2. - Artikel 12: Von der Buße
Von der Buße wird gelehrt, dass diejenigen, die nach der Taufe gesündigt haben, jederzeit, wenn sie zur Buße kommen, Vergebung der Sünden erlangen und ihnen die Absolution von der Kirche nicht verweigert werden soll. Nun besteht wahre und rechte Buße im eigentlichen Sinne aus diesen zwei Teilen: der eine ist Reue und Leid oder Entsetzen über die erkannte Sünde und der andere ist der Glaube, der aus dem Evangelium und der Absolution empfangen wird und glaubt, dass die Sünden um Christi willen vergeben werden, und der das Gewissen tröstet und aus den Schrecken befreit. Darauf sollen dann auch gute Werke folgen, die die Früchte der Buße sind, wie Johannes der Täufer spricht: „Darum bringt rechtschaffene Frucht der Buße.“ (Matthäus 3,8)
Hiermit werden die Wiedertäufer verworfen, die leugnen, dass die, die einmal gerechtfertigt worden sind, den heiligen Geist wieder verlieren können; ebenso diejenigen, die behaupten, dass es manchen Leuten möglich ist, eine solche Vollkommenheit in diesem Leben zu erreichen, dass sie nicht mehr sündigen können.
Es werden auch verworfen die Novatianer, die denjenigen die Absolution verweigerten, die vom Glauben abgefallen waren und zur Buße zurückkehrten.
Auch werden die verworfen, die nicht lehren, dass man durch Glauben Vergebung der Sünden erlangt, sondern befehlen, dass wir die Gnade durch unsere Bußleistungen (wörtl.: durch unser Genugtun) verdienen.
Der zwölfte Artikel des Augsburger Bekenntnisses scheint sich auf den ersten Blick mit Themen zu beschäftigen, die uns in unserer heutigen Zeit sehr fern zu liegen scheinen:
Er verurteilt zum einen die Novatianer, eine kirchliche Gruppierung, die im dritten Jahrhundert in der Zeit der Christenverfolgung entstand: Bischof Novatian wandte sich im Jahr 251 gegen den römischen Bischof Cornelius, der frühere Gemeindeglieder, die während der Verfolgungszeit ihren Glauben verleugnet hatten, wieder in die Gemeinde aufnehmen wollte, wenn diese Buße taten und zur Gemeinde zurückkehrten. Dagegen vertrat Novatian mit Berufung auf Hebräer 6,4-6 die Auffassung, dass die Abgefallenen (lateinisch: lapsi) für immer aus der Kirche ausgeschlossen bleiben müssten und die Kirche kein Recht dazu habe, ihnen noch einmal die Vergebung zuzusprechen. Novatian und seine Anhänger wurden daraufhin auf einer Synode aus der Kirche ausgeschlossen; erst auf dem Konzil von Nicäa (325) wurde für die Novatianer eine Möglichkeit geschaffen, wieder in die Kirche aufgenommen zu werden, wenn sie die Bußpraxis der Kirche bejahten.
Und der Artikel wendet sich zum anderen gegen gewisse Wiedertäufer, die allen Ernstes die These vertraten, dass der Christ nach seiner Bekehrung ein solch geistlicher Mensch werden könne, dass er weitgehend oder ganz sündenfrei werden könne und von daher entsprechend auch keine Vergebung mehr nötig habe.
Beide Auffassungen liegen uns heute erst einmal sehr fern: In der Kirche wird – zumindest hier in Deutschland – nicht mehr darüber diskutiert, ob man jemandem, der sich einmal von der Kirche abgewandt hat, wieder in die Kirche aufnehmen könne. Dies wird völlig selbstverständlich praktiziert; ja, die Kirchen bemühen sich ganz offen um solche Menschen. Diskutiert wird eher darüber, ob es überhaupt irgendetwas geben könnte, was die Kirche dazu veranlassen könnte, einen Menschen aus der Kirche auszuschließen oder ihm den Zugang zur Kirche zu verwehren. Ja, es wird darüber diskutiert, ob die Kirche Sünde überhaupt noch Sünde nennen darf, oder ob das von vornherein eine nicht zu duldende Diskriminierung derer ist, die das tun, was die Kirche vielleicht doch noch Sünde zu nennen wagt.
