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10. Das Kollektengebet

10. Das Kollektengebet
Der Eingangsteil des Gottesdienstes wird mit dem Kollektengebet beschlossen. Es wird vom Liturgen mit der Gebetsaufforderung „Lasset uns beten!“ eingeleitet. Wenn in der Alten Kirche an dieser Stelle der Liturgie dieser Ruf ertönte, fiel die Gemeinde auf die Knie, und es trat eine Zeit vollständiger Stille ein; währenddessen konnte jedermann still vor Gott bringen, was er oder sie persönlich auf dem Herzen hatte. Nach einigen Minuten fasste dann der Liturg die vorausgegangenen unausgesprochenen Gebete zu einem kurzen Gebet zusammen, dem sogenannten „Kollektengebet“. Heutzutage ist uns das Wort „Kollekte“ zumeist nur als Bezeichnung für die Geldsammlung im Gottesdienst oder nach dem Gottesdienst bekannt. Das Kollektengebet ist auch eine „Sammlung“, die Sammlung und Zusammenfassung der zuvor vor Gott gebrachten Gebete der Gläubigen. Darum gibt es auch in unserem Gottesdienst zwischen der Aufforderung „Lasset uns beten!“ und dem Kollektengebet selber eine kurze Zeit der Stille, in der jeder Gottesdienstteilnehmer ein kurzes Gebetsanliegen vor Gott bringen kann. Es wäre wünschenswert, wenn sich diese Zeit der Gebetsstille im Laufe der Zeit noch etwas ausdehnen ließe, ohne dass die Gemeinde dabei auf den Gedanken kommt, der Pastor würde vielleicht gerade nicht die richtige Seite in der Agende finden. Die Kollektengebete sind jeweils einem bestimmten Sonn- oder Feiertag zugeordnet; sie enthalten jeweils eine prägnante Bitte an Gott. Sie haben dabei stets eine feststehende Form: Eingeleitet werden sie jeweils mit einer Anrede, zumeist an Gott den Vater, in einigen wenigen Fällen auch an Jesus Christus. Die Anrede ist in vielen Fällen mit einer sogenannten „relativischen Prädikation“ verbunden. Das heißt, dass Gott in einem Nebensatz auf eine bestimmte Eigenschaft, auf sein Wirken in der Heilsgeschichte, auf ein biblisch bezeugtes Geschehen oder überhaupt auf seinen Willen zu helfen, angesprochen wird. So heißt es etwa in der „klassischen“ Form der Kollektengebete: „Allmächtiger, ewiger Gott, der du uns einen neuen Himmel und eine neue Erde verheißen hast, darinnen Gerechtigkeit wohnt“ oder: „Herr Gott, der du deine Allmacht kundtust vornehmlich im Verschonen und Erbarmen“. Hinter dieser „relativischen Prädikation“ liegt eine tiefe geistliche Einsicht: Es geht nicht darum, einer vermuteten Gedächtnisschwäche Gottes auf die Sprünge zu helfen, indem man ihn auf das verweist, was er ist, kann und getan hat. Sondern wir dürfen Gott in unseren Gebeten darum an das erinnern, was er ist, kann und getan hat, weil Gott sich in dem, was er für uns getan hat und was er uns zugesagt hat, zu unseren Gunsten festgelegt hat und wir uns darauf berufen, ja ihn darauf geradezu festnageln können, wie dies einst Jakob bei seinem Kampf mit Gott am Jabbok getan hat: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!“ (1. Mose 32,27) Insofern ist gerade auch diese „relativische Prädikation“ eine gute Anleitung zum eigenen, persönlichen Beten zu Gott, ganz gleich, in welcher grammatischen Gestalt wir dies tun mögen. In den neueren Agenden, auch in unserer Evangelisch-Lutherischen Kirchenagende, wurden die Aussagen dieser „relativischen Prädikationen“ jeweils in Hauptsätze umgewandelt, weil die alten Formulierungen von der Gemeinde angeblich nicht mehr nachzuvollziehen seien. So heißt es nun in unserer neuen Agende: „Allmächtiger, ewiger Gott, du hast uns einen neuen Himmel und eine neue Erde verheißen …“ und „Herr Gott, du zeigst deine Allmacht vor allem im Verschonen und Erbarmen“. Der Unterschied scheint nicht sehr groß zu sein; auch ist die neue Formulierung sicher nicht falsch. Die Loslösung der Aussage über Gott von der Anrede Gottes kann jedoch in der Gebetspraxis einer in neueren kirchlichen Gebeten häufig zu beobachtenden Unart Vorschub leisten, wonach das Gebet als „Fortsetzung der Predigt mit anderen Mitteln“ auf dem Weg über die Anrede Gottes missbraucht wird: Gott wird angepredigt; aber in Wirklichkeit will der Liturg der Gemeinde mit dem Gebet etwas sagen. Nicht immer muss dies so platt geschehen wie bei jenem Pastor, von dem berichtet wird, er habe in den Abkündigungen einen Punkt vergessen und daraufhin im Allgemeinen Kirchengebet formuliert: „Herr, du weißt, dass wir für den Frauenkreis am kommenden Mittwoch um 16 Uhr noch Kuchenspenden benötigen.