3. Jeder Mensch soll seinen eigenen Glauben haben

Das Argument, jeder Mensch solle seinen eigenen Glauben haben, richtet sich gegen die missionarische Ausrichtung des christlichen Glaubens, die in der Tat zum christlichen Glauben wesenhaft dazugehört: „Wir können’s ja nicht lassen, von dem zu reden, was wir gesehen und gehört haben.“ (Apostelgeschichte 4,20) Bei diesem Reden geht es dabei nicht bloß um die Mitteilung der persönlichen Befindlichkeit; vielmehr zielt dieses Reden ganz bewusst darauf, das Gegenüber ebenfalls für den Glauben an Christus zu gewinnen. Es geht im christlichen Glauben eben nicht bloß darum, dass es gut tut, „an irgendetwas zu glauben“; es ist dem christlichen Glauben zufolge gerade nicht egal, woran man glaubt.
Nicht als Aufforderung, sondern als Beschreibung und Feststellung finden wir die Behauptung, jeder Mensch habe einen eigenen Glauben, bereits in den lutherischen Bekenntnisschriften: „Die zwei gehören zuhauf, Glaube und Gott. Woran du nun, sage ich, dein Herz hängt und worauf du dich verlässt, das ist eigentlich dein Gott“, erklärt Martin Luther im Großen Katechismus. Auf diesem Hintergrund gibt es nach christlichem Verständnis keinen ungläubigen Menschen. Die Frage ist nicht, ob ein Mensch an Gott glaubt, sondern an welchen Gott er glaubt. Das heißt aber nun gerade nicht, dass es von daher egal wäre, woran ein Mensch glaubt, wenn ohnehin jeder Mensch an „irgendetwas“ glaubt. Denn nach dem Zeugnis der Heiligen Schrift gibt es den entscheidenden Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf: Wo Geschaffenes vergöttert wird, indem man sein Herz daran hängt – seien es nun Geld und Besitz, das eigene Ego, ein Hobby oder etwa auch Sternzeichen oder Glücksbringer –, wird der Glaube zum Aberglauben pervertiert. Und zu diesem Geschaffenen gehören eben auch selbstgebastelte religiöse Vorstellungen, ganz gleich, welches Bastelmaterial man dafür verwendet hat.
Doch mit dieser Einsicht, dass jeder Mensch etwas hat, woran er sein Herz hängt, was für ihn das Wichtigste im Leben ist und von daher die Stelle Gottes einnimmt, haben wir noch nicht den Kern der Problematik erfasst, die sich in dem Argument, jeder Mensch solle seine eigenen Glauben haben, verbirgt. Glauben wirkt sich aus in der Form von Bewusstseinsbindungen, hat, um es mit einem Fachausdruck zu formulieren, seinem Wesen nach immer dogmatischen Charakter. Denn Dogmen sind nichts Anderes als solche Bewusstseinsbindungen, die nicht mehr hinterfragt werden können und sollen. Das Problem besteht nun jedoch darin, dass man in der Regel die eigenen Dogmen nicht als Dogmen, sondern als evidente Wahrheit wahrnimmt und von daher das Wort „Dogma“ oftmals geradezu als Schimpfwort gebraucht: Für sich selber nimmt man in Anspruch, „undogmatisch“ zu sein, während man dem Anderen vorwirft, an Dogmen zu hängen. Dieser Mangel an Selbstwahrnehmung führt immer wieder zu ganz charakteristischen „Dogmenkonflikten“, bei denen Menschen auf die Position des jeweiligen Gegenübers hochemotional reagieren, weil sie die eigene Bewusstseinsbindung in Frage stellt. Typisch „dogmatische“ Einwände in Diskussionen um Fragen des christlichen Glaubens sind beispielsweise Formulierungen wie „Das kann man doch heute nicht mehr sagen!“, oder: „Das ist doch einfach so.“ Weh dem, der es wagt, solche Dogmen noch zu hinterfragen! Zu den Dogmen, die hinter solchen Einwänden stehen, gehört beispielsweise auch ein bestimmtes Geschichtsbild, wonach sich die Wahrheitserkenntnis der Menschen immer weiter entwickelt und es von daher geradezu selbstverständlich ist, dass das, was „heute“ gedacht wird, richtig und was früher einmal gedacht wurde, falsch ist.
