12.10.2014 | Epheser 4,1-6 | 17. Sonntag nach Trinitatis
Pfr. Dr. Gottfried Martens

Die Hummel hat ein Gewicht von 1,2 Gramm bei einer Flügelfläche von 0,7 cm². Nach den Gesetzen der Aerodynamik kann die Hummel nicht fliegen. Doch die Hummel weiß das nicht, und darum fliegt sie trotzdem.

Ich weiß, die Behauptung stimmt so nicht; 1996 hat ein Forscher herausgefunden, warum Hummeln trotz des ungünstigen Verhältnisses von Gewicht und Flügelfläche doch fliegen können. Doch es bleibt eine hübsche Geschichte von einem Phänomen, das so lange nicht erklärt werden konnte und dennoch ganz offenkundig Realität war und ist.

Was wir hier bei uns in der Gemeinde erleben, das hat auch etwas von solch einem Hummelflug an sich: Wir kennen die Gesetze der Soziologie, wir wissen, wie sich immer wieder Menschen gleicher Herkunft, gleicher Prägung, gleicher Sprache in Gruppen zusammenfinden. Wir wissen, dass es doch eigentlich kaum möglich ist, eine Gruppe zusammenzuhalten, in der die Menschen scheinbar so wenig miteinander verbindet: nicht die Herkunft, nicht die Mentalität, nicht die Sprache. Das kann eigentlich nicht gut gehen, das muss darauf hinauslaufen, dass solch eine Gruppe zerbricht, dass sich wieder die in kleineren Gruppen zusammenfinden, die sich von ihren Voraussetzungen immer schon näher standen.

Aber wir fliegen doch. Da kommen hier in unserer Gemeinde Menschen zusammen, die scheinbar überhaupt nicht zueinander passen: Menschen, die in Deutschland geboren wurden und es viele Jahrzehnte lang gewohnt waren, in ihrer christlichen Gemeinde nur mit anderen deutschen alteingesessenen Lutheranern zusammen zu sein, Menschen, die im Gebiet der früheren Sowjetunion geboren wurden und in einer Umgebung aufgewachsen sind, in der man, vorsichtig ausgedrückt, doch eher skeptisch war gegenüber allen Menschen, die irgendwie aus dem Süden stammten, gegenüber allen „Schwarzen“, wie man sie dann mehr ihrer Haar- als ihrer Hautfarbe wegen nannte. Und da sind sie nun in großen Scharen zu uns gekommen: Menschen aus dem Iran und aus Afghanistan, die vor wenigen Jahren zumeist noch keine Ahnung vom Leben in Deutschland hatten, die vor wenigen Jahren zumeist kaum auf die Idee gekommen wären, dass sie einmal gemeinsam mit Deutschen, Russen und Amerikanern in einer christlichen Gemeinde zusammenleben könnten. Ja, da mussten nicht nur Hürden zwischen den Menschen unterschiedlicher Herkunft und Nationalität überwunden werden; da musste auch jede Menge Skepsis untereinander abgebaut werden, die immer dort entsteht, wo man unter einem Regime lebte, in dem man immer damit rechnen musste, von anderen bespitzelt zu werden. 200 Deutsche aus Deutschland, Russland, Kasachstan und der Ukraine, einige Amerikaner und dann mehr als 400 Iraner und Afghanen – was für eine scheinbar explosive Zusammensetzung! Das geht gar nicht, in einer solchen Zusammensetzung kann man gar nicht zusammenleben, völlig klar, das leuchtet jedem ein, der ein wenig nachdenkt.

Und wir fliegen doch, leben hier in ein und derselben Gemeinde fröhlich zusammen, lernen einander immer besser kennen, immer mehr schätzen, erfahren das Wunder, dass es eben doch möglich ist, in solch einer verrückten Zusammensetzung beieinander zu bleiben.

Und die Begründung hierfür, dass das eben doch geht, was eigentlich doch gar nicht gehen kann, liefert uns nun der Apostel Paulus in der Predigtlesung des heutigen Tages. Er macht uns deutlich: Eine christliche Gemeinde ist kein religiöser Rotary Club, bei dem sich die Mitglieder aussuchen, wer vielleicht noch zu ihnen passen würde, eine christliche Gemeinde ist kein frommer Stammtisch, an dem sich die zusammenfinden, die sich immer schon gekannt haben und immer der gleichen Meinung sind, sie ist auch kein kleines, überschaubares Grüppchen, dessen wichtigstes Ziel es ist, dass es in seiner Mitte auch immer schön gemütlich zugeht. Und umgekehrt ist eine christliche Gemeinde, auch wenn es diesen Anschein haben mag, kein religiöses Angebot, das man sich aussuchen, das man ausprobieren kann und für das man sich dann entscheiden kann, wenn es einem gefällt.

Von einer Berufung ist hier in unserer Predigtlesung vielmehr gleich zweimal die Rede, von einer Berufung, die wir nicht irgendwie innerlich in uns spüren, sondern die uns erreicht, gepackt und in die christliche Gemeinde eingefügt hat. Nicht wir suchen uns die Kirche aus, nicht wir bauen uns eine Gemeinde zusammen, wie sie uns gefällt, sondern Christus selber baut sich seine Gemeinde zusammen, wie er will, ruft Menschen in diese Gemeinde hinein und lässt dabei Kombinationen entstehen, die wir erst einmal als völlig unmöglich empfinden mögen. Ja, Christus selber ist es gewesen, der unsere Gemeinde so zusammengestellt hat, wie sie nun ist. Christus selber ist es gewesen, der sie so bunt, so ungewöhnlich gemischt hat, indem er jeden Einzelnen von uns in diese Gemeinde gerufen hat. Es war die Entscheidung von Jesus Christus, dass wir heute Morgen in dieser Zusammensetzung hier zusammengekommen sind.

