres erwartet: Ein Fest, bei dem es noch Schöneres geben wird als Wachteln und Manna, ein Fest, bei dem wir den mit eigenen Augen sehen werden, der uns jetzt noch verborgen in der Gestalt des Brotes und Weines begegnet. Und da gibt es dann eben auch unendlich mehr als bloß etwas mehr Lametta. Amen.