5. Die orthodoxen Kirchen (Teil 1)

Zu Beginn der Darstellung der orthodoxen Kirchen sind zwei sprachliche Klärungen notwendig: Das Wort „orthodox“, das heutzutage oftmals einen negativen Klang im Sinne von „starrköpfig“ oder „unflexibel“ hat, bedeutet eigentlich „in rechter Weise Gott verehrend“, „in rechter Weise Gottesdienst feiernd“. Damit kommt schon im Namen selber zum Ausdruck, was das Zentrum allen kirchlichen Lebens, aller Theologie und aller Frömmigkeit in den orthodoxen Kirchen ist: Der Gottesdienst, die Feier der Göttlichen Liturgie. Aus lutherischer Sicht ist „orthodox“ allerdings ebenso wenig eine Konfessionsbezeichnung im engeren Sinne wie „katholisch“. Genau wie wir als lutherische Christen katholisch, wenn auch nicht römisch-katholisch sind, so sind wir auch orthodox, denn die rechte Verkündigung des Wortes Gottes, die rechte Feier des Gottesdienstes ist auch nach lutherischem Verständnis das Kennzeichen der wahren Kirche schlechthin. Dass für orthodoxe Kirchen die rechte Feier des Gottesdienstes von so grundlegender Bedeutung für ihr Selbstverständnis ist, verbindet sie von daher ganz eng mit unserer lutherischen Kirche.
Die andere Klärung besteht darin, dass man im Unterschied zur römisch-katholischen Kirche nicht von „der“ orthodoxen Kirche im Singular sprechen kann. Gewiss verstehen sich die orthodoxen Kirchen als die ursprüngliche christliche Kirche, von der sich alle anderen Kirchen, inklusive der römisch-katholischen Kirche, abgespalten haben. Zugleich existieren die orthodoxen Kirchen jedoch konkret nur in der Gestalt unterschiedlicher Nationalkirchen, die zwar um ihre Zusammengehörigkeit wissen, aber nicht in einer gemeinsamen Organisation miteinander verbunden sind. Dies bedeutet auch, dass man nicht einfach „orthodoxer Christ“ sein oder werden kann, sondern damit zugleich auch immer z.B. als russisch-ortho-doxer oder griechisch-orthodoxer Christ nationalkirchlich eingebunden ist.
Die Unterschiede zwischen den orthodoxen Kirchen und den westlichen Kirchen haben ihre Ursprünge in der Teilung des römischen Reiches in ein weströmisches und oströmisches Reich mit den beiden Hauptstädten Rom und dem „neuen Rom“ Konstantinopel bzw. Byzanