2. Die Wissenschaft hat den Glauben an Gott widerlegt

Als der berühmte Physiker Pierre Simon Marquis de Laplace 1799 Kaiser Napoleon I. die ersten beiden Bände seines Werkes über die Himmelsmechanik überreichte, fragte dieser ihn, warum in seinem Werk Gott an keiner Stelle erwähnt werde. Darauf antwortete Laplace: „Mein Kaiser, stellen Sie sich einen Dämon vor, der ein so gewaltiges Gehirn besitzt, dass er die Orte und Geschwindigkeiten aller Teilchen im Universum in einem einzigen Augenblick exakt erfassen kann und der außerdem alle Differentialgleichungen, die die Teilchenbewegungen beschreiben, vollständig lösen kann. Dieser Dämon kennt die gesamte Entwicklung des Universums vom Anfang bis zum Ende bis in die kleinsten Einzelheiten, denn alles ist vollständig durch die Naturgesetze vorherbestimmt.“ Auf die Frage Napoleons: „Und wo bleibt Gott in diesem Universum?“ antwortete Laplace: „Sire, diese Arbeitshypothese haben wir nicht mehr nötig.“
Mit dieser Antwort beschreibt Laplace sehr eindrücklich das Weltbild und auch das Selbstverständnis der Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert: Die Wirklichkeit lässt sich vollständig mithilfe von Naturgesetzen beschreiben; alles läuft nach dem Ursache-Wirkungs-Prinzip ab und ist von daher prinzipiell vorausberechenbar. Die Welt ist ein geschlossenes System, in dem für einen von außen einwirkenden Gott kein Platz mehr ist. Es ist erstaunlich, dass sich dieses 200 Jahre alte Weltbild immer noch in den Köpfen vieler Menschen erhalten hat, obwohl es im 20. Jahrhundert längst überholt und widerlegt worden ist.
Überholt ist dieses Weltbild in vielfacher Hinsicht: Zum einen ging es selbstverständlich davon aus, dass es nur drei Dimensionen gibt und entsprechend auch alle Wirklichkeit dreidimensional fassbar ist. Doch mittlerweile rechnen moderne Physiker mit sehr viel mehr Dimensionen, und entsprechend ist die Welt für sie auch kein geschlossenes, sondern ein offenes System. Einwirkungen aus anderen Dimensionen sind natürlich nicht beweisbar, aber eben auch nicht widerlegbar – und wer dennoch behauptet, ein Eingreifen Gottes in diese Welt widerlegen zu können, zeigt damit nur, dass er einem völlig veralteten Weltbild verhaftet ist.
Überholt ist das Weltbild des 19. Jahrhunderts weiterhin auch deshalb, weil es glaubte, dass winzige Abweichungen bei der Feststellung der Anfangsbedingungen sich auf die Vorhersage des weiteren Ablaufs eines Geschehens nicht erheblich auswirken. Auch hier ist die moderne Wissenschaft in Wirklichkeit viel weiter; ihre Erkenntnisse sind in den 1980er Jahren unter dem Stichwort der „Chaostheorie“ bekannt geworden und zeigen, dass es nicht nur ganz praktisch, sondern auch prinzipiell der Wissenschaft unmöglich ist, alles vorausberechnen oder erklären zu können, eben weil auch minimalste Störungen das Verhalten eines Systems radikal verändern können. Wenn schon, wie es das bekannte Beispiel der Chaostheorie zeigt, der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien schließlich in Texas einen Wirbelsturm entstehen lassen kann, ahnen wir, welche Möglichkeiten Gott hat, in unsere Welt einzugreifen, ohne dass sich dies wissenschaftlich in irgendeiner Weise nachweisen oder widerlegen ließe.
Endgültig überholt war das Weltbild des 19. Jahrhunderts schließlich, als Physiker wie Heisenberg, Planck und Einstein in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachwiesen, dass im Bereich der atomaren und subatomaren Welt grundsätzlich nur Wahrscheinlichkeitsaussagen möglich sind und man hier mit dem Erklärungsprinzip von Ursache und Folge nicht weiterkommt, wonach jedes Geschehen eine bestimmte Ursache hat und nach bestimmten festgelegten Gesetzen abläuft. Die fundamentalsten Naturprozesse sind unbestimmt und gerade nicht festgelegt.
