1. Ich bin nun mal nicht religiös

Wenn wir uns mit anderen Menschen über den christlichen Glauben unterhalten, hören wir immer wieder dieses Argument: „Ich bin nun mal nicht religiös.“ Mit diesem Argument scheint sich jede weitere Diskussion zum Thema zu erübrigen: Was soll man über den Glauben noch sprechen, wenn der Gesprächspartner von vornherein seine religiöse Unmusikalität offen zugibt?

Wir befinden uns angesichts dieses Arguments oftmals in der gleichen Situation, die Joseph Ratzinger, der jetzige Papst Benedikt XVI. in seiner sehr lesenswerten „Einführung in das Christentum“ bereits vor mehr als 40 Jahren in Anlehnung an eine Gleichniserzählung Sören Kierkegaards beschrieben hat: „Diese Geschichte besagt, dass ein Reisezirkus  in Dänemark in Brand geraten war. Der Direktor schickte daraufhin den Clown, der schon zur Vorstellung gerüstet war, in das benachbarte Dorf, um Hilfe zu holen, zumal die Gefahr bestand, dass über die abgeernteten, ausgetrockneten Felder das Feuer auch auf das Dorf übergreifen würde. Der Clown eilte in das Dorf und bat die Bewohner, sie möchten eiligst zu dem brennenden Zirkus kommen und löschen helfen. Aber die Dörfler hielten das Geschrei des Clowns lediglich für einen ausgezeichneten Werbetrick, um sie möglicht zahlreich in die Vorstellung zu locken; sie applaudierten  und lachten bis zu Tränen. Dem Clown war mehr zum Weinen als zum Lachen zumute; er versuchte vergebens, die Menschen zu beschwören, ihnen klarzumachen, dies sei keine Verstellung, kein Trick, es sei bitterer Ernst, es brenne wirklich. Sein Flehen steigerte nur das Gelächter, man fand, er spiele seine Rolle ausgezeichnet – bis schließlich in der Tat das Feuer auf das Dorf übergegriffen hatte und jede Hilfe zu spät kam, so dass Dorf und Zirkus gleichermaßen verbrannten.“ (Ratzinger 1968, S.17)

Die Dörfler kommen gar nicht auf die Idee, dass der Clown nicht bloß eine Rolle spielen könnte – und dass sie entsprechend nicht nur Zuschauer sein könnten. Genau das ist auch häufig unser Problem, mit dem wir in Glaubensgesprächen zu tun haben: Unser Gegenüber ist nicht dazu bereit, sich auch nur auf die Möglichkeit einzulassen, dass er oder sie nicht nur Zuschauer sein könnte, sondern dass es im christlichen Glauben um eine Realität geht, die auch dieses Gegenüber unmittelbar betrifft. Und so wird der christliche Glaube höchstens als ein nettes Hobby wahrgenommen, das einige statt Golf oder Fußball pflegen: Wenn jemand das Spaß macht, soll er es gerne tun; ich habe eben andere Interessen. Oder der Glaube wird als ein psychisches Phänomen angesehen, zu dem manche Menschen eben eher einen Zugang haben als andere. Dabei kann man selbst bei eigentlich recht intelligent erscheinenden Menschen die Beobachtung machen, wie sie sich von Meldungen beeindrucken lassen, wonach es der Neurobiologie mittlerweile gelungen sei, religiöse Erfahrungen im Hirn eines Menschen durch entsprechende Stimuli hervorzurufen: Gott sei von daher nur ein Gefühl, das man künstlich hervorrufen könne; außerhalb dieses Gefühls sei er in Wirklichkeit natürlich gar nicht existent. Auch hier werden schlicht und einfach Kategorien und Argumentationsebenen vertauscht und verschoben: In Wirklichkeit besagt das Phänomen, dass man religiöse Gefühle der Funktion bestimmter Hirnpartien zuordnen kann, überhaupt nichts über die Existenz oder Nichtexistenz Gottes. Denn Glauben ist eben nicht, wie es im 19. Jahrhundert der „Kirchenvater der preußischen Union“, Friedrich Schleiermacher, behauptete, wesenhaft „Gefühl“.

