Altes Testament Teil III: Die Schriften.
Altes Testament Teil III: Die Schriften.
Neben der Schilderung der Geschichte Gottes mit seinem Volk und der Verkündigung des Willens Gottes durch die Propheten wird im Alten Testament auch die Antwort des Menschen auf Gottes Handeln laut – und zwar in ganz unterschiedlicher Weise und stets so, daß uns in dieser Antwort des Menschen zugleich Gottes Wort selber begegnet. Gewiß lassen sich unter dem Stichwort „Antwort des Menschen“ nicht alle biblischen Bücher einfach zusammenfassen, die zum dritten Teil des Alten Testaments, den sogenannten „Schriften“, gehören; aber ein erster Zugang zu diesem dritten Teil wird uns damit eröffnet. Im Zentrum dieses dritten Teils steht der Psalter, steht das Gesang- und Gebetbuch Israels. Es nimmt einen so dominierenden Platz unter den „Schriften“ ein, daß Christus selber die drei Teile des Alten Testaments so zusammenfassen kann: „Es muß alles erfüllt werden, was von mir geschrieben steht im Gesetz des Mose, in den Propheten und in den Psalmen.“ (Lukas 24,44) Um den Psalter herum haben sich dann weitere „Schriften“ gruppiert; die Zugehörigkeit einiger dieser Schriften (z.B. Esther, Prediger, Hoheslied) zum alttestamentlichen Kanon war auch zur Zeit Jesu noch nicht ganz unumstritten.
1. Der Psalter
Der Psalter besteht aus 150 Psalmen, das heißt aus 150 Liedern und Gebeten. Wie in anderen Gesangbüchern auch stammen diese Lieder und Gebete von ganz verschiedenen Verfassern und sind zu ganz verschiedenen Zeiten entstanden, bis sie schließlich in der Form des uns heute bekannten Psalters geordnet und zusammengefaßt wurden. In der heutigen Form besteht der Psalter aus fünf Büchern (Ps 1-41, 42-72, 73-89, 90-106, 107-150), wohl nach dem Vorbild der Fünf Bücher Mose. Ansonsten ist sein Inhalt allerdings bunt gemischt, wobei man allerdings manche Gruppen erkennen kann: zum Beispiel Psalmen, die vom Königtum Gottes handeln (Ps 93-99), oder eine Reihe von Wallfahrtspsalmen, die von Pilgern auf dem Weg nach Jerusalem gebetet wurden (Ps 120-134). Ganz grob kann man sagen, daß sich in der ersten Hälfte des Psalters Klagepsalmen konzentrieren und in der zweiten Hälfte Lob- und Dankpsalmen; doch gibt es hier keine säuberliche Trennung.
Die Klagepsalmen haben zumeist einen deutlich erkennbaren Aufbau: Sie beginnen mit Klagen, die oft durch die charakteristischen Fragen: „Warum?“ und „Wie lange?“ eingeleitet sind; die Klage bezieht sich dabei auf den Beter selber („Wie lange muß ich ...?“), auf Gott („Wie lange vergißt du ...?“ und auf Feinde von außen („Wie lange noch soll mein Feind ...?). Auf die Klage folgt die Bitte um Erhörung und Hilfe, die oft mit Argumenten verbunden ist, die Gott zum Eingreifen bewegen sollen. Zumeist folgt dann aber ein „Aber“, in dem der Beter schon ein Bekenntnis der Zuversicht äußert und das direkt in einen Dankpsalm überleiten kann, und das mitunter auch in ein Versprechen an Gott einmündet. Ein „klassischer“ Klagepsalm eines einzelnen Beters ist Ps 13; der bekannteste Klagepsalm ist Ps 22, der Leidenspsalm Jesu. Es ist tröstlich und wichtig, daß sich im Psalter so viele Klagepsalmen finden, die auch heute Menschen in Not ermutigen, ihre Fragen an Gott (Warum und wie lange noch?) ganz offen zu richten. Auch die Klage, ja die Anklage Gottes ist ein Ausdruck des Glaubens, den uns Gottes Wort selber hier in den Mund legt.
Neben den Klagepsalmen gibt es auch zahlreiche Dankpsalmen, in denen der Beter auf eine große Not zurückblickt und dann die Wende schildert, die ihm nun das Loben und Danken ermöglicht; ein „klassischer“ Dankpsalm ist Ps 30. Neben diese „berichtenden“ Lobpsalmen treten im Psalter „beschreibende“ Lobpsalmen, die Gottes Handeln in der Schöpfung und in der Geschichte zum Gegenstand haben. Oftmals beginnen sie mit Aufforderungen zum Lobpreis Gottes. Ein „klassisches“ Beispiel hierfür ist Ps 113.