Und eben darin liegt die Einheit unserer Gemeinde trotz all der Verschiedenenheiten, die wir hier bei uns erleben, begründet: Entscheidend ist nicht, wo wir geboren sind, welche Muttersprache wir sprechen, welche Ausbildung wir haben, auf welche Lebensläufe wir zurückblicken können. Entscheidend ist, dass wir alle denselben einen Herrn Jesus Christus haben, der uns in diese Gemeinde gerufen hat, dass wir alle mit derselben einen Taufe getauft worden sind und dadurch Brüder und Schwestern in Christus geworden sind. Entscheidend ist, dass wir durch die Taufe alle miteinander in den einen Leib Christi eingefügt worden sind, dass wir im Heiligen Mahl alle miteinander diesen Leib Christi und sein Blut empfangen und dadurch eins werden mit Christus und untereinander. Entscheidend ist, dass wir gemeinsam an diesen einen Herrn und Gott glauben, der uns so reich beschenkt hat und weiter beschenkt. Entscheidend ist es, dass es derselbe Heilige Geist ist, der in unseren Herzen arbeitet und uns eben so miteinander verbindet.

Ich weiß, für einen Außenstehenden macht das alles wenig Sinn; er wird das nicht verstehen können, dass diese Einheit, die Christus stiftet, so stark ist, dass tatsächlich möglich wird, was doch eigentlich unmöglich bleibt. Doch wer in dieser Einheit des Leibes Christi lebt, der wird etwas davon erzählen können, was für eine Kraft dieser eine Herr Jesus Christus, diese eine Taufe, dieser eine Heilige Geist zu entfalten vermögen, eine Kraft, die uns gemeinsam immer stärker mit dem Zentrum verbindet, mit ihm, Christus, selber.

„Wir sind eins“ – diesen Claim der ARD lebt die christliche Kirche seit fast 2000 Jahren, den leben wir auch in unserer Mitte. Ja, „wir sind eins“, das ist eben nicht nur eine schöne Theorie, das wirkt sich tatsächlich aus in unserem Umgang untereinander. „Demut“, „Sanftmut“, „Geduld“, so umschreibt Paulus hier, wie diese Einheit in einer christlichen Gemeinde gelebt wird: Eben so, dass ich nicht zuerst und vor allem danach frage, was mir die Gemeinde bringt, was für Vorteile ich davon habe, wenn ich dort hingehe, ob da auch meine religiösen Bedürfnisse befriedigt werden. Sondern „wir sind eins“ – das bedeutet für uns in der Gemeinde, dass ich zunächst einmal darauf achte, was die anderen, was die Schwestern und Brüder in der Gemeinde benötigen, um dort zu Hause zu sein und zu bleiben, wie ich ihnen mit meinen Gaben dienen kann. „Wir sind eins“ – das bedeutet, dass ich den Bruder, die Schwester, als Geschenk und Bereicherung ansehe, auch und gerade, wenn sie ganz anders sind als ich, dass ich Geduld habe im Umgang mit ihnen und nicht erwarte, dass sie so werden müssen wie ich, damit ich sie annehmen kann. Eins wird eine christliche Gemeinde nicht dadurch, dass alle dieselbe Sprache beherrschen. Eins wird eine christliche Gemeinde nicht dadurch, dass alle, die zu ihr gehören, deutsch werden, deutsch denken und fühlen. Wir sind schon eins – und das lässt eben gerade Raum zu großer Vielfalt, in der wir uns gegenseitig bereichern und ergänzen, in der wir voneinander lernen können, in der wir uns aneinander freuen können, ja, gerade auch an den ganz unterschiedlichen Wegen, auf denen wir von Christus einander zugeführt worden sind.

Schwestern und Brüder: Ich gestehe, es wird mir manchmal schon ein wenig mulmig, wenn ich einfach nur mit meinem Verstand betrachte, was sich zurzeit hier in unserer Mitte vollzieht. Ja, ich kenne sie, diese Fragen des Kleinglaubens: Wie lange soll das denn bloß noch gutgehen? Eigentlich geht das ja doch nicht, was wir hier bei uns erleben.

Die Hummel fliegt, weil sie mit ihren Flügelschlägen Luftpolster hervorruft, auf denen sie gleiten kann. Wir müssen in unserer Gemeinde nicht selber mit den Flügeln schlagen, um fliegen zu können, müssen erst recht nicht um uns schlagen. Es ist der starke Wind des Heiligen Geistes, der uns trägt und voranbringt, auch wenn man diesen Wind nicht sehen und wahrnehmen kann. Aber er trägt eben doch, trägt uns alle miteinander dem Ziel entgegen, lässt uns eins sein und bleiben in der Kraft seiner Liebe. Bewahren wir diese Einheit nur immer wieder neu, halten wir Frieden untereinander, leben wir gemeinsam aus der Kraft der Vergebung! Wir haben ihn doch, den einen Herrn, der Unmögliches wahr werden lässt! Amen.