1. - Einführung

„Martin Luther ist aus der katholischen Kirche ausgetreten und hat eine neue evangelische Kirche gegründet, die sich von der katholischen Kirche abgespalten hat.“ Noch heute kann man solchen historisch und inhaltlich völlig unsinnigen Missverständnissen der Reformation im 16. Jahrhundert begegnen.

Mit solchen Vorurteilen im Hinterkopf kann man auch das Augsburger Bekenntnis überhaupt nicht verstehen, das wir in den Glaubensinformationen dieses Jahres (und möglicherweise auch des folgenden Jahres) näher betrachten wollen: Es war nie gedacht als Gründungsdokument einer neuen Kirche oder als Bekenntnis einer Teilkirche, sondern als Ausdruck der Katholizität derer, die dieses Bekenntnis vortrugen: Sie sahen sich ganz bewusst in der Einheit der Kirche aller Zeiten und Orte und wollten gerade nicht etwas Neues lehren oder gar gründen.

Die Formulierung eines Bekenntnisses stand nicht am Beginn der Reformation. Sie erwies sich erst im Laufe der Zeit als notwendig und umgänglich: Anlass zu ersten Bekenntnisformulierungen bot zunächst einmal die Erfahrung, dass innerhalb der reformatorischen Bewegung Lehren vertreten wurden und Praktiken aufkamen, die mit den ursprünglichen Anliegen Martin Luthers und seiner Weggefährten in keiner Weise vereinbar waren. Nun musste man die eigene Position formulieren, um sich von solchen Strömungen abzugrenzen und sich nicht selber von ihnen auch reichsrechtlich in Misskredit bringen zu lassen. Anlass zu eigenen Bekenntnisformulierungen boten weiterhin Visitationserfahrungen, die Martin Luther und seine Mitarbeiter in der zweiten Hälfte der 20er Jahre des 16. Jahrhunderts machten: Sie stellten fest, dass die Unkenntnis zentraler Inhalte des christlichen Glaubens bei den Gemeinden wie bei den Priestern so weit verbreitet war und so tief reichte, dass dieser Unkenntnis lehrmäßige Aussagen und Formulierungen entgegengesetzt werden mussten.

Daneben hatte die Formulierung von Bekenntnissen jedoch in der Zeit vor 1530 durchaus auch eine politische Dimension: Das heutige Deutschland bestand damals aus einer ganzen Reihe von unabhängigen Fürstentümern, die jedoch alle zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation mit dem Kaiser an der Spitze gehörten. Einige der Fürsten hatten ihren Ländern die Reformation eingeführt und befanden sich damit in einer gewissen rechtlichen Grauzone: War die Duldung oder Unterstützung der Reformation mit Beschlüssen der Reichstage, zu denen die Fürsten von Zeit zu Zeit – mal mit, mal ohne den Kaiser – zusammenkamen, vereinbar oder nicht? Die Ausgänge der Reichstage waren jeweils unterschiedlich, und so schmiedeten die Fürsten, die die Reformation unterstützten, Bündnispläne, um sich für den Fall, dass sie von denen, die die Reformation ablehnten – darunter dem Kaiser – unter Druck gesetzt oder gar angegriffen werden sollten, besser verteidigen zu können. Für solch ein Bündnis brauchte man ein gemeinsames Bekenntnis, doch lag den Fürsten dabei an Bekenntnisformulierungen, in denen sich möglichst auch unterschiedliche reformatorische Strömungen wiederfinden konnten, um die Koalition möglichst breit aufstellen zu können. Dagegen waren die Theologen um Luther auf möglichst eindeutige Formulierungen bedacht und waren nicht dazu bereit, aus politischen Interessen Kompromisse in Lehrfragen einzugehen. Das bekannteste Beispiel hierfür ist das sogenannte „Marburger Gespräch“ im Jahr 1529, durch das der Landgraf von Hessen versuchte, eine Einigung zwischen Zwingli und Luther zu erzielen. Das Marburger Gespräch scheiterte, weil Luther in der Frage des Heiligen Abendmahls zu keinen Zugeständnissen bereit war: „Ihr habt einen anderen Geist als wir.“

Anfang 1530 lud dann der Kaiser zu einem Reichstag nach Augsburg ein, in der Hoffnung, den Konflikt innerhalb der deutschen Kirche auf diesem Reichstag lösen zu können. Er forderte in seinem Anschreiben die beteiligten Parteien dazu auf, in Form eines Bekenntnisses von ihrer Position Rechenschaft abzulegen.

