3. Die römisch-katholische Kirche (Teil 1)

Bereits in der frühen Zeit der Kirche begann eine Entwicklung, bestimmten christlichen Gemeinden und ihren Bischöfen eine besondere Ehrenstellung einzuräumen, die durch deren Geschichte oder auch durch deren politische Bedeutung bedingt war. Zu diesen Gemeinden gehörte selbstverständlich auch die Gemeinde in Rom, weil sie in der Hauptstadt gelegen war und weil in ihr die Apostel Petrus und Paulus den Märtyrertod erlitten hatten. Bereits im dritten Jahrhundert ist deutlich erkennbar, dass das Wort und die Entscheidung des Bischofs von Rom auch in anderen Gebieten im westlichen Teil des römischen Reiches für die dortigen Christen von besonderer Bedeutung waren. Nach der Aufteilung des römischen Reiches im vierten Jahrhundert erhielt der römische Bischof bald den Rang eines „Patriarchen des Abendlandes“. Mit dem Zusammenbruch des römischen Kaisertums übernahm der Papst (diese amtliche Bezeichnung führten die römischen Bischöfe seit Ende des 4. Jahrhunderts) im 5. Jahrhundert auch Funktionen und Titel des römischen Kaisers; so führte Leo I. (440-461) die Selbstbezeichnung als „Pontifex Maximus“, als „Oberster Brückenbauer“ als päpstlichen Titel ein, den zuvor der römische Kaiser als oberster Priester für die römischen Götter geführt hatte. Neben dem römischen Bischof standen im sechsten Jahrhundert gleichberechtigt noch vier weitere Patriarchen, wobei der Bischof von Rom als „primus inter pares“, als erster unter Gleichen galt: Der Patriarch von Konstantinopel erhielt seine besondere Position dadurch, dass Konstantinopel die Hauptstadt des östlichen Teils des römischen Reiches wurde; bereits auf dem Konzil von Konstantinopel 381 wurde dem Bischof von Konstantinopel der erste Rang unter den Metropoliten gleich nach dem Bischof von Rom zugesprochen. Der Patriarch von Alexandria konnte sich auf die Gründung seiner Gemeinde durch den Evangelisten Markus berufen; bereits auf dem Konzil von Nizäa (325) war dem Bischof von Alexandria die Obergewalt über den östlichen Teil von Nordafrika zugesprochen worden. Der Patriarch von Antiochia konnte sich auf die Gründung seiner Gemeinde durch den Apostel Petrus berufen, und schließlich erhielt 451 auch der Bischof von Jerusalem auf dem Konzil von Chalcedon aus naheliegenden historischen Gründen eine besondere Ehrenstellung. Durch die weitere historische Entwicklung, vor allem durch die Entfremdung von West- und Ostkirche in den beiden Teilen des römischen Reiches verlor die gemeinschaftliche patriarchale Leitung der Kirche durch die fünf Patriarchen immer mehr an Bedeutung; stattdessen erhob der römische Bischof zunehmend den Anspruch auf eine Leitungsfunktion im Sinne einer Lehr- und Jurisdiktionsgewalt über die gesamte Christenheit. Theologisch begründet wurde dies mit der besonderen Stellung des Apostels Petrus unter den Aposteln, besonders mit den Worten Jesu an Petrus in Matthäus 16,18+19; dogmatisiert wurde dieser Anspruch des Papstes jedoch erst 1870 im I. Vatikanischen Konzil. Dort wurde festgelegt: „Wer also sagt, der römische Bischof habe nur das Amt einer Aufsicht oder Leitung und nicht die volle und oberste Gewalt der Rechtsbefugnis über die ganze Kirche – und zwar nicht nur in Sachen des Glaubens und der Sitten, sondern auch in dem, was zur Ordnung und Regierung der über den ganzen Erdkreis verbreiteten Kirche gehört –; oder wer sagt, er habe nur einen größeren Anteil, nicht aber die ganze Fülle dieser höchsten Gewalt, oder diese seine Gewalt sei nicht ordentlich und unmittelbar, ebenso über die gesamten und die einzelnen Kirchen wie über die gesamten und einzelnen Hirten und Gläubigen, der sei ausgeschlossen.“
