7. Die Tageszeitengottesdienste (Teil 1)

Neben den gemeinsamen Sakramentsfeiern haben schon die ersten Christen im Anschluss an die Gebetszeiten in der Synagoge, die an den Opferzeiten im Tempel ausgerichtet waren, Gebete zu bestimmten Tageszeiten gehalten. So wird in der Apostelgeschichte von Petrus berichtet, dass er mittags um 12 Uhr seine Gebetszeit gehalten hat (Apg 10,9) und dass er nachmittags um 15 Uhr zur Gebetszeit in den Tempel ging (Apg 3,1). Von Paulus berichtet die Apostelgeschichte, dass er auch um Mitternacht eine Gebetszeit gehalten hat (Apg 16,25), wohl in Anlehnung an das Nachtgebet der Synagoge (vgl. Psalm 134). Bei diesen Gebetszeiten wurden die Psalmen gebetet, daneben bald auch Lieder, die von der christlichen Gemeinde geschaffen worden waren (vgl. Kolosser 3,16).

Mit dem Übergang der Kirche zur Volkskirche und dem Aufkommen des Mönchtums fand das regelmäßige Gebet zu bestimmten Tageszeiten seinen besonderen Platz in den Klöstern. In Anlehnung an Psalm 119,164 („Ich lobe dich des Tages siebenmal um deiner gerechten Ordnungen willen“) fand und findet man sich dort zu sieben Gebetszeiten zusammen, die ihren Namen noch von der alten römischen Stundenzählung behalten haben, bei der, wie auch im Neuen Testament, der Tag um 6 Uhr morgens mit der ersten Stunde begann. Das erste Stundengebet war die Matutin (= Laudes) beim Morgengrauen, etwa um 3 Uhr, das zweite die Prim um 6 Uhr, das dritte die Terz um 9 Uhr, das vierte die Sext um 12 Uhr, das fünfte die Non um 15 Uhr, das sechste die Vesper um 18 Uhr und das siebte die Complet um 21 Uhr. In diesen Stundengebeten werden die Psalmen im Laufe einer Woche einmal durchgebetet und die Heilige Schrift im Laufe eines Jahres einmal ganz durchgelesen. Seit dem 7. Jahrhundert wurde die Verpflichtung zum Gebet des „Officiums“, wie diese Stundengebete zusammenfassend genannt wurden, auch auf die Priester im Gemeindedienst ausgeweitet; die dafür notwendigen Texte wurden um 1200 im sogenannten „Brevier“ zusammengefasst. Dieses wurde nach dem 2. Vatikanischen Konzil vor etwa 40 Jahren gründlich überarbeitet, um den „heutigen Lebensverhältnissen Rechnung zu tragen“.

Martin Luther schaffte die Tageszeitengottesdienste nicht ab; er versuchte im Gegenteil, zumindest Matutin und Vesper als Werktagsgottesdienste für die Gemeinde einzuführen und beizubehalten; daneben nennt er auch das Mittagsgebet, die Sext, und die Complet, als Gebete, die in der Gemeinde gebetet werden können. In der Matutin und der Vesper waren dabei von Luther längere Schriftlesungen und jedes Mal auch eine Predigt vorgesehen. Diese Tageszeitengottesdienste sollten vor allem von den Schülern in den Schulen getragen werden, um deren Einrichtung sich Luther in besonderer Weise bemühte. Wo Lateinkenntnisse vorhanden waren, empfahl Luther, das Lateinische gerade in diesen Tagzeitengottesdiensten auch zu praktizieren. In der Folgezeit wurden die Matutin und die Vesper vor allem in den Stadtgemeinden gehalten, in denen Schüler zur Verfügung standen; dadurch, dass die Stundengebete zumeist jeweils auf Lateinisch gebetet wurden, wurde jedoch verhindert, dass sie, wie ursprünglich von Luther gewünscht, echte Gemeindegottesdienste wurden und blieben. Durch die Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges und später durch die Aufklärung verschwanden die Tagzeitengottesdienste zumindest in ihrer ursprünglichen liturgischen Gestalt aus dem gottesdienstlichen Leben der lutherischen Kirche. An ihre Stelle traten Predigtgottesdienste an den Werktagen und Andachten, deren liturgischer Ursprung in den Stundengebeten oft kaum noch erkennbar war.

Im 19. Jahrhundert war es vor allem Wilhelm Löhe, der sich um eine Wiederbelebung der Tagzeitengottesdienste in der lutherischen Kirche bemühte und diese in seiner eigenen Gemeinde und den dort gegründeten Einrichtungen tatsächlich auch praktizierte. Ein neuer Anlauf wurde dann im 20. Jahrhundert unternommen, die Tagzeitengebete für den Gottesdienst in der lutherischen Kirche wiederzugewinnen. So haben die Ordnungen von Matutin, Vesper und Complet (das Mittagsgebet, die Sext, fehlt leider) auch ihren Platz in unserem Evangelisch-Lutherischen Kirchengesangbuch (ELKG) gefunden.