In dieses Geschichtsbild passt dann auch das heute weit verbreitete sogenannte postmoderne Verständnis von Wahrheit, das sich in vielen Fällen hinter dem Argument, jeder Mensch solle doch seinen eigenen Glauben haben, verbirgt. Diesem postmodernen Wahrheitsverständnis zufolge gibt es gar nicht „die Wahrheit“, sondern jeder Mensch hat seine eigene persönliche, subjektive Wahrheit, die von außen gar nicht in Frage gestellt werden kann oder darf. Von daher kann der Glaube eines Menschen von vornherein nicht falsch oder richtig sein, sondern er kann höchstens für den betreffenden Menschen ganz persönlich falsch und richtig sein. Was der eine als falsch empfinden mag, ist für einen anderen eben gerade richtig. Dies klingt alles sehr tolerant. Doch die Grenzen dieser Toleranz sind bezeichnenderweise dort schnell erreicht, wo es jemand wagt, dieses postmoderne Wahrheitsverständnis selber in Frage zu stellen und sich ihm nicht zu unterwerfen. Auch hier brechen dann sehr schnell Dogmenkonflikte auf, die das postmoderne Gegenüber dadurch für sich zu entscheiden sucht, dass es zur „Fundamentalismus-Keule“ greift und jeden, der sein Wahrheitsverständnis nicht teilt, als Fundamentalisten diffamiert und damit gleich in die entsprechende Schublade steckt.
Als Christen wissen wir, dass die Wahrheit des christlichen Glaubens sich nicht in der Form mathematischer Formeln ausdrücken lässt, sondern rückbezogen ist auf die Person Jesu Christi, der von sich selbst allerdings behauptet: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.“ (St. Johannes 14,6) Christus gebraucht hier jeweils ganz bewusst den bestimmten Artikel, für den im postmodernen Denken kein Platz mehr ist, und erhebt damit in der Tat einen Anspruch, der sich durchaus als „Absolutheitsanspruch“ bezeichnen lässt. Zu diesem Absolutheitsanspruch der Person Christi muss sich der Glaube eines jeden Menschen in irgendeiner Weise verhalten – sei es, dass er diesem Anspruch zustimmt, oder sei es, dass er ihn ignorierend oder protestierend ablehnt. So fällt angesichts dieses Selbstanspruchs Christi zugleich auch eine Entscheidung darüber, wie ich Glauben und damit auch „meinen eigenen Glauben“ verstehe: Ist er nicht mehr als meine menschliche Vorstellung vom Leben und von Gott, besteht eine Funktion von daher wesentlich darin, eine Art von „Wohlfühlhilfe“ für bestimmte Anlässe des Lebens zu sein? Oder bezieht sich mein Glaube auf eine Realität außerhalb meiner selbst, an die ich nicht dadurch heranreiche, dass ich mich ihr mit meinen Vorstellungen nähere, sondern dass sich diese Realität mir gegenüber öffnet?
Mit dem Einwand „Jeder Mensch soll seinen eigenen Glauben haben“ widerlegen Menschen, die diesen Einwand vertreten, also nicht den Anspruch Christi und des christlichen Glaubens, sondern formulieren damit lediglich ihr eigenes Verständnis vom Glauben als menschlichem Versuch, sich dem Sinn und Grund des Lebens zu nähern. Sie formulieren mit diesem Einwand zugleich ihre Ablehnung der Vorstellung, dass sich ein von unseren Vorstellungen unterscheidbares Wesen uns so zu erkennen gegeben hat, dass es Kriterien geben könnte, anhand derer man beurteilen könnte, ob ein Glaube rechter Glaube ist oder nicht. Darin, dass die Vertreter dieses Einwands dies alles für nicht mehr hinterfragbar, sondern als selbstverständlich richtig ansehen, zeigt sich der dogmatische Charakter dieses so oft vorgebrachten Arguments.