Von daher ist der Name der römisch-katholischen Kirche zu verstehen: Dass sie „römisch“ ist, dass der Bischof von Rom sie als Papst leitet, ist für sie nach ihrem eigenen Selbstverständnis von entscheidender, wesenhafter Bedeutung. Von diesem Selbstverständnis her versteht die römisch-katholische Kirche dann auch das Attribut „katholisch“, das sich als eine Bezeichnung der Kirche ja bereits im Glaubensbekenntnis von Nizäa und Konstantinopel findet, das wir jeden Sonntag in unserem Gottesdienst sprechen (in der gegenwärtigen deutschen Übersetzung wird dieses Wort mit „christlich“ sehr schwach und missverständlich wiedergegeben): „Katholisch“ im Vollsinn ist für sie nur die Kirche, die in der Gemeinschaft mit dem Papst steht. Dies war damals bei der Abfassung des Nizänischen Glaubensbekenntnisses natürlich noch nicht gemeint: Hier bringt das Adjektiv zum Ausdruck, dass die Eine Kirche Christi alle Zeiten umfasst, nicht auf eine bestimmte Region begrenzt ist, sondern den gesamten Erdkreis umfasst und dass sie in ihrer Lehre verbunden ist mit dieser Kirche aller Zeiten und aller Orte. Das Gegenteil von „katholischer Kirche“ ist von daher die Sekte. Auch als lutherische Kirche verstehen wir uns selber natürlich als „katholische Kirche“; eigentlich wäre es angemessen, wenn wir uns selber beispielsweise als „Katholische Kirche Augsburgischen Bekenntnisses“ bezeichnen würden, weil darin gleichermaßen zum Ausdruck kommt, dass wir uns nicht als eine Sonderkirche oder Neugründung des 16. Jahrhunderts verstehen, sondern uns in der Kontinuität der Kirche aller Zeiten und Orte sehen und dass unsere Identität nicht in unserem Verhältnis zur Person Martin Luthers besteht, sondern in dem Bekenntnis, das damals die Bekenner von Augsburg exemplarisch als Bekenntnis der Kirche abgelegt haben.
Als lutherische Kirche sind wir mit der römisch-katholischen Kirche in vielfältiger Weise verbunden: Wir teilen eine gemeinsame Geschichte: Die Geschichte der Alten Kirche und der Kirche des Mittelalters ist unsere gemeinsame Geschichte, die Geschichte der westlichen Christenheit. Dies wird erkennbar in der gemeinsamen Gottesdienstordnung der Messe, die wir in beiden Kirchen haben und deren Grundstrukturen trotz mancher Unterschiede im Einzelnen doch identisch sind. Dies wird auch erkennbar in der gemeinsamen Anerkennung der drei altkirchlichen Glaubensbekenntnisse, des Apostolischen, Nizänischen und Athanasianischen Glaubensbekenntnisses. In der Reformationszeit haben sich die lutherischen Reformatoren nie als Gründer einer neuen Kirche gesehen, sondern verstanden sich selber als innerkatholische Reformbewegung. Insofern ist die lutherische Kirche auf die römisch-katholische Kirche in besonderer Weise bezogen und hat zu ihr eine besondere Nähe.
Wenn wir nun im Weiteren betrachten, was die römisch-katholische Kirche von der lutherischen Kirche unterscheidet, sollten wir darauf achten, uns bei der Verhältnisbestimmung nicht von althergebrachten Klischees bestimmen zu lassen: Wir können die heutige Existenz der lutherischen Kirche als eigenständiger Kirche gegenüber der römisch-katholischen Kirche nicht mit den Entartungen der Renaissance-Päpste im 16. Jahrhundert begründen, nicht mit dem Finanzierungsmodus des Baus des Petersdoms und auch nicht damit, dass die römisch-katholische Kirche „Werkgerechtigkeit“ lehrt oder „Maria anbetet“. Orientieren sollten wir uns vielmehr an der heutigen Lehre und Praxis, die wesentlich bestimmt ist durch die Entscheidungen des II. Vatikanischen Konzils, eines Reformkonzils, das von 1962-1965 tagte und wesentliche Veränderungen in der römisch-katholischen Kirche beschloss, wobei das Konzil auch eine Reihe von Anliegen der lutherischen Reformation bewusst aufnahm und umsetzte. Ebenso sollten wir die verbleibenden Unterschiede jedoch auch nicht überspielen und schönreden; gerade weil uns als Kirchen so viel miteinander verbindet, tun wir gut daran, auch diese Unterschiede zu benennen und darüber zu sprechen, weil nur auf diesem Wege eine weitere Verständigung und Klärung möglich ist.  
