14.09.2014 | Apostelgeschichte 6,1-7 | 13. Sonntag nach Trinitatis
Pfr. Dr. Gottfried Martens

Gemeindewachstum ist nichts für Angeber. Wer glaubt, es sei einfach nur cool, eine Gemeinde vorzeigen zu können, die schnell wächst, und sich dafür vielleicht gar auch noch feiern zu lassen, der hat noch überhaupt nicht verstanden, was für Herausforderungen Gemeindewachstum mit sich bringt.

Genau darum geht es in der Predigtlesung des heutigen Sonntags. Da gab es in Jerusalem eine kleine, überschaubare, familiäre christliche Gemeinde mit 120 Gemeindegliedern. Man kannte sich untereinander und fühlte sich in diesem netten, frommen Kreis auch sehr wohl. Doch dann störte kein Geringerer als der auferstandene Christus selber diesen netten, frommen Zirkel mit einer ungewöhnlichen Maßnahme: Er mischte die Gemeinde auf, indem er ihr den Heiligen Geist in ihre Mitte schickte. Und schon war es aus mit der Gemütlichkeit: Am Ende des Tages war aus der kleinen überschaubaren Gemeinde eine Mega-Gemeinde mit über 3000 Gemeindegliedern geworden. Nun muss man allerdings auch dazusagen, dass es in dieser Mega-Gemeinde auch gleich zwölf Pastoren gab. Ein Pastor für 250 Gemeindeglieder – davon können wir hier bei uns natürlich nur träumen. Aber nun blieb es in Jerusalem auch nicht bei den 3000 Gemeindegliedern. Die Gemeinde wuchs immer noch weiter. Denn das Gemeindewachstum wurde nicht von den Mitarbeitern produziert, die sich irgendwelche netten Gags oder neue Gottesdienstformen oder neue Methoden ausgedacht hatten. Nein, „der Herr fügte täglich zur Gemeinde hinzu, die gerettet wurden“, so weiß es der heilige Lukas zu berichten. Tja, dagegen kommt man natürlich beim besten Willen nicht an, wenn der Herr immer wieder die nächsten Leute in die Gemeinde schickt.

Kommt euch das alles irgendwie bekannt vor? In der Tat – das ist eben auch genau unsere Situation hier in unserer Gemeinde, dass eine einstmals kleine, sehr überschaubare Gemeinde innerhalb kurzer Zeit zu einer sehr großen Gemeinde geworden ist und dass das Wachstum immer weiter geht, weil wir einfach nichts dagegen unternehmen können, dass der Herr Christus immer wieder neu Menschen zu unserer Gemeinde hinzufügt, die gerettet werden. Ja, das ist schön, das ist wunderbar, sagen wir es zunächst einmal ganz klar und deutlich. Aber es bringt eben auch alle möglichen Herausforderungen mit sich, so können wir es am Beispiel der Gemeinde in Jerusalem beobachten:

Die war nämlich auch nicht einfach eine homogene Gruppe, sondern die bestand aus sehr unterschiedlichen Menschen, Menschen von unterschiedlicher Herkunft, vor allem auch aus Menschen mit zwei unterschiedlichen Sprachen: Ein Teil der Gemeindeglieder hatte als Muttersprache Hebräisch oder Aramäisch, und ein anderer Teil hatte als Muttersprache Griechisch. Das hatte zwei Gründe: Zum einen waren damals zum Pfingstfest viele Juden aus der Diaspora, aus anderen Ländern nach Jerusalem gepilgert. Bekanntlich stammten, wie die Apostelgeschichte zu berichten weiß, die ersten Täuflinge am Pfingstfest aus dem Gebiet des heutigen Iran, aber dann auch aus Ländern des Mittelmeerraumes. Und als die nun Christen geworden waren, blieben sie gleich da in Jerusalem. Und zum anderen gab es ohnehin eine ganze Reihe von Juden, die im Mittelmeergebiet lebten und Griechisch sprachen und die nachher im Ruhestand nach Jerusalem zogen, um dort in der Heiligen Stadt ihren Lebensabend zu verbringen. Die waren zumeist nicht gerade arm und darum als Gemeindeglieder der christlichen Gemeinde sicher auch gerne gesehen. Da Frauen ihre Männer auch damals schon in der Mehrzahl überlebten, gab es darum in Jerusalem und auch in der christlichen Gemeinde nicht wenige griechischsprachige Witwen.