Daraufhin beauftragten die Fürsten, in deren Gebiet die Reformation eingeführt worden war, Theologen mit der Erarbeitung eines solchen Bekenntnisses. Martin Luther selber war an den Vorarbeiten durchaus beteiligt, doch war von vornherein klar, dass er in Augsburg nicht würde mit dabei sein können, da er nach wie vor unter der Reichsacht stand und nur auf dem Gebiet Kursachsens sicher sein konnte. So verfolgte er später die Geschehnisse in Augsburg von der Veste Coburg an der südlichen Grenze Kursachsens aus. In den Monaten vor dem Reichstag verschärfte sich der Ton des Kaisers zuungunsten der reformatorisch gesinnten Fürsten; darauf hatte Philipp Melanchthon, der nun bei der Verfassung des Bekenntnisses die Federführung hatte, entsprechend jeweils zu reagieren. Schließlich mäßigte der Kaiser sich wieder kurz vor Beginn des Reichstags in seinem Ton. So konnte am 25. Juni 1530 das fertige Bekenntnis vom sächsischen Kanzler Christian Beyer in der Kapitelstube des bischöflichen Palastes Kaiser Karl V. und den Kurfürsten des Reiches in seiner deutschen Fassung vorgetragen und anschließend, unterzeichnet von einer Reihe von Fürsten, in der lateinischen Fassung dem Kaiser übergeben werden. In der Vorrede, die vom sächsischen Kanzler Gregor Brück verfasst wurde, beharren die Fürsten darauf, dass sie und die andere „Partei“ gleichberechtigte Partner sind und keineswegs davon auszugehen sei, dass sie in irgendeiner Weise den Konsens der Kirche verlassen hätten. Entsprechend formuliert Melanchthon am Ende der ersten 21 Artikel des Bekenntnisses: „Das ist ungefähr die Summe der Lehre auf unserer Seite. Es zeigt sich, dass nichts darin vorhanden ist, was abweicht von der Heiligen Schrift und von der katholischen und von der römischen Kirche, wie wir sie aus den Kirchenschriftstellern kennen. Infolgedessen ist das Urteil derer ungerecht, welche die Unsrigen für Ketzer gehalten wissen wollen. Der ganze Meinungsunterschied betrifft einige wenige bestimmte Missbräuche, welche sich ohne sichere Autorität in die Gemeinden eingeschlichen haben.“ Von diesen „Missbräuchen“ handeln dann nach den ersten 21 Artikeln, die die Lehre betreffen, sieben weitere Artikel, sodass das „Augsburger Bekenntnis“ (lateinisch: Confessio Augustana, abgekürzt: CA), wie es bald danach wegen des Ortes, an dem es vorgetragen wurde, genannt wurde, insgesamt aus 28 Artikeln besteht.

Die Botschaft des Augsburger Bekenntnisses ist also klar: Wir vertreten die Position der katholischen Kirche, gerade auch, wenn wir Missbräuche kritisieren, die in der Kirche eingerissen sind. Und wir konstruieren keine neue Lehre, sondern beschreiben einfach, was bei uns – gut katholisch – gelehrt und praktiziert wird.

Keinesfalls wird man dem Augsburger Bekenntnis dabei gerecht, wenn man es als Ergebnis taktischer Erwägungen versteht. Es will in strengem Sinne Bekenntnis sein – und das heißt: Es wird zuerst und vor allem vor Gott abgelegt und verantwortet. Dass sich nach dem Zeugnis des Neuen Testaments am Bekenntnis die Scheidung von Heil und Unheil vollzieht (vgl. Matthäus 10,32+33; Römer 10,9+10), ist auch den Bekennern von Augsburg wohl bewusst. Sie machten dem Kaiser bei dem Vortrag ihres Bekenntnisses deutlich, dass sie dazu bereit seien, für dieses Bekenntnis mit ihrem Leben einzustehen.