Wenn wir beim Verstehen der Unterschiede nicht an der Oberfläche bleiben wollen, müssen wir ansetzen beim jeweiligen Verständnis des Menschen und seiner Fähigkeiten nach dem Sündenfall. Ein Schlüsseltext hierfür ist eine Formulierung des II. Vatikanischen Konzils: „Wer das Evangelium Christi und seine Kirche ohne Schuld nicht kennt, Gott aber aus ehrlichem Herzen sucht, seinen im Anruf des Gewissens erkannten Willen unter dem Einfluss der Gnade in der Tat zu erfüllen trachtet, kann das ewige Heil erlangen“ (Lumen Gentium II,16). Zwar rechnet auch die römisch-katholische Kirche den heiligen Augustinus zu ihren Kirchenvätern, der in seinen Schriften eindrücklich die völlige Verlorenheit des Menschen ohne Christus bezeugt hat; doch hält sie zugleich daran fest, dass trotz der „Verschlechterung“ des Zustandes des Menschen durch den Sündenfall (so die Formulierung des Konzils von Trient) etwas Gutes am und im Menschen geblieben ist, das es ihm ermöglicht, zu seinem Heil mitzuwirken. Dieses verbliebene Gute wird im Gewissen des Menschen lokalisiert, dem vonseiten der römisch-katholischen Kirche die Kraft zugetraut wird, den Menschen zu einem Handeln anzuleiten, das Gottes Willen entspricht – bis dahin, dass Menschen auch außerhalb der Kirche, ohne die Gnadenmittel das ewige Heil erlangen können, wenn sie „aus ehrlichem Herzen“ (!) Gott suchen und sich darum bemühen, Gottes Willen durch gute Taten zu erfüllen. Eine Besonderheit dieser Konzilsentscheidung besteht dabei darin, dass sie davon ausgeht, dass Gottes Gnade auch außerhalb der Kirche und ihren Gnadenmitteln den Menschen auf geheimnisvolle Weise zugänglich ist. Die Bindung des Heils an die Gnadenmittel Wort und Sakrament und damit an die Kirche, die durch diese Gnadenmittel konstituiert wird, wird von daher in der lutherischen Kirche heutzutage konsequenter festgehalten als in der römisch-katholischen Kirche!
In dem kurzen Satz aus dem Zweiten Vatikanischen Konzil wird zugleich auch ansatzweise erkennbar, dass in der römisch-katholischen Kirche „Sünde“ anders verstanden wird als in der lutherischen Kirche. „Sünde“ ist etwas, was der Mensch tut; sie ist nicht eine Macht, der der Mensch ohne Christus ausgeliefert ist, sondern der Mensch wird dadurch zum Sünder, dass er tathaft sündigt. Gewiss leugnet auch die römisch-katholische Kirche die Erbsünde nicht; doch hat diese nach ihrer Auffassung den Menschen nicht so weit verdorben, dass er nicht zugleich noch ein „ehrliches Herz“ haben und so viel Gutes tun könnte, dass er auch dadurch mit Unterstützung der göttlichen Gnade gerettet werden könnte. Entsprechend vermag die römisch-katholische Kirche auch das vor- und außerchristliche Bemühen des religiösen Menschen, zu Gott zu finden, sehr viel positiver zu bewerten, als dies die lutherische Kirche tut, die keinerlei Möglichkeit sieht, dass der Mensch sich – und sei es auch noch so gut gemeint – von sich aus auf Gott zu bewegt und in irgendeiner Weise mit ihm zusammen zu seinem Heil mitwirkt. Wir stoßen hier auf ein typisches Charakteristikum römisch-katholischen Denkens: Anstelle von Alternativen (Gott oder Mensch, Gnade oder Tun des Menschen, Christus oder menschliche Religiosität) formuliert es immer wieder „Synthesen“: das berühmte römisch-katholische „und“. Genau darum soll es auch im 2. Teil gehen.