Das Argument „Die Wissenschaft hat den Glauben an Gott widerlegt“ ist also wissenschaftsgeschichtlich betrachtet ein uralter Ladenhüter. Dennoch gelingt es auch in unserer heutigen Zeit immer wieder, diesen Ladenhüter sehr gewinnbringend zu verkaufen – was durchaus auch sehr wörtlich gemeint ist. Die meisten Menschen, die das Argument, die Wissenschaft habe den Glauben an Gott widerlegt, im Munde führen, sind zu dieser Einsicht ja nicht aufgrund eigener wissenschaftlicher Forschungen gelangt, sondern weil sie möglicherweise den einen oder anderen populärwissenschaftlichen, vielleicht gar reißerisch aufgemachten Zeitschriftenartikel gelesen haben, über den seriöse Wissenschaftler nur den Kopf zu schütteln vermögen. Dies gilt beispielsweise auch für die in regelmäßigen Abständen, zumeist kurz vor höheren christlichen Feiertagen, erscheinenden Veröffentlichungen, in denen behauptet wird, nun habe man endlich die historische Wahrheit über die Bibel, Jesus und den christlichen Glauben herausgefunden. Liest man diese Beiträge mit einer theologischen Vorbildung, hört man in ihnen schnell das leise Rattern der Bartwickelmaschine, weil hier uralte Klischees journalistisch flott bearbeitet noch einmal dem höchstens halbgebildeten Leser untergejubelt werden.
Doch auch im Bereich der Naturwissenschaften hat sich in den letzten Jahren das Phänomen der sogenannten „Pop Science“ herausgebildet, die in herausragender Weise von dem britischen Astrophysiker Stephen Hawking betrieben wird, der sich daran gemacht hat, Wissenschaft als Religionsersatz zu verkaufen, und dies mit beträchtlichem Erfolg. Er behauptet in seinem neusten Buch, nachweisen zu können, dass sich das Universum spontan von selbst gebildet haben kann oder gar gebildet hat und darum Gott als Erklärungsprinzip für diese Welt nicht nötig sei: „Da es ein Gesetz wie das der Gravitation gibt, kann und wird sich das Universum (...) aus dem Nichts erzeugen. Spontane Erzeugung ist der Grund, warum es das Universum gibt, warum es uns gibt. Es ist nicht nötig, Gott als den ersten Beweger zu bemühen, der das Licht entzündet und das Universum in Gang gesetzt hat.“ Doch damit begeht Hawking einen grundlegenden Kategorienfehler, indem er die selbstauferlegte methodische Beschränkung der Aufgabe der Naturwissenschaft, Phänomene zu beschreiben, als Argument gegen die Existenz Gottes ins Feld führt: Ein physikalisches Gesetz beschreibt ein Ereignis, erzeugt es aber selber nicht.
Wir müssen an diesem Punkt noch einmal einen Schritt in die Wissenschaftsgeschichte zurückgehen: Es war der Jurist Hugo Grotius, der 1625 formulierte, dass das Naturrecht auch Geltung haben müsste, wenn es Gott nicht gäbe. Er selber ging fest von der Existenz Gottes aus, formulierte aber, dass es möglich sein müsse, methodisch auch ohne die Voraussetzung der Existenz Gottes vorgehen zu können. Eben dieser Gedanke wurde dann 1663 in den Statuten der Royal Society in England so zum Ausdruck gebracht, dass es deren Gegenstand und Ziel sei, „die Kenntnisse von natürlichen Dingen, von allen nützlichen Künsten, Produktionsweisen, mechanischen Praktiken, Maschinen und Erfindungen durch Experimente zu verbessern – ohne sich in Theologie, Metaphysik, Moral, Politik (...) einzumischen.“ In diesem Sinne arbeitet moderne Naturwissenschaft mit einem wohlgemerkt methodischen Atheismus, der in der Erklärung der Phänomene dieser Welt ohne die „Arbeitshypothese Gott“ auszukommen versucht. Dieser methodische Atheismus ist grundsätzlich erst einmal auch für einen Christen nachvollziehbar – solange man nicht den Kurzschluss begeht, aus der methodischen Begrenzung unter der Hand eine inhaltliche Aussage über die Existenz bzw. Nichtexistenz Gottes abzuleiten. Genau dies macht Hawking in seiner neusten Veröffentlichung – wobei er dabei nur einen von ihm erdachten „Pappkameraden-Gott“ abschießt, nicht jedoch den lebendigen Gott der Bibel, der eben gerade nicht bloß als „Lückenbüßer-Gott“ in Erscheinung tritt, wenn wir mit unseren menschlichen Erklärungen nicht mehr weiterkommen, sondern sich uns ganz anders zu erkennen gibt, als wir dies von einem „anständigen“ Gott erwarten würden.