Und nun ging der Krach in der Gemeinde los: Man legte in der Gemeinde ja alles, was man so besaß, zusammen, und aus diesem gemeinsamen Pool wurden dann die Gemeindeglieder versorgt, dass alle genug zu essen hatten. Aber irgendwie hatte der griechischsprachige Teil den Eindruck, dass dabei sie selber, dass gerade auch die griechischsprachigen Witwen bei der Verteilung des Essens zu kurz kamen. Eifersucht, die Angst davor, übersehen und benachteiligt zu werden, kam auf, und zwar so hörbar, dass die Apostel darauf bald auch reagieren mussten.

Was die Jerusalemer Gemeinde damals erlebt hat, das kann man bis heute immer wieder in christlichen Gemeinden erleben, in denen in größerer Zahl neue Gemeindeglieder hinzukommen: Da kommen dann ebenfalls Ängste auf, Ängste davor, nicht mehr genügend wahrgenommen zu werden, zu kurz zu kommen. „Der Pastor kümmert sich ja nur noch um die Perser und nicht mehr um uns! Für uns hat er ja nun keine Zeit mehr! Und uns hat er auch nicht mehr so lieb!“ Solche Ängste können schließlich so groß werden, dass es nicht mehr möglich erscheint, noch in einer Gemeinde beieinander zu bleiben. Aber diese Ängste können sich eben auch unter denen, die neu dazukommen, schnell wieder ausbreiten: Um die anderen kümmert sich der Pastor viel mehr als um mich! Für die tut er viel mehr! Dass die schon eine Wohnung haben, dass die schon die Anerkennung haben und ich nicht, das liegt nur daran, dass er mich übersehen hat, dass ich für ihn nicht so wichtig bin wie die anderen! Und überhaupt: Jetzt sollte doch allmählich Schluss sein mit dem Zustrom! Sonst kommen wir immer weniger zum Zug – und so ernst, wie wir den christlichen Glauben nehmen, nehmen die Leute, die jetzt noch zu uns kommen, ihren Glauben doch ganz gewiss nicht!

Die Apostel machten damals in Jerusalem in dieser Situation etwas sehr Vernünftiges: Sie beriefen eine Gemeindeversammlung ein und stellten zunächst einmal klar, was die Aufgabe derer ist, die die Gemeinde leiten, ja was die Aufgabe der Kirche Christi zunächst und vor allem ist: Keinesfalls darf das Wort Gottes, keinesfalls darf die Verkündigung über irgendwelchen organisatorischen Fragen vernachlässigt werden. Das muss immer an erster Stelle stehen, dass diejenigen, die Christus dazu gerufen hat, das Wort Gottes verkündigen und lehren. Wo das nicht im Zentrum steht, wo das nicht ganz klar an erster Stelle steht, da ist jegliches Gemeindewachstum eine hohle Blase ohne Verheißung auf Bestand.

Genau das gilt auch für uns heute: Ja, auch wir werden heute hier in unserer Gemeinde von allen möglichen praktischen Herausforderungen beinahe erschlagen. Aber dabei sollen und dürfen wir niemals vergessen, was zunächst und vor allem unser Auftrag als Gemeinde und Kirche ist: Gottes Wort zu verkündigen, Menschen durch das Evangelium zu Jesus Christus zu führen. So wichtig alle andere Arbeit auch ist – wenn Gottes Wort nicht mehr im Zentrum steht, wenn der Gottesdienst, wenn das Heilige Mahl nicht mehr im Zentrum stehen, dann liefe bei uns etwas fürchterlich schief. Nie und nimmer darf das Wort Gottes vernachlässigt werden.

Aber das bedeutet eben gerade nicht, dass all die anderen Aufgaben, die sich im Zusammenleben einer christlichen Gemeinde auch stellen, dass gerade auch die Behandlung der Nöte, von denen Glieder der Gemeinde betroffen sind, deshalb unwichtig wären. Nein, so wichtig sind diese anderen Aufgaben, dass die Apostel hier den guten Vorschlag machen, sieben weitere Männer auszuwählen, die einen guten Ruf haben und voll Heiligen Geistes und Weisheit sind, die sich um diese ganz praktischen Fragen kümmern, um den Dienst an den Notleidenden, an denen, die in besonderer Weise Hilfe brauchen. Gesagt, getan: Die Gemeinde wählt sieben griechischsprachige Gemeindeglieder aus, die sich nun besonders um die Aufgaben kümmern, mit denen die Apostel überfordert waren und die doch in einer christlichen Gemeinde auch angegangen und erledigt werden müssen. Ja, auch dies sind geistliche Dienste, so betonen es die Apostel: „Geistlich“ sind nicht nur die Apostel, die Gemeindeleiter, sondern alle, die sich mit ihren Gaben in den Dienst der Gemeinde stellen, die den Gemeindegliedern die Liebe weiterreichen, die sie von Christus selber empfangen haben.