Viele Psalmen sprechen auch heute noch in unsere unterschiedlichen Lebenssituationen sehr direkt hinein; so gehören die Psalmen für uns auch zu den vertrautesten Teilen der Heiligen Schrift. Dies gilt in besonderer Weise für den bekanntesten Vertrauenspsalm, den Psalm 23, den jeder Christenmensch als „eiserne Ration“ fürs Leben und Sterben auswendig kennen sollte. Die Länge der Psalmen kann sehr unterschiedlich sein: Der kürzeste Psalm ist Ps 117 mit 2 Versen, der längste Psalm Ps 119 mit 176 Versen (jeweils acht Verse dieses Psalms beginnen im Hebräischen jeweils mit einem Buchstaben des hebräischen Alphabets, das aus insgesamt 22 Buchstaben besteht). Ps 119 ist ein immer wieder neu variierender Lobpreis des Wortes Gottes.
Zum Verständnis der Psalmen ist stets mitzubedenken, daß Christus selber diese Psalmen auch gebetet hat: Die Psalmen sind stets zugleich Gebete Christi und Gebete zu Christus – und auch Gebete, die durch Christus an den Vater gerichtet werden. Sie haben darum ihren festen Platz im christlichen Gottesdienst – sowohl im sonntäglichen Hauptgottesdienst als auch in besonderer Weise in den Stundengebeten der Kirche (Matutin, Sext, Vesper, Complet).
2. Das Buch Hiob
Das Buch Hiob ist eine umfangreiche Dichtung, die sich mit der Frage auseinandersetzt, wie es möglich ist, daß frommen Menschen Böses widerfährt. Es schildert den frommen Mann Hiob, der in kürzester Zeit eine „Hiobsbotschaft“ nach der anderen erhält: Seine Kinder sterben, sein ganzer (Vieh-)Besitz wird ihm genommen; schließlich wird er auch noch schwerkrank. Der Leser erfährt bereits zu Beginn, was Hiob nicht weiß: Daß all dies für ihn eine Prüfung ist, die Gott mit dem Satan verabredet hat. Hiob reagiert auf all dies mit bewundernswerter Frömmigkeit: „Der HERR hat’s gegeben, der HERR hat’s genommen; der Name des HERRN sei gelobt!“ (Hi 1,21) „Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?“ (Hi 2,10) Was Hiob dann im weiteren jedoch mächtig zu schaffen macht, sind seine Freunde, die eigentlich kommen, um ihn zu trösten. Doch in ihrem Trost bringen sie zum Ausdruck, daß sie Leid nur als Folge menschlicher Verfehlungen begreifen können: Wenn Hiob all dies Böse widerfahren ist, dann muß dahinter irgendeine verborgene Sünde Hiobs liegen. Doch Hiob wendet sich in den Streitgesprächen mit seinen Freunden leidenschaftlich gegen diese Vergeltungslogik, diesen „Tun-Ergehen-Zusammenhang“ und ruft Gott selber als Zeugen für seine Unschuld an, ja, er klagt ihn geradezu an, ihm Unrecht getan zu haben. Seine Hoffnung reicht dabei – was im Alten Testament selten bleibt – über seinen Tod hinaus: „Ich weiß, daß mein Erlöser lebt, und als der letzte wird er über dem Staub sich erheben. Und ist meine Haut noch so zerschlagen und mein Fleisch dahingeschwunden, so werde ich doch Gott sehen.“ (Hi 19,25+26) Das Erstaunliche am Ende der Hioberzählung ist dies, daß Gott nicht den scheinbar so frommen Freunden, sondern dem Gott anklagenden Hiob Recht gibt:: „Mein Zorn ist entbrannt über dich und über deine beiden Freunde; denn ihr habt nicht recht von mir geredet wie mein Knecht Hiob.“ (Hi 42,7) Hiob selber aber findet am Schluß seinen richtigen Ort, indem er sich vor Gott beugt und ihn als seinen Schöpfer anerkennt. Die Frage, die das Buch Hiob behandelt, ist auch heute noch ungeheuer aktuell („Wie kann Gott das zulassen?“); das Buch warnt davor, auf diese Frage einfache, scheinbar fromme Antworten zu geben.