Richtpunkt der Gewissheit, mit der die Bekenner ihr Bekenntnis vortragen, ist dabei einzig und allein die Heilige Schrift: An der Übereinstimmung mit ihr entscheidet sich die Frage von wahrer und falscher Lehre und Praxis. Dies setzt natürlich voraus, dass man der Heiligen Schrift inhaltliche Aussagen entnehmen kann, die von bleibender Gültigkeit sind und nicht nur je und dann in einer besonderen Situation, sondern zu allen Zeiten und an allen Orten wahr bleiben. Von der Autorität der Heiligen Schrift her erhält dann auch ein auf ihr sich gründendes Bekenntnis seine Autorität: Es bleibt, weil es schriftgemäß ist und sich in Kontinuität zur apostolischen Lehre der Kirche aller Zeiten befindet, auch künftig für die Kirche gültiges und verbindliches Bekenntnis.

Bekenntnisse wurden in der Kirche immer wieder dann herausgefordert, wenn bisher selbstverständlich und einmütig Gelehrtes durch gegenteilige Lehren in Frage gestellt wurde. Sie dienen von daher stets auch der Abgrenzung von falscher Lehre und verwerfen diese. Zu dem Ja des Bekenntnisses gehört also immer auch untrennbar das Nein zur widersprechenden Lehre. Dabei spricht das Ja aus, was immer schon gelehrt worden ist, während das Nein auf immer wieder neue Herausforderungen des Jas eingehen muss. Diese Struktur haben auch die 21 Lehrartikel des Augsburger Bekenntnisses, während die Artikel 22-28 das Thema der Missbräuche in der Kirche stärker argumentativ behandeln.

Während Philipp Melanchthon das Augsburger Bekenntnis im Weiteren als seine Privatschrift ansah und sich darum auch befugt sah, an ihm immer wieder auch Veränderungen vorzunehmen (z.B. in der Frage des Heiligen Abendmahls, woraus die sogenannte  CA Variata entstand), erlangte das ungeänderte, ursprüngliche Augsburger Bekenntnis in der Folgezeit bald den Rang einer offiziellen Bekenntnisschrift – allerdings nur für die in der Folgezeit aufgrund der Ablehnung der CA durch den Kaiser auch organisatorisch eigenständige „lutherische“ Kirche, auch wenn diese noch lange auch terminologisch den Anspruch erhob, die wahre „katholische“ Kirche zu sein. Es wurde schließlich Bestandteil des sogenannten Konkordienbuchs, einer Sammlung lutherischer Bekenntnisschriften, auf die die Pfarrer der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche bis heute verbindlich als Norm ihrer Lehre bei ihrer Ordination verpflichtet werden: Sie dürfen nichts lehren und verkündigen, was dem Augsburger Bekenntnis widerspricht. Mit dieser Bekenntnisverpflichtung sollen die Gemeinden der lutherischen Kirche vor lehrmäßiger Willkür ihrer Pastoren geschützt werden: Sie sollen gewiss sein dürfen, dass das Wort, das ihnen verkündigt wird, in der Kontinuität der Lehre der Kirche aller Zeiten steht.

Mit dem gemeinsamen Bezug auf das Bekenntnis wird zugleich auch kirchliche Gemeinschaft gestiftet: Das Bekenntnis zielt darauf ab, gemeinsam gesprochen zu werden, es ist, vom Griechischen her: homo-logia, gemeinsames Reden zu und vor Gott. Wo dieses gemeinsame Bekenntnis Lehre und Praxis der Kirche bestimmt, ist kirchliche Einheit gegeben, auf die ja gerade auch das Augsburger Bekenntnis hindrängt. Zugleich macht dieses Bekenntnis aber auch sehr deutlich, dass die Einheit der Kirche niemals auf Kosten oder unter Preisgabe der Wahrheit geschaffen werden kann: Das Bekenntnis ist letztlich und vor allem Gabe und Geschenk des Herrn der Kirche an seine Kirche; es zu ändern, unterliegt nicht menschlicher Verfügungsgewalt.

In den folgenden Ausgaben der „Glaubensinformationen“ wollen wir uns nun mit den einzelnen Artikeln des Augsburger Bekenntnisses befassen.