In unserer Gemeinde sind Tagzeitengebete erfreulicherweise vielen Gemeindegliedern bekannt: Viele kennen sie von Gemeindefreizeiten oder etwa auch von den Fahrten unserer Handpuppenspielgruppe, bei denen wir den gemeinsamen Tagesablauf mit der Matutin begannen und mit dem Gebet der Complet beschlossen. Auch die Treffen des Ökumenischen Gesprächskreises mit Herz Jesu beenden wir jeweils mit dem gemeinsamen Gebet der Complet und erfahren dabei immer wieder, wie wir hier aus einer gemeinsamen Gebetstradition schöpfen können. Vor der Einführung der Vorabendmessen in der Dreieinigkeitskirche in Steglitz beteten wir in unserer St. Marienkirche auch jeden Samstagabend miteinander die Vesper; seitdem ist dies nur noch an wenigen Samstagen möglich. Auch zum Abschluss von Gemeindenachmittagen oder bei der Nacht der offenen Kirchen feiern wir miteinander Vespergottesdienste. Und schließlich feiern wir am Heiligen Abend in unserer Gemeinde die Christvesper tatsächlich noch nach der Ordnung des Vespergottesdienstes. Wenn die Stundengebete auch auf das gemeinschaftliche Beten ausgerichtet sind, lassen sie sich doch zugleich auch als Ordnung für das eigene persönliche Gebet und die Strukturierung der persönlichen Gebetszeiten verwenden. Darin wird dann deutlich, dass auch das private Gebet immer Gebet als Glied der Kirche in der Gemeinschaft der Kirche ist, auch wenn es allein gesprochen wird.

Die Tagzeitengottesdienste bestehen im Wesentlichen aus fünf Hauptstücken: dem Psalmgebet, der Lesung, dem Hymnus, dem Canticum (einem Lobgesang aus dem Neuen Testament) und dem Gebetsteil. Diese Hauptstücke können durch weitere Elemente, etwa durch weitere Lieder, ergänzt werden. So beginnt etwa die Complet zum Abschluss des Tages mit der „Bereitung“, die im Rückblick auf den Tag ein Sündenbekenntnis mit der Bitte um Vergebung enthält. An die Lesung kann sich eine Predigt oder aber auch eine Väterlesung anschließen.

Das Grundmotiv des Morgengebets ist das Lob Gottes für den neugeschenkten Tag, für das Wunder der Auferstehung und der Aufruf zur rechten christlichen Wachsamkeit. Das Grundmotiv der Vesper ist der Dank für den zu Ende gehenden Tag und für den in ihm zuteil gewordenen Segen Gottes. Das Mittagsgebet ist im Vergleich zu Morgen- und Abendgebet erheblich kürzer; es will ein kurzes Innehalten am Höhepunkt des Tages sein. Für die Complet, die in den Klöstern schon im Dunkel der Nacht gebetet wurde, ist typisch, dass sie auswendig gebetet werden musste und darum keine wechselnden Texte hat. Auch die drei Completpsalmen (Psalm 4, 91 und 134) stehen jeweils fest. Die Complet lässt den Beter immer wieder schon sein Sterben einüben; dies klingt in besonderer Weise im Antwortgesang, dem Responsorium („In deine Hände befehle ich meinen Geist, du hast mich erlöst, Herr du treuer Gott“), und im neutestamentlichen Lobgesang, dem Canticum („Herr, nun lässt du deinen Diener im Frieden fahren, wie du gesagt hast“), an.

Die Tagzeitengottesdienste bieten in besonderer Weise die Möglichkeit zum gemeinsamen Psalmgebet, das jeweils das erste größere Hauptstück der Stundengebete darstellt. Während zu Luthers Zeiten in der römisch-katholischen Kirche mitunter bis zu 12 Psalmen in einer Gebetszeit gebetet wurden, trat Martin Luther für eine Beschränkung auf 3-4 Psalmen je Gebetszeit ein. Heutzutage beten wir in unseren Tagzeitengottesdiensten oft nur noch einen Psalm; angemessen wäre es eigentlich, dem Psalmgebet wieder mehr Raum in den Tagzeitengottesdiensten zu geben. In unserem ELKG finden wir ab der Nummer 600 eine ganze Reihe von Psalmen, die jeweils mit einer Antiphon, einem Leitvers, der den Psalm umrahmt, versehen sind und in den Tagzeitengebeten gebraucht werden können. Leider fehlt dort eine ganze Reihe von wichtigen Psalmen, und leider hat man bei den Antiphonen einfach den ursprünglich lateinischen Text ins Deutsche übertragen, ohne Text und Melodie aufeinander abzustimmen. Dadurch hat die Melodie dieser Antiphonen ihren eigentlichen Sinn verloren, den Text mit der Melodieführung zu unterstreichen. Es bleibt zu hoffen, dass hier in unserem künftigen neuen Gesangbuch Verbesserungen vorgenommen werden.

Die Psalmen werden beim Stundengebet im Sitzen gesungen; sie sollen ja in besonderer Weise der Meditation dienen.

Für die Lesungen in den Stundengebeten bietet sich die Ordnung der „Lesungen für das Jahr der Kirche“ an, die sich an dem Evangelium des voraufgehenden Sonntags orientiert und beispielsweise auch in unserem Feste-Burg-Kalender Verwendung findet. So weisen die Lesungen immer wieder zurück auf den Sonntag, von dem her wir die Kraft für die ganze Woche empfangen. Auf die Lesungen folgt das sogenannte „Responsorium“, ein Wechselgesang zwischen Vorsänger und Gemeinde, der stets nach einem festen Schema aufgebaut ist. Auf das Responsorium kann dann entweder eine kurze Ansprache folgen oder aber auch eine Väterlesung aus Predigten, Briefen und Büchern der Kirchenväter früherer Generationen. Möglich ist auch eine Lesung aus dem Katechismus oder aus einem Martyrologium, also einer kurzen Lebensdarstellung bedeutender Männer und Frauen aus der Kirchengeschichte, gemäß den Worten des 21. Artikels des Augsburger Bekenntnisses, dass man in unserer Kirche der Heiligen gedenken soll. All diese verschiedenen Möglichkeiten werden in unseren Vespergottesdiensten wahlweise praktiziert.