3. Das Buch der Sprüche
Im Buch der Sprüche sind Beobachtungen und Lebensweisheiten gesammelt, mit denen die Menschen damals ihre Umgebung zu erfassen und zu verstehen, ja zu „systematisieren“ versuchten; insofern kann man sie als den Beginn naturwissenschaftlichen Fragens verstehen. Im Unterschied zum „methodischen Atheismus“ heutiger Naturwissenschaft blenden die Sprüche jedoch Gott aus der Lebenswirklichkeit des Menschen nicht aus, sondern beziehen ihn bewußt mit ein. Ganz grob besteht das Buch der Sprüche aus zwei Teilen: Aus einem längeren Weisheitsgedicht, das die Weisheit als Gabe Gottes rühmt (Spr 1-9) und einer Sammlung von Weisheitssprüchen (Spr 10-31), mit den Sprüchen Salomos (Spr 10-22) und den Sprüchen der Männer Hiskias (Spr 25-29). Der Weisheitsspruch ist einfach aufgebaut; er besteht zumeist aus einem Doppelsatz, der parallel aufgebaut ist, wobei der zweite Teil des Satzes den ersten entweder weiterführt und entfaltet oder aber das Gegenteil des ersten Satzteils beschreibt: „Ein Verleumder verrät, was er heimlich weiß; aber wer getreuen Herzens ist, verbirgt es.“ (Spr 11,13). Beschrieben werden Handlungsweisen von Weisen und Gottlosen, werden immer wieder zu beobachtende Gesetzmäßigkeiten. Daß der Glaube an Gott den Schöpfer sich gerade auch im Alltag auswirkt, ist etwas, was man aus der Lektüre des Buches der Sprüche entnehmen kann; sie lassen sich darum auch heute immer wieder mit Gewinn lesen. So manche bekannten Sprichwörter sind im übrigen diesem Buch der Sprüche entnommen. Es seien hier nur ein paar Kostproben zitiert: „Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg; aber der HERR allein lenkt seinen Schritt.“ (Spr 16,9) „Wer zugrunde gehen soll, der wird zuvor stolz; und Hochmut kommt vor dem Fall.“ (Spr 16,18) „Wer eine Grube macht, der wird hineinfallen; und wer einen Stein wälzt, auf den wird er zurückkommen.“ (Spr 26,27) „Gewöhne einen Knaben an seinen Weg, so läßt er auch nicht davon, wenn er alt wird.“ (Spr 22,6) Über allem aber steht als Überschrift: „Die Furcht des HERRN ist der Anfang der Erkenntnis.“ (Spr 1,7)
4. Das Buch Ruth
Das Buch Ruth erzählt eine Geschichte aus der Richterzeit: Noomi, eine jüdische Frau, zieht während einer Hungersnot mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen ins Land der Moabiter. Dort heiraten die Söhne moabitische Frauen. Dann jedoch sterben Noomis Mann und ihre beiden Söhne. Daraufhin beschließt Noomi, in ihre Heimatstadt Bethlehem zurückzukehren; ihre moabitische (also heidnische) Schwiegertochter Ruth entschließt sich, ihr zu folgen: „Wo du hin gehst, da will ich auch hin gehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch.“ (Ruth 1,16) Dieses Wort war früher als Trauspruch sehr beliebt, wobei allerdings zumeist nicht bedacht wurde, daß Ruth diese Worte zu ihrer Schwiegermutter sprach ... In Bethlehem findet Ruth schließlich einen neuen Mann aus der Verwandtschaft ihrer Schwiegermutter; sie heiratet ihn und wird so zu einer Vorfahrin Davids und damit letztlich auch zu einer Vorfahrin Jesu: Gott selbst führt durch ganz alltägliche Geschehnisse seinen Heilsplan durch.
5. Das Hohelied
Das Hohelied ist eine Sammlung von schönen und zum Teil sehr anschaulichen Liebesliedern, die allerdings viele bildliche Anspielungen erhalten, die wir mitunter nicht gleich in ihrem Sinngehalt verstehen können: „Deine beiden Brüste sind wie junge Zwillinge von Gazellen, die unter den Lilien weiden. Bis der Tag kühl wird und die Schatten schwinden, will ich zum Myrrhenberge gehen und zum Weihrauchhügel. Du bist wunderbar schön, meine Freundin, und kein Makel ist an dir.“ (Hl 4,5-7) Nur ein einziges Mal ist im Hohelied von Gott die Rede; am Ende heißt es: „Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich. Ihre Glut ist feurig und eine Flamme des HERRN, so daß auch viele Wasser die Liebe nicht auslöschen und Ströme sie nicht ertränken können.“ (Hl 8,6+7) Aber auch ohne die ausdrücklich Erwähnung Gottes wird in diesem Buch der Bibel die Liebe zwischen Mann und Frau als eine wunderbare Schöpfungsgabe Gottes gepriesen. In die Heilige Schrift ist dieses Buch allerdings nur gekommen, weil es allegorisch gedeutet wurde, d.h., weil man behauptete, daß die Worte in Wirklichkeit etwas anderes sagen, als sie meinen (auf griechisch: Allegorie). Gedeutet wurde das Hohelied als Beschreibung der Liebe Gottes zu seinem Volk, oder später in der Christenheit als Beschreibung der Liebe zwischen Christus und der Kirche. Dazu bedurfte es allerdings immer wieder sehr viel auslegerischer Phantasie.
