5. - Artikel 4: Über die Rechtfertigung

Weiter wird gelehrt, dass wir Vergebung der Sünde und Gerechtigkeit vor Gott nicht durch unsere Verdienste, Werke und Gott versöhnenden Leistungen (wörtl.: Genugtun) erreichen können. Vielmehr empfangen wir Vergebung der Sünde und werden vor Gott gerecht aus Gnade um Christi willen durch den Glauben, wenn wir glauben, dass Christus für uns gelitten hat und dass uns um seinetwillen die Sünde vergeben, Gerechtigkeit und ewiges Leben geschenkt wird. Diesen Glauben will Gott als Gerechtigkeit, die vor ihm gilt, ansehen und zurechnen – wie Paulus im 3. und 4. Kapitel des Römerbriefes sagt.

Nach den Artikeln über Gott, den Menschen (bzw. die Sünde des Menschen) und Christus muss es nun im Verlauf des Augsburger Bekenntnisses um die Frage gehen, auf welche Weise das, was Christus getan hat, denn nun das Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen bestimmt und verändert. Genau damit befasst sich der vierte Artikel des Augsburger Bekenntnisses, der die „Rechtfertigung“ behandelt.

Das Thema „Rechtfertigung“ war im 16. Jahrhundert die zentrale Streitfrage zwischen den „Altgläubigen“ und den Anhängern der Reformation. Mitunter hört man heutzutage den Einwand, es habe sich dabei um ein „Spezialthema“ gehandelt, das den heutigen Menschen, ja selbst die heutigen Christen eigentlich gar nicht interessiere. Doch wer dies behauptet, hat noch nicht einmal ansatzweise verstanden, worum es bei dem Thema „Rechtfertigung“ eigentlich geht: Es geht um nicht weniger als um das Verhältnis zwischen Mensch und Gott – um die Frage, ob und wie das Leben des Menschen in der ewigen Gemeinschaft mit Gott endet oder nicht. Diese Frage ist deshalb so dringlich, weil der Mensch – wie Artikel 2 beschrieben hat – sich von Gott getrennt hat und in der Trennung von Gott lebt und sein Leben eben damit gerade nicht automatisch in die Gemeinschaft mit Gott mündet. Die Zukunft des Menschen lässt sich eben nicht unabhängig von der Bestimmung seines Verhältnisses zu Gott beschreiben – als ob etwa alle Menschen automatisch nach ihrem Tod in einem Zustand höherer Glückseligkeit weiterleben. Glückseligkeit ohne Gott kann es für den Menschen auch und gerade jenseits der Todesgrenze nicht geben. Und eben damit wird die Frage nach der „Rechtfertigung“ die wichtigste Frage des Menschen überhaupt: die Frage, ob und wie er mit seinem Leben in Gottes Augen bestehen kann.

„Rechtfertigung“ ist ein juristischer Begriff; er beschreibt ein Geschehen in einem Gerichtsverfahren. In der Tat stellt sich die Frage nach der „Rechtfertigung des Sünders“ nur da in letzter Ernsthaftigkeit, wo nicht geleugnet oder verdrängt wird, dass ein jeder Mensch sich einmal mit seinem Leben vor Gott dem Richter zu verantworten hat. Nur dann stellt sich auch die Frage, was oder wer uns in diesem letzten Gericht Gottes retten, unseren Freispruch herbeiführen kann. Es ist bezeichnend, dass die angebliche ökumenische Verständigung in der Frage der Rechtfertigung zwischen evangelischer und römisch-katholischer Kirche, die 1999 in der sogenannten „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ behauptet wurde, eben dadurch erzielt wurde, dass beide Seiten konsequent die Frage danach, wer oder was uns im letzten Gericht rettet, ausblendeten und damit den entscheidenden Punkt schlicht und einfach umgingen.

Dagegen hält der 4. Artikel des Augsburger Bekenntnisses ganz konsequent fest: Entscheidend für das letzte Urteil über das Leben eines Menschen ist nicht, ob er moralisch anständig gehandelt hat, „ein guter Mensch war“, von seinen – unbestritten vorhandenen – Fähigkeiten, sich an Regeln des menschlichen Miteinanders zu halten, auch Gebrauch gemacht hat. Sondern im letzten Gericht Gottes geht es einzig und allein um die Frage des Verhältnisses zwischen Mensch und Gott – das sich natürlich dann auch auf sein Verhalten gegenüber seinen Mitmenschen auswirkt. Und dieses durch die Schuld des Menschen zerbrochene Verhältnis zwischen Mensch und Gott kann nicht durch Bemühungen des Menschen, nicht durch ethisch korrektes Verhalten, nicht durch Frömmigkeitsübungen, erst recht nicht durch irgendwelche Formen von „Wiedergutmachung“ in Ordnung gebracht und wiederhergestellt werden. Dies ist vielmehr allein möglich und geschieht auch in der Tat durch „Vergebung der Sünde“, so betont es das Augsburger Bekenntnis. Diese Vergebung der Sünde ist keine allgemeine religiöse Wahrheit oder Selbstverständlichkeit, sondern gründet sich einzig und allein im stellvertretenden Kreuzestod Christi für uns, so führt es der Artikel aus. Gottes Handeln im Leiden und Sterben Christi allein schafft Vergebung der Sünden und damit die Wiederherstellung des zerbrochenen Verhältnisses zwischen Mensch und Gott.