Nun mag man in einem Gespräch über den Glauben auch Menschen, die von vornherein erklären, sie seien nicht religiös, zeigen können, dass ihre Argumentation an einigen Stellen logisch durchaus nicht so durchdacht ist, wie sie dies selber behaupten. Doch das ändert nichts daran, dass das Argument, man sei eben nicht religiös, alle Argumente für den christlichen Glauben scheinbar erst einmal ganz abperlen lässt. Wir tun von daher auch gut daran, uns immer klarzumachen, wo die Grenzen christlicher Apologetik, also der Verteidigung des christlichen Glaubens, liegen: Mit keinem noch so guten Argument werden wir auch nur einen Menschen zum christlichen Glauben bewegen können. Dies ist und bleibt einzig und allein Wirkung des Heiligen Geistes, der den Glauben, wie Paulus es betont, nicht „mit überredenden Worten menschlicher Weisheit“ (1. Korinther 2,4), sondern durch die törichte Predigt des gekreuzigten Christus wirkt. Niemals vergessen dürfen wir, was Martin Luther im Kleinen Katechismus formuliert hat: „Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann, sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten.“

Zu schweigen brauchen wir angesichts des Arguments, man sei nun mal nicht religiös, dennoch nicht. Ich pflege auf diesen Hinweis zu antworten, ich sei auch nicht religiös. Dies verblüfft die Gesprächspartner nicht selten und führt dann zu einem Gespräch darüber, was er und ich eigentlich unter „Religion“ verstehen. Meist wird Religion ja verstanden als ein menschlicher Versuch, sich über Gott Gedanken zu machen, ja, sich ihm mit menschlichen Mitteln zu nähern. In diesem Sinne ist der christliche Glaube eben gerade keine Religion. Er ist seinem Selbstverständnis nach gerade kein menschliches Bemühen, sich Gott zu nähern, sondern gründet eben darauf, dass Gott sich umgekehrt dem Menschen genähert hat, weil dieser von sich aus gerade nicht dazu in der Lage ist, an Gott heranzukommen. Entsprechend handelt es sich auch bei dem Glauben nicht um eine angeborene menschliche Fähigkeit, die bei manchen ausgeprägter ist als bei anderen. Sondern es bleibt ganz und gar Geschenk, wenn einem Menschen die Augen für Gottes Zuwendung zu ihm geöffnet werden. Christlicher Glaube geht von daher wesenhaft davon aus, dass er durch eine Realität, die außerhalb von ihm liegt, hervorgerufen worden ist und eben darum gerade nicht Ausdruck menschlicher Gedanken und Bemühungen um ein höheres Wesen namens Gott sein kann. Daran sollte uns liegen, dass unser Gesprächspartner wenigstens wahrnimmt, dass wir als Christen ein ganz anderes, eben ein „nichtreligiöses“ Selbstverständnis haben. Überzeugen werden wir ihn damit allein zumeist nicht. Doch es ist schon viel gewonnen, wenn wir unserem Gesprächspartner zumindest deutlich zu machen vermögen, dass wir für eine Möglichkeit stehen, der sich unser Gesprächspartner von vornherein – und ohne dass er dies letztlich ausreichend begründen könnte – verschließt.

Martin Buber hat dies in einer Geschichte einmal sehr nachdenkenswert geschildert, die von dem Berditschewer Rabbi handelt, den man mit einer Ehrenbezeichnung „Zaddik“ (= Gerechter) nannte: „Einer der Aufklärer, ein sehr gelehrter Mann, der vom Berditschewer gehört hatte, suchte ihn auf, um auch mit ihm, wie er’s gewohnt war, zu disputieren und seine rückständigen Beweisgründe für die Wahrheit seines Glaubens zuschanden zu machen. Als er die Stube des Zaddiks betrat, sah er ihn mit einem Buch in der Hand in begeistertem Nachdenken auf und ab gehen. Des Ankömmlings achtete er nicht. Schließlich blieb er stehen, sah ihn flüchtig an und sagte: ‚Vielleicht ist es aber wahr’. Der Gelehrte nahm vergebens all sein Selbstgefühl zusammen – ihm schlotterten die Knie, so furchtbar war der Zaddik anzusehen, so furchtbar sein schlichter Spruch zu hören. Rabbi Levi Jizchak aber wandte sich ihm nun völlig zu und sprach ihn gelassen an: ‚Mein Sohn, die Großen der Thora, mit denen du gestritten hast, haben ihre Worte an dich verschwendet, du hast, als du gingst, darüber gelacht. Sie haben dir Gott und sein Reich nicht auf den Tisch legen können, und auch ich kann es nicht. Aber, mein Sohn, bedenke, vielleicht ist es wahr’. Der Aufklärer bot seine innerste Kraft zur Entgegnung auf; aber dieses furchtbare ‚Vielleicht’, das ihm da Mal um Mal entgegenscholl, brach seinen Widerstand“. (Buber, Werke III, S.348)