Der Ausflug von Stephen Hawking in die Metaphysik, also sein Versuch, ein letztes Erklärungsprinzip für diese Welt, eine alles umfassende Welttheorie zu finden und damit Gott überflüssig zu machen, wird im Übrigen von vielen seiner Kollegen äußerst skeptisch beurteilt: Die dabei erforderliche theoretische Physik entfernt sich so weit von der nachprüfbaren Realität, dass sie letztlich zu einer reinen Spekulation wird. Statt über große Entwürfe zu spekulieren, befassen sich viele Physikerkollegen lieber damit, einzelne Phänomene zu beobachten und analysieren. Sie folgen damit dem Beispiel Galileo Galileis, der im 17. Jahrhundert der antiken Physik vorwarf, sie wolle die Probleme durch Nachdenken statt durch Experimente lösen. Genau diesen Konflikt erleben wir auch heute wieder in der Physik – wobei Hawking eben wieder zu denen gehört, die auf ihre Weise wie die antike Physik damals die Probleme wieder lieber durch experimentell nicht mehr nachweisbare oder widerlegbare Theorien zu lösen versuchen.
Wir merken daran schon: „Die“ Wissenschaft gibt es ohnehin nicht – und erst recht ist es Unsinn zu behaupten, ein anständiger Wissenschaftler müsse Atheist sein. Es sei nur daran erinnert, dass die letzten beiden deutschen Nobelpreisträger für Chemie, Gerhard Ertl, und Physik, Peter Grünberg, die diesen Preis 2007 erhielten, sich beide ausdrücklich zu ihrem Glauben an Gott bekannt haben. Man kann aus den Beobachtungen, die man als Naturwissenschaftler macht, eben auch ganz andere Schlüsse ziehen. Denn die Naturwissenschaft vermag von ihrem eigenen Anspruch und ihrem methodischen Vorgehen her immer nur einen ganz begrenzten Teil von Wirklichkeit wahrnehmen. Sie ist beispielsweise nicht dazu in der Lage, auf ethische Fragen eine Antwort zu geben. Wie dringend nötig es jedoch ist, dass sich auch Naturwissenschaftler ethische Fragen stellen – zum Beispiel die, ob es verantwortbar ist, alles zu erforschen und auszuprobieren und in die Tat umzusetzen, was einem möglich ist – wurde im 20. Jahrhundert in der Diskussion um die Mitwirkung von Physikern beim Bau der Atombombe deutlich und zeigt sich heute etwa in den Diskussionen zu Themen aus dem Bereich der Gentechnik: Was geschieht, wenn Menschen, wenn gerade auch Naturwissenschaftler anfangen zu versuchen, selber Gott zu spielen?
Wenn Christen hier deutlich warnen, bedeutet es nicht, dass der christliche Glaube an sich wissenschaftsfeindlich sei. Das Gegenteil ist richtig: Der Glaube an Gott den Schöpfer ermöglichte überhaupt erst eine Entmythologisierung dieser Welt, die die Voraussetzung für alles wissenschaftliche Forschen ist: Die Natur ist nicht göttlich, sondern kann als Schöpfung Gottes untersucht werden, ohne dass man vor irgendwelchen der Natur innewohnenden Gottheiten und Mächten Angst haben müsste. So ist der Glaube an Gott in der Geschichte durchaus immer wieder auch Antrieb für Menschen gewesen, forschend tätig zu sein. Und was diese Forschungen auch ergeben mögen – den Glauben an Gott vermögen sie prinzipiell nicht zu widerlegen. Wohl aber können sie auch Forscher zum Staunen veranlassen, zum Nachdenken, das dann immer wieder auch nach dem fragt, dem alles Leben auf dieser Welt seine Existenz verdankt.