6. Das Buch des Predigers (Kohelet)
Die Botschaft des Predigers wird von diesem bereits ganz am Anfang sehr prägnant zusammengefaßt: „Es ist alles ganz eitel (= vergeblich, vergänglich), sprach der Prediger, es ist alles ganz eitel.“ (Pr 1,2) Auch der Prediger versucht, ähnlich wie das Buch der Sprüche, die Wirklichkeit, die er wahrnimmt, zu erfassen und zu verstehen. Dabei kommt er allerdings zu sehr viel skeptischeren Ergebnissen: „Was geschehen ist, eben das wird hernach sein. Was man getan hat, eben das tut man hernach wieder, und es geschieht nichts Neues unter der Sonne.“ (Pr 1,9) Das bedeutet weiter: „Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit.“ (Pr 3,1+2) „Ich sah die Arbeit, die Gott den Menschen gegeben hat, daß sie sich damit plagen. Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur daß der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende. Da merkte ich, daß es nichts Besseres dabei gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben. Denn ein Mensch, der da ißt und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes.“ (Pr 3,10-13) Schon diese Zitate zeigen, wie modern die Gedanken des Predigers gerade heute wieder sind: In ihnen kommt die Stimme eines nüchternen Skeptikers zu Wort, der am Glauben an Gott festhält, aber auch weiß, daß sich aus der Erfahrung der Welt selber kein letzter Sinn des menschlichen Lebens erschließen läßt. Ein besonderes Kleinod dieses Buches ist die Beschreibung der Lebenserfahrung eines älter werdenden Menschen in Kapitel 12, die mit der eindringlichen Mahnung eingeleitet werden: „Denk an deinen Schöpfer in deiner Jugend, ehe die bösen Tage kommen und die Jahre sich nahen, da du wirst sagen: ‚Sie gefallen mir nicht’“ (Pr 12,1). Gerade mit seiner nüchternen Beschreibung der Realität des menschlichen Lebens weist das Buch des Predigers hinüber ins Neue Testament, wenn der Prediger feststellt: „Es ist kein Mensch so gerecht auf Erden, daß er nur Gutes tue und nicht sündige.“ (Pr 7,20)
7. Die Klagelieder
Bei den Klageliedern handelt es sich um fünf Lieder, die nach der Zerstörung Jerusalems im Jahr 587 entstanden sind. Sie wurden wohl in den Klagefeiern derjenigen, die nicht nach Babylon verschleppt worden waren, gesungen. Die Lieder sind verfaßt in der literarischen Form der Totenklage; zugleich findet sich in ihnen aber auch die Hoffnung, daß Gott mit seinem Volk doch noch einmal von vorne anfangen könnte: „Die Güte des HERRN ist’s, daß wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.“ (Kl 3,22+23) Diese Hoffnung besteht aber nur deshalb, weil die Beter zuvor das Gericht Gottes über die Stadt Jerusalem als gerecht und richtig anerkannt haben: Die Gerichtspropheten wie Jeremia hatten eben doch Gottes Wort gesagt, und sie hatten auf diese Worte nicht gehört. So zieht sich das Sündenbekenntnis der Beter wie ein Leitmotiv durch die Klagelieder hindurch.