Schwestern und Brüder: Wie aktuell ist auch diese Problemlösung der Apostel damals hier für unsere Situation heute: Ich kann mich ja selber so gut in die Situation der Apostel damals hineinversetzen: Da habe ich allemal genug damit zu tun, Gottes Wort zu verkündigen – im Gottesdienst, in den Unterrichten, in den Bibelstunden, in der Seelsorge. Doch dann kommen so viele andere Probleme dazu, die hier in der Gemeinde gelöst werden sollen, dass mir die Zeit fürs Wesentliche auch schnell so knapp wird, ja, nicht zuletzt auch fürs Gebet.

Doch gottlob, da sind sie, die Menschen voll Heiligen Geistes und Weisheit, die mit mir zusammen im Missionsbeirat überlegen, wie wir die Arbeit hier in unserem Missionsprojekt am besten gestalten können. Und da werden wir bald hier in unseren Gottesdiensten auch Kommunionhelfer haben, Menschen, die bei der Austeilung des heiligen Blutes Christi mithelfen werden, weil es eben nicht nur für mich, sondern auch für euch eine Anstrengung bedeutet, dass wir hier fast jeden Sonntag mehr als 200 Menschen am Altar haben. Und dann erlebe ich es Sonntag für Sonntag voller Freude, dass ich mich tatsächlich nicht um die Mahlzeiten hier in der Gemeinde zu sorgen brauche, weil ihr das längst alles in die Hand nehmt und organisiert. Ja, das gemeinsame Essen, das war schon damals zurzeit des Neuen Testaments ein ganz wichtiges Kennzeichen der christlichen Gemeinde: Wenn Christen zusammenkamen, dann haben sie gemeinsam gegessen. Und genauso machen wir es auch heute. Das ist keine Nebensächlichkeit – da erfahren wir die Gemeinschaft der Familie Gottes, nicht nur hier oben am Altar, sondern nachher eben auch eine Etage weiter unten. Das ist ein geistlicher Dienst, den uns da jeden Sonntag die Schwestern und Brüder erweisen. Und so gibt es so viele andere geistliche Dienste, die von euch hier in der Gemeinde schon wahrgenommen werden. Ja, genau so soll es eben sein: Dass ihr nicht Empfänger von Almosen seid, die darauf warten, ob sie denn nun auch bedient werden oder nicht, die darauf achten, ob sie dabei zu kurz kommen oder nicht, sondern dass ihr selber Menschen voll Heiligen Geistes seid, Menschen mit vielen wunderbaren Gaben, Menschen, die aufeinander Acht haben können, dass keiner zu kurz kommt, dass jeder hier in der Gemeinde bekommt, was er oder sie braucht.

Erwartet also bitte nicht sehr viel vom Pastor, der kommt ähnlich schnell an seine Grenzen wie die Apostel damals auch an die ihren. Aber erwartet sehr viel von dem Wort Gottes, das ihr hier in der Gemeinde hört. Das hat die Kraft, Menschen zu verändern, das hat die Kraft, Glauben zu wecken und Menschen neu in unsere Mitte zu führen – und es hat auch die Kraft, Liebe in den Herzen von uns Menschen zu erwecken, dass wir einander wahrnehmen mit unseren Nöten und füreinander tun, was der andere jeweils braucht. Und vergessen wir bei all dem niemals das Wichtigste: Es geht immer darum, dass Menschen hier in unserer Mitte gerettet werden, gerettet zum ewigen Leben, eben durch dieses Wort Gottes. Eben darum ist es so wichtig, dass wir einander in Liebe begegnen, dass wir auch Probleme so geistlich angehen, wie es damals die Gemeinde in Jerusalem gemacht hat. Dann mag es allerdings auch geschehen, dass uns auch in Zukunft weiterhin dasselbe widerfährt wie der Jerusalemer Gemeinde damals auch: „Und das Wort Gottes breitete sich aus und die Zahl der Jünger wurde sehr groß ...“ Amen.