Und auch die Sündenfreiheit streben wir heute selbst innerkirchlich nicht unbedingt an; sehr viel näher liegt uns da schon der bekannte Karnevalsschlager: „Wir sind alle kleine Sünderlein, ’s war immer so, ’s war immer so. Der Herrgott wird es uns bestimmt verzeihn, ’s war immer, immer so. Denn warum sollten wir auf Erden schon lauter kleine Englein werden?“
Doch wir würden dem 12. Artikel des Augsburger Bekenntnisses gerade nicht gerecht werden, wenn wir ihn als Bestätigung des heutigen „Mainstream“-Denkens in unserer Gesellschaft und auch in der Kirche verstehen würden. Verstehen können wir ihn in der Tat nur, wenn klar bleibt, dass es in der Kirche und im christlichen Glauben um nicht weniger als um die Rettung aus dem letzten Gericht Gottes geht. Wo dieser Richtpunkt nicht mehr wahrgenommen wird, wird die Buße letztlich zu einer Karikatur.
Wenn wir etwas genauer hinschauen, dann entfaltet Melanchthon hier im 12. Artikel ganz kurz und knapp ein ganz neues – und letztlich doch ganz altes, weil zutiefst biblisches – Verständnis der Buße:
Seit dem Mittelalter war es kirchliche Lehre, dass die Buße – im Sinne des kirchlichen Bußsakraments – aus drei Teilen besteht: aus der Herzensreue, aus dem Sündenbekenntnis und aus den guten Werken, die der Gläubige nach dem Empfang der Vergebung als Bußleistung zu vollbringen hatte. Der Fokus bei der Buße lag damit ganz und gar auf dem Tun des Menschen: Er muss Reue zeigen, die nicht oberflächlich ist, sondern in die Tiefe geht, er muss seine Sünden, soweit ihm dies möglich ist, vollständig dem Priester bekennen, und er muss mit den Bußleistungen, die ihm vom Priester als dem Richter im Bußsakrament auferlegt werden, Wiedergutmachung betreiben. In allen drei Teilen der Buße steckte zugleich auch ein Unsicherheitsfaktor: Ist meine Reue wirklich tief und ehrlich genug? Habe ich bei der Aufzählung der Sünden auch keine vergessen? Habe ich tatsächlich auch ganz wiedergutgemacht, was ich begangen habe, oder bleibt da noch etwas auf meiner Seite offen? Von der Kirche wurde diese Ungewissheit ganz bewusst auch gefördert: Sie sah diese Ungewissheit als hilfreich an, um den Gläubigen vor falscher Laxheit im Glauben zu bewahren.
Dagegen spricht der Artikel 12 des Augsburger Bekenntnisses davon, dass die Buße aus zwei Teilen besteht: aus dem Leid über die erkannte Sünde und aus dem Glauben an das Evangelium. Entscheidend wichtig dabei ist dies: Beide Teile der Buße werden nicht vom Menschen, sondern von Gott gewirkt: Er lässt den Menschen durch die Predigt des Gesetzes, also dessen, was Gott von uns Menschen erwartet, über sich selbst und seine Sünde erschrecken, und er wirkt durch das Evangelium den Glauben, der sich der Vergebung der Sünden in der Absolution tröstet.
Um „Gesetz und Evangelium“ geht es also hier in diesem Artikel des Augsburger Bekenntnisses: um die beiden Wirkweisen Gottes in seinem Wort, biblisch gesprochen: „Der HERR tötet und macht lebendig, führt hinab zu den Toten und wieder herauf.“ (1. Samuel 2,6) Nichts anderes geschieht in jeder Predigt, wenn sie denn mehr ist als bloß eine Darbietung persönlicher Ansichten des Predigers oder als ein Stück moralische Aufrüstung für die Hörer: Immer wieder geht es darum, dass Gott selbst in seinem Wort zum einen dem Hörer aufdeckt, dass er an dem, was Gott von ihm erwartet, in seinem Leben immer wieder gescheitert ist und scheitert – auch nach seiner Taufe: Der Hörer soll erkennen, dass er eben nicht dazu in der Lage ist, mit seinem eigenen guten Willen, mit seinen guten Anlagen, die in ihm stecken, so zu leben, dass er damit vor Gott bestehen kann. Ja, er soll erkennen, dass er auch nach dem Empfang der Vergebung immer wieder von Neuem ganz auf Gottes Vergebung angewiesen bleibt und die Sünde nicht einfach in der Vergangenheit hinter sich lassen kann. Diese Erkenntnis wirkt Gott selber durch sein Wort – nichts Anderes ist mit der „Reue“, dem „Leid“ und dem „Entsetzen“ gemeint, von dem Melanchthon hier spricht. Es geht ihm hier nicht darum, dass die Predigt des Gesetzes irgendwelche bestimmten „Gefühle“ im Hörer hervorrufen soll, sondern es geht ihm darum, dass die Verkündigung des Gesetzes Gottes immer wieder die Gewissen der Menschen trifft und bei ihnen dann entweder Leid und Betroffenheit oder aber Protest und Empörung auslöst – wobei auch Letzteres ein Zeichen für die Wirkmacht des Gesetzes Gottes ist.