Und diese Wiederherstellung des zerbrochenen Verhältnisses zwischen Mensch und Gott wird Realität im Leben des einzelnen Menschen durch die Zueignung der Vergebung der Sünde im sakramentalen Zuspruch des Absolutionswortes, in der Heiligen Taufe und im Heiligen Mahl. Wenn das Augsburger Bekenntnis eine Formulierung aus Römer 4,3-5 aufgreift und davon spricht, dass Gott dem Menschen Gerechtigkeit „zurechnet“, dann ist nicht damit gemeint, dass Gott irgendwo im Himmel eine einsame Entscheidung über den Menschen trifft, die aber letztlich völlig losgelöst bleibt von dem, was er hier auf Erden erfährt. Sondern Rechtfertigung, also Vergebung der Sünden, geschieht hier und jetzt auf Erden in den sakramentalen Vollzügen der Kirche: in der Predigt, in der Beichte, in der Taufe und im Altarsakrament. Was sich dort ereignet, hat einen unmittelbaren Bezug zu Gottes Urteil im letzten Gericht – ja mehr noch: ist mit diesem Urteil identisch.

Genau darum ging es damals auch bei Martin Luthers sogenanntem „reformatorischem Durchbruch“. Immer wieder hatte sich Luther mit der Frage gequält, ob und wie er seines Heils, der Teilhabe am ewigen Leben in der Gemeinschaft mit Gott, gewiss werden könne. Schließlich wurde ihm die Antwort klar in der Beschäftigung mit den Stiftungsworten des Beichtsakraments: „Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen.“ (St. Johannes 20, 23) Die Absolution, der Zuspruch der Sündenvergebung in der Beichte, ist identisch mit Gottes Urteil über mein Leben – und zwar nicht bloß mit einem vorläufigen Zwischenurteil, sondern mit seinem endgültigen Urteil über mein Leben. Hier und jetzt findet in der Beichte schon das letzte Gericht Gottes statt, und ich darf sein abschließendes Urteil vernehmen: „Dir sind deine Sünden vergeben. Du bist in meinen Augen gerecht.“ Es geht nicht darum, dass ich mit göttlicher Hilfe versuche, mich zu einem moralisch guten und in diesem Sinne gerechten Menschen zu entwickeln, um dann am Ende darauf zu hoffen, dass Gott diese Entwicklung mit einem Freispruch honoriert. Meine Gerechtigkeit vor Gott ist nicht begründet in dem, was ich tue, sondern besteht einzig und allein in dem, was Gott mir in seinem Wort zuspricht: Wenn Gott sagt: „Dir sind deine Sünden vergeben. Du bist in meinen Augen gerecht“, dann bin ich gerecht, weil Gottes Wort diese neue Realität setzt und hervorruft.

„Rechtfertigung“ ist also nicht ein langer Prozess, zu dem Gott und Mensch gleichsam als Partner je ihren Beitrag leisten, indem Gott den Menschen mit seiner Gnade eine Fähigkeit schenkt, die der Mensch mithilfe der ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten in die Tat umsetzen soll. Wäre die Rechtfertigung ein solcher Prozess, dann könnte ich in der Tat meines Heils niemals gewiss sein – es sei denn, dass ich die Möglichkeit einer Verurteilung im letzten Gericht von vornherein entgegen dem klaren Zeugnis der Heiligen Schrift ausschlösse. Sondern im sakramentalen Zuspruch der Sündenvergebung bricht die Ewigkeit schon hier und jetzt in die Zeit hinein, verschränken sich Zukunft und Gegenwart, sodass ich hier und jetzt schon höre, was zugleich am Ende meines Lebensweges Gott über mich urteilen wird.