Natürlich ist für uns Christen der Glaube unendlich mehr als bloß ein „Vielleicht“. Doch dieses „Vielleicht“ dürfen wir dennoch denen entgegenhalten, die mit ihrem Argument, sie seien nicht religiös, meinen, sie hätten sich endgültig festgelegt oder seien gar endgültig festgelegt, ohne dass sie dafür etwas könnten. Ist solches dogmatische Sich-Verschließen, wie es in diesem Urteil zum Ausdruck kommt, tatsächlich vernünftig? Während wir sonst in unserem Leben immer wieder erfahren, wie wenig wir über unsere Zukunft verfügen können, wird hier eine Festlegung vollzogen, die von vornherein alle Veränderungsmöglichkeiten abzublocken versucht. Dies ist rational nur noch begrenzt begründbar. In Wirklichkeit hat dieses Argument „Ich bin nun mal nicht religiös“ wesentlich eine Schutzfunktion, die den, der dieses Argument vorbringt, davor bewahrt, sich mit dem Anspruch des Glaubens näher auseinandersetzen zu müssen – auf die Gefahr hin, dass sich dann in seinem Leben etwas grundlegend verändern könnte, wenn sich der Anspruch des Glaubens allen Ernstes als wahr erweisen würde. Diese Ahnung, dass die Bereitschaft, sich auf die Fragen des Glaubens einzulassen, ernsthafte Konsequenzen für das eigene Leben haben könnte, dürfte bei vielen einer der tiefsten Beweggründe sein, das Argument, man sei nicht religiös, vorzubringen, auch wenn ihnen dies vielleicht zunächst nicht bewusst sein mag. Die Frage stellt sich dann allerdings in Bezug auf uns Christen, inwiefern wir mit unserem Leben diesen Zusammenhang zwischen Glauben und Lebensveränderung auch selber bezeugen.

Keinesfalls werden wir als Christen dem Argument „Ich bin eben nicht religiös“ dadurch gerecht, dass wir unseren Glauben von seinen Auswirkungen auf unser Leben her zu begründen und zu verteidigen suchen. Natürlich vermag unser Glaube uns auch Glück, Geborgenheit, einen festen Halt und inneren Frieden zu vermitteln. Doch in Bezug auf diese Wirkungen des Glaubens haben wir als Christen wahrlich kein Monopol. Ich kann mich auch glücklich und geborgen fühlen und einen inneren Frieden spüren, wenn ich nicht an Gott bzw. an andere Götter glaube, sei es in religiöser oder nichtreligiöser Gestalt. Wenn wir den Sinn des Glaubens nur darin erkennen, dass er „etwas bringt“ oder „funktioniert“, dann verfehlen wir auch im Gespräch mit unserem Gegenüber das Entscheidende. Es geht im christlichen Glauben nicht bloß um unser Gefühl, sondern darum, dass es, mit Ratzinger bzw. Kierkegaard gesprochen, tatsächlich brennt, dass es hier um eine letzte Wirklichkeit geht, die auch den Gesprächspartner betrifft, ganz gleich, ob er sich nun für religiös hält oder nicht. Mehr als ihm dies zu bezeugen, können wir nicht. Aber dieses Zeugnis vorenthalten sollten wir ihm nicht: Es geht darum, dass auch er einer letzten Verantwortung für sein Leben entgegengeht, der er sich nicht entziehen kann. Dass wir uns als Christen vor dieser Verantwortung nicht zu fürchten brauchen, weil wir den kennen, der uns nach unserem Leben fragt, auch davon sollen und dürfen wir dann allerdings sprechen.