Doch Gott geht es in der Verkündigung des Gesetzes nicht darum, den Menschen möglichst klein zu machen oder ihm ein möglichst schlechtes Gewissen zu machen. Es geht ihm vielmehr darum, dass der Hörer umso klarer erkennt, was allein ihn zu retten vermag: nicht seine guten Vorsätze, nicht sein frommes Bemühen, sondern allein der Freispruch in der Absolution: „Dir sind deine Sünden vergeben.“ Auch diese Worte sind nicht bloß eine interessante Information, sondern haben die Kraft, alles wegzunehmen, was den Menschen von Gott trennen könnte, und ihn, den Menschen, in die ungetrübte Gemeinschaft mit Gott zu versetzen.
Und eben dieses wirkmächtige Wort des Evangeliums wirkt nun zugleich auch den Glauben, so betont es Melanchthon hier: Der Glaube ist nichts, was der Mensch aus sich hervorbringt, er wird vielmehr aus dem Evangelium, aus dem Zuspruch der Sündenvergebung empfangen, so formuliert es der 12. Artikel. Der Glaube ist also insofern der zweite Teil der Buße, weil er das Ergebnis des wirkmächtigen Wortes des Evangeliums ist.
Genau so bringt Gott also Menschen in den Himmel: Dadurch, dass er sie durch die Predigt des Gesetzes immer wieder zu Jesus Christus, zum Empfang seiner Vergebung treibt und sie immer wieder erfahren lässt, dass unser ganzes Heil allein an dem hängt, was er uns in seinem Wort, ganz konkret im Wort der Vergebung, schenkt.
Nicht ich muss in mich hineinhorchen, ob ich dort Reue oder Glauben empfinde. Ich darf ganz von mir selber wegschauen bzw. weghören auf das, was Gott in seinem Wort an mir wirkt. Es geht eben nicht darum, dass der Herrgott uns bestimmt verzeihen wird, weil das immer schon so war. Sondern es geht um das Wunder, dass Gott uns Menschen gerade da die Schuld vergibt, wo wir erkennen, dass das überhaupt nicht selbstverständlich ist, dass für diese Vergebung Christus sein Leben am Kreuz in den Tod gegeben hat.
Wer dies in seinem Leben immer wieder erfährt, wie Gott ihn durch das Gesetz zu den Toten herabführt und durch das Evangelium wieder lebendig macht, der wird sich eben auch nicht mit einem augenzwinkernden Hinweis zufriedengeben, dass wir nun mal alle kleine Sünderlein sind. Dieser Empfang der Vergebung verändert uns Menschen in der Tat, lässt uns anders leben, lässt uns „Früchte der Buße“ bringen – nicht, um Vergebung der Sünden zu erlangen, sondern weil wir die Vergebung der Sünden geschenkt bekommen haben. Niemals ist das, was wir nach dem Empfang der Vergebung anders oder vielleicht auch besser machen, eine Bedingung dafür, dass die Vergebung Gottes auch wirklich gilt. Genau das schärft Melanchthon hier in diesem 12. Artikel auch noch einmal eindringlich ein. Es geht nicht um unser Tun, sondern um Gottes Tun an uns.
Diese Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, die uns lutherischen Christen so vertraut ist, ist in anderen Konfessionen oftmals kaum bekannt. Die Folge dessen ist dann immer wieder eine Gesetzlichkeit, bei der das Gesetz so gepredigt wird, als ob es eine Anweisung sei, die wir, wenn wir uns denn nur etwas mehr Mühe geben, doch erfüllen können, und bei der das Evangelium so gepredigt wird, als ob Gottes Gnade und Vergebung von dem, was wir fühlen und empfinden oder was wir an Gutem tun, in irgendeiner Weise abhängig sei. Darum ist es, wie Martin Luther immer wieder betont hat, die höchste Kunst eines Theologen, Gesetz und Evangelium voneinander zu unterscheiden. Genau darauf hat ein Pastor in jeder Predigt zu achten. Doch letztlich ist es Gott selber, der Gesetz und Evangelium unterscheidet – und uns gerade so durch sein Wort der Vergebung rettet und ewig selig macht. So etwas Wunderbares ist die Buße!