Das heißt aber auch zugleich: Ich brauche als Christ nicht auf mich, meine Fähigkeiten, meine Fortschritte in einem Prozess der Heiligung zu schauen. Sondern ich darf ganz von mir selbst wegschauen hin auf das, was Christus für mich am Kreuz erwirkt hat und was er mir in der Vergebung der Sünden austeilt. Meine Gerechtigkeit liegt nicht in mir selbst, sondern außerhalb von mir selbst in Christus und seinem Wort. Und „außerhalb“ von mir bleibt diese Gerechtigkeit auch und gerade da, wo Christus in mir Wohnung nimmt und mir gerade so seine Vergebung zueignet. Denn Christus und seine Vergebung lassen sich nie irgendwie „verrechnen“ mit dem, was ich tue oder auch empfinde.
Und auf diesem Hintergrund wird nun auch verständlich, was der 4. Artikel des Augsburger Bekenntnisses meint, wenn er formuliert, wir würden vor Gott gerecht „durch den Glauben“, oder Gott wolle den Glauben als Gerechtigkeit, die vor ihm gilt, ansehen: Der Glaube ist gerade nicht Tun des Menschen, eine besondere Form der guten Werke, die wir vollbringen müssen, um von Gott als gerecht angesehen zu werden. Das Augsburger Bekenntnis sagt nicht: Die „Altgläubigen“ verlangen zu viel als Bedingung für die Seligkeit; wir ermäßigen diese Bedingung ein wenig und verlangen etwas weniger, eben nur den Glauben. Sondern der Glaube ist gerade das Gegenteil allen menschlichen Tuns; er ist reines Empfangen – oder noch einmal anders ausgedrückt: Er ist die Art und Weise, wie Gott seine Gerechtigkeit, seine Vergebung, sein Heil bei uns ankommen lässt. Die Rechtfertigung „durch den Glauben“ schränkt also das „allein aus Gnaden“ gerade nicht ein, sondern ist letzter und tiefster Ausdruck des „allein aus Gnaden“: Gott macht mich dadurch gerecht, dass er mich mit Christus verbindet. Diese Christusgemeinschaft ist der Glaube, der staunend wahrnimmt, was Gott an mir schon gewirkt hat – ohne meine Mitwirkung, ohne mein Zutun.

Glaube ist Gemeinschaft mit Christus – eben darum lässt er sich aber eben auch nicht loslösen von den sakramentalen Vollzügen der Kirche, von der Predigt, der Beichte, der Taufe, dem Heiligen Mahl. Der vierte Artikel des Augsburger Bekenntnisses ist gleichermaßen von römisch-katholischer wie von protestantischer Seite immer wieder so missverstanden worden, als ob das „allein durch den Glauben“ gegen die Gnadenmittel der Kirche gerichtet sei: Ich brauche Wort und Sakrament nicht; Hauptsache, ich glaube! Doch Glaube ist eben keine unverbindliche Gläubigkeit, sondern bezieht sich auf die Vergebung der Sünden, die mir in ganz konkretem Geschehen zugeeignet wird. Es geht in dem Glauben, von dem der 4. Artikel des Augsburger Bekenntnisses spricht, nicht darum, dass ich glaube, dass es Gott gibt (das tun die Teufel auch und zittern, bemerkt St. Jakobus 2,19 dazu treffend). Es geht auch nicht bloß darum, dass ich „an Gott glaube“. Sondern es geht, so betont es das Augsburger Bekenntnis, darum, dass wir glauben, dass uns um Christi willen „die Sünde vergeben, Gerechtigkeit und ewiges Leben geschenkt wird.“ Glaube bezieht sich also auf ein Geschehen, das mich selber betrifft, und blickt doch dabei zugleich gerade nicht auf sich, sondern von sich weg auf den Zuspruch der Vergebung. Der Glaube, von dem das Augsburger Bekenntnis spricht, ist damit auch nicht abhängig von irgendwelchen Gefühlsregungen des Menschen. Er besteht auch und gerade dann, wenn der Mensch von seinem eigenen Glauben nichts zu fühlen vermag. Denn er gründet sich ja in Christus und seinem Wort und nicht in meinen eigenen Emotionen.

Weil die Rechtfertigung dadurch geschieht, dass Gott selber das Verhältnis zwischen sich und mir neu bestimmt und setzt, ist die Rechtfertigung immer eine „Totalbestimmung“. Ich kann niemals bloß zu 80% oder 90% in Gottes Augen gerecht sein. Sondern entweder bin ich gerecht – oder ich bin es nicht. Und weil Gott sagt: Du bist es, dir sind deine Sünden vergeben, darum ist die entscheidende Frage meines Lebens geklärt: „Da wir nun gerecht geworden sind durch den Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus.“ (Römer 5,1)