8. Das Buch Esther
Das Buch Esther schildert, wie der persische König Ahasveros seine Frau verstößt und statt dessen die Jüdin Esther zur Frau nimmt, ohne zu wissen, daß sie eine Jüdin ist. Kurz darauf informiert Esthers Onkel Mordechai seine Nichte darüber, daß ein Günstling des Königs namens Haman einen Anschlag plant, um alle Juden im ganzen Königreich durch eine schwere Verfolgung zu vernichten. Im letzten Augenblick gelingt es Esther mit Mut und Klugheit, dies zu verhindern. Statt dessen wird am Ende Haman hingerichtet, und die Juden dürfen umgekehrt an ihren Gegnern im Reich Rache nehmen. Zum Gedenken an diese Rettung wird bis heute im Judentum das sogenannte „Purim-Fest“ gefeiert, das manche Züge unseres „Karnevals“ hat. Als Lesung des Purim-Fests ist das Buch Esther auch in den alttestamentlichen Kanon gekommen, obwohl in dem ganzen Buch nirgends von Gott die Rede ist. Mit der Botschaft Jesu in der Bergpredigt läßt sich die Freude an Rache und Vergeltung, die am Ende des Buches zum Ausdruck kommt, nur schwer vereinbaren. Es ist aber verständlich, daß dieses Buch als Trostbuch in Zeiten schwerer Unterdrückung gelesen werden konnte, wie sie die Juden gerade in den Jahrhunderten vor der Geburt Christi in ihrem eigenen Lande immer wieder erfahren mußten.
9. Das Buch Daniel
Das Buch Daniel ist in unseren Bibelausgaben den Prophetenbüchern zugeordnet – in der hebräischen Bibel gehört es dagegen zum dritten Teil des Alten Testaments, den „Schriften“. Es besteht aus zwei Teilen: In den Kapiteln 1-6 werden Geschichten geschildert, die sich am babylonischen Königshof nach der Zerstörung Jerusalems abspielen: Daniel und seine drei Freunde werden als Pagen am Königshof ausgebildet und kommen dort wegen ihres Glaubens immer wieder in Konflikte; dennoch halten sie an ihrem Glauben treu fest und werden von Gott immer wieder aus allen Gefahren gerettet. Bekannt sind die Geschichten von den drei Männern im Feuerofen (Dan 3) und von Daniel in der Löwengrube (Dan 6). Daneben hat Daniel auch die Gabe, Träume und geheime Botschaften zu deuten. Dies kommt ihm zugute, als er die Schrift an der Wand zu deuten vermag, die mit einem Mal erscheint, als der König Belsazar ein Festmahl veranstaltet und dabei aus den heiligen Gefäßen des zerstörten Jerusalemer Tempels trinkt. Die dort geschriebenen und von Daniel gedeuteten Worte „Mene mene tekel u-parsin“ sind ja geradezu sprichwörtlich geworden. Der zweite Teil des Danielbuches besteht aus Visionen Daniels, die künftige Geschichte vorherschauen. Vieles aus diesen Visionen läßt sich sehr konkret auf die Erfahrungen der Juden in der Zeit der Unterdrückung durch Antiochus Epiphanes in den Jahren 167-164 v. Chr. beziehen, als dieser den jüdischen Tempel in ein heidnisches Heiligtum umgeweiht hatte. In den Visionen Daniels ist auch von einem die Rede, der „kam mit den Wolken des Himmels wie eines Menschen Sohn und gelangte zu dem, der uralt war, und wurde vor ihn gebracht. Der gab ihm Macht, Ehre und Reich, daß ihm alle Völker und Leute aus so vielen verschiedenen Sprachen dienen sollten. Seine Macht ist ewig und vergeht nicht, und sein Reich hat kein Ende.“ (Dan 7,13+14) Wenn Jesus selber sich immer wieder als „Menschensohn“ bezeichnet, dann nimmt er damit, wenn auch verhüllt, auf diese Ankündigung Daniels Bezug. Am Schluß des Danielbuches finden wir ein deutliches Zeugnis für die Auferstehungshoffnung in den späteren Schriften des Alten Testaments: „Viele, die unter der Erde schlafen liegen, werden aufwachen, die einen zum ewigen Leben, die andern zu ewiger Schmach und Schande. Und die da lehren, werden leuchten wie des Himmels Glanz, und die viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich.“ (Dan 12,2+3) Ein Teil des Danielbuches ist bereits auf Aramäisch verfaßt und nicht auf Hebräisch. Das Aramäische diente in der Zeit nach dem babylonischen Exil als Amtssprache und setzte sich in den letzten Jahrhunderten vor der Geburt Christi immer mehr als Sprache der Bevölkerung in Israel durch. Auch die Muttersprache Jesu ist Aramäisch. Ähnlich wie das Buch Esther soll das Buch Daniel die Juden in einer Zeit der Unterdrückung ermutigen, fest zu ihrem Glauben zu stehen. Es ist kein Zufall, daß im Neuen Testament die Offenbarung des Johannes, die in eine ganz ähnliche Situation hineinspricht, in vielem auf die Bildersprache und die Worte Daniels zurückgreift