Als Christen tun wir jedoch gut daran, in der Frage des „Absolutheitsanspruchs“ drei Klarstellungen vorzunehmen: Zum einen bedeutet der von Christus formulierte Absolutheitsanspruch, dass er die Wahrheit und der einzige Weg zu Gott sei, nicht, dass wir als Christen oder Kirche dazu das Recht oder vielleicht gar die Pflicht hätten, diesen Absolutheitsanspruch auch mit politischen Mitteln durchzusetzen. Solche Verirrungen hat es im Verlauf der Kirchengeschichte leider genügend oft gegeben, dass Christen gemeint haben, sie könnten andere Menschen auch mit Gewalt dem von ihnen mit Berufung auf Christus vertretenen Absolutheitsanspruch des christlichen Glaubens unterwerfen. Das einzige „Machtmittel“, das der Kirche zur Verbreitung des Absolutheitsanspruchs Christi in die Hand gegeben ist, ist das Evangelium, die frohe Botschaft von Christus, ist das Wort, das die Kirche bezeugt. Durch dieses Wort setzt Christus selber auch ohne unsere menschliche Mitwirkung seinen Anspruch immer wieder im Leben von Menschen durch; da brauchen wir als Kirche weder mit irgendwelchen Methoden noch gar mit politischem Druck nachzuhelfen. Zweitens erhebt Jesus Christus diesen Absolutheitsanspruch in Bezug auf seine Person, nicht jedoch in Bezug auf irgendeine Institution, die sich gleichsam im Glanz dieses Anspruchs Jesu sonnen könnte. Heil und Unheil eines Menschen entscheiden sich einzig und allein in seinem Verhältnis zur Person Jesu Christi, auch wenn dieses Verhältnis konkret Gestalt gewinnt in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kirche, in der sich die Christusbegegnung in den Gnadenmitteln vollzieht. Der Absolutheitsanspruch Christi darf von daher nicht missbraucht werden für eigene geistliche Rechthaberei, so gewiss alle Verkündigung der Kirche ihren letzten Ernst erst auf dem Hintergrund dieses Anspruchs Christi gewinnt und sich fragen muss, ob sie in ihrer Verbindlichkeit diesem Anspruch Christi auch gerecht wird. Drittens schließlich bleibt festzuhalten, dass das Wort „Absolutheit“ insofern missverständlich ist, weil es ganz wörtlich die „Ablösung“ von allem Relativen beschreibt. Christus verwirklicht jedoch die Wahrheit seines Anspruchs genau umgekehrt dadurch, dass er sich nicht von uns ablöst, sondern sich mit uns verbindet und gerade so den Glauben wirkt, der nicht menschliche Bewegung auf Gott oder Christus hin und auch nicht menschliche Vorstellung von Gott oder Christus ist, sondern Gabe und Wirkung des Geistes Gottes, Gemeinschaft mit dem lebendigen Christus. Wenn ein Christ von „seinem“ Glauben spricht, dann bringt er damit zum Ausdruck, dass ihm dieser Glaube von außen geschenkt worden ist, nicht aber, dass er ihn irgendwie in sich oder aus sich hervorgerufen hätte.
Dieser Glaube erkennt Christus als den einzigen Retter im letzten Gericht Gottes, dem alle Menschen unterschiedslos entgegengehen, ganz gleich, ob sie daran glauben, dass sie ihm entgegengehen, oder nicht. Maßstab im letzten Gericht Gottes wird von daher nicht die Gläubigkeit eines Menschen sein, sondern allein sein Christusbezug. Dies bleibt allemal ein provozierender Anspruch, der immer wieder leidenschaftlichen Widerspruch im Sinne eines Dogmenkonflikts hervorruft. Für Christen stellt sich in diesem Zusammenhang jedoch immer wieder diese eine entscheidende Frage, in wessen Gericht sie bestehen wollen: im Gericht der Menschen, die nach ihren menschlichen Maßstäben urteilen, oder im Gericht Gottes, in dem der Schöpfer selber das letzte Urteil über das Leben seiner Geschöpfe fällt. Auf diesem Hintergrund ist der Einwand, jeder Mensch solle doch „seinen eigenen Glauben“ haben, eine gefährliche Verharmlosung, die das Gericht verdrängt und dem Anspruch Christi nicht gerecht wird und sich stattdessen anmaßt, eigene Maßstäbe und Gebote („jeder Mensch soll …“) für Gottes Urteil über die Menschen zu formulieren.