“ Auf die Anrede folgt als zweiter Hauptteil die Bitte um eine bestimmte Gabe, die in den meisten Fällen direkt an die vorausgehende „relativische Prädikation“ anknüpft. Mitunter wird auch noch die Folge einer Erfüllung dieser Bitte genannt und auf den Segen hingewiesen, der sich dadurch für das Leben der Betenden ergeben würde. So heißt es in einem Kollektengebet zum 20. Sonntag nach Trinitatis: „Herr Gott, himmlischer Vater, du hast uns Menschen geschaffen und zur Gemeinschaft berufen: Wir bitten dich, segne unser Leben in deinen Ordnungen und umgib uns mit deinem heiligen Schutz, damit dein Name geheiligt und dein Reich gefördert werde …“ Wir merken an diesem Beispiel, dass sich die Formulierung der Kollektengebete erkennbar unterscheidet von der Formulierung eines persönlichen Gebets: Das Kollektengebet greift viel weiter; es ist ein Gebet, in dem sich Menschen in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen, Menschen auch aus ganz verschiedenen Zeiten und Kulturen wiederfinden sollen und können. An den Kollektengebeten kann man lernen, was es heißt, mit der Kirche zu beten, sich nicht nur auf die eigenen, persönlichen Anliegen zu beschränken, sondern die großen weltweiten Anliegen der ganzen heiligen Kirche gemeinsam mit anderen vor Gott zu vertreten, in dem Wissen, dass gemeinsam mit uns und auch schon vor uns so viele andere eben die gleichen Bitten Gott im Gebet vortragen. Viele Kollektengebete stammen in ihren Formulierungen noch aus einer Zeit vor der Reformation; manche von ihnen haben einen sehr charakteristischen Klang und gehören zu bestimmten Sonntagen einfach „mit dazu“. Damit ist nichts gegen das persönliche Gebet gesagt; wichtig ist jedoch, dass wir das Gebet der Kirche immer wieder als Quelle und vielleicht mitunter auch als Korrektiv für unser eigenes persönliches Beten nutzen.

Das Kollektengebet wird abgeschlossen mit der „Conclusio“, dem Beschluss, am häufigsten in der Formulierung: „durch unsern Herrn Jesus Christus, deinen Sohn, der mit dir und dem Heiligen Geiste lebt und regiert von Ewigkeit zu Ewigkeit.“ Es ist Kennzeichen des christlichen Gebets, dass es stets „durch Jesus Christus, unseren Herrn“ geschieht, ganz gleich, ob dies nun direkt ausgesprochen wird oder nicht. Damit nimmt das Gebet die Verheißung Jesu selber auf: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er’s euch geben.“ (St. Johannes 16,23b) Es bekennt Jesus als den einen Mittler zwischen Gott und den Menschen (1. Timotheus 2,5), als den Hohepriester, der vor Gottes Thron für uns Fürsprache übt (Hebräer 7,25; 1. Johannes 2,1). Darum ist es Christen nicht möglich, gemeinsam mit Nichtchristen zu beten: Ihr Gebet wird eben nicht „durch Jesus Christus, unseren Herrn“ an Gott gerichtet und erfolgt damit nicht durch ihn, der von sich selbst bezeugt: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.“ (St. Johannes 14,6) Auch beim abschließenden Lobpreis des dreieinigen Gottes geht es nicht darum, Gott durch das Gebet über etwas zu informieren, was er noch nicht wüsste. Wie ein Verliebter seiner „Angebeteten“ nicht oft genug sagen kann, wie wunderbar sie ist, so kann auch der Glaube gar nicht oft genug Gott sagen, wie noch viel wunderbarer Er ist. Das, was Gott für uns getan hat, ruft seine Reaktion in uns Menschen in der Form des Lobpreises hervor. Der Lobpreis ist ohnehin die angemessenste Weise, von ihm, dem dreieinigen Gott, zu sprechen. Zugleich ist dieser Lobpreis des dreieinigen Gottes ein Ausdruck der Gewissheit der Betenden, dass dieser Gott, der in Ewigkeit lebt und herrscht, auch dazu in der Lage ist, zu hören und zu erfüllen, was im Gebet vorgetragen worden ist. Während in dem Vorgängergesangbuch unseres jetzigen Evangelisch-Lutherischen Kirchengesangbuchs die Kollektengebete für die einzelnen Sonn- und Feiertage mit abgedruckt waren, wurden diese im jetzigen ELKG vermutlich aus Platzgründen ausgelassen. Es bleibt zu hoffen, dass sie in einem neuen Gesangbuch unserer Kirche wieder ihren Platz finden, damit auch Gemeindeglieder die Kollektengebete des jeweiligen Sonntags auch an den darauffolgenden Tagen noch einmal nach- und mitsprechen können. 
Auf das Kollektengebet des Liturgen antwortet die Gemeinde mit „Amen“. Das Wort „Amen“ stammt aus dem Hebräischen und ist eine Formel der Bekräftigung: „Es steht fest!“ oder: „Es soll geschehen!“ Schon im alttestamentlichen Gottesvolk wurde ein Segenswort, ein Lobpreis Gottes, eine Predigt oder ein Gebet mit „Amen“ bekräftigt (vgl. 1. Chronik 16,36; Psalm 41,14). So übernahm die Gemeinde das ihr vorgesprochene Wort und erkannte es als ein in ihrem Namen gesprochenes und für sie verbindliches Wort an. Auch die neutestamentliche Gemeinde hielt an diesem Brauch fest (vgl. 1. Korinther 14,16). Bis heute gilt die liturgische Regel: „Das Amen gehört der Gemeinde.“ Das heißt: Eigentlich ist es nicht die Aufgabe des Pastors, des Liturgen, im Gottesdienst „Amen“ zu sagen. Sondern die Gemeinde bekräftigt mit ihrem Amen, was er zuvor gesagt hatte. Lediglich an einer Stelle im Gottesdienst ist es angemessen, dass der Pastor selbst das „Amen“ spricht: am Ende der Predigt. Würde die Gemeinde auch an dieser Stelle das „Amen“ sprechen, wäre manche Predigt vermutlich schon sehr viel eher zu Ende … Auch das „Amen“ der Predigt geht allerdings auf die Praxis zurück, die Predigt mit einem Lobpreis Gottes abzuschließen, auf das dann früher in der Tat auch die Gemeinde selber mit „Amen“ antwortete. Werden Gebete im Gottesdienst gesungen, so ist für die Gemeinde durch die Melodieführung einfach zu erkennen, wann ihr „Amen“ „dran“ ist. Bei gesprochenen Gebeten helfen bestimmte Formulierungen und „Signalwörter“ der Gemeinde, ihr „Amen“ an der rechten Stelle zu sprechen, etwa das Wort „Ewigkeit“ oder die bereits erwähnte Formulierung „durch Jesus Christus, unsern Herrn“. Aus der gottesdienstlichen Praxis der Gemeinde, Gebete des Liturgen mit „Amen“ zum eigenen Gebet zu machen, hat sich im Laufe der Zeit die Sitte entwickelt, alle Gebete, auch die persönlichen, selbst gesprochenen, mit einem „Amen“ abzuschließen und so das „Amen“ zu einem allgemeinen Abschlusswort zu machen. Mit „Amen“ beantwortet die Gemeinde nicht nur die Gebete im Gottesdienst, sondern beispielsweise auch die Segens- und Vollzugsworte, die vom Liturgen gesprochen werden, etwa die Worte „im Namen Gottes des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“ oder die Worte „Gehet hin in Frieden!“ Es ist gut und sinnvoll, wenn dieses „Amen“ auch laut und deutlich von denen gesprochen wird, die beim Empfang der Absolution oder der Kommunion am Altar niederknien. Sie sagen damit noch einmal „Ja“ zu dem, was ihnen gerade zugesprochen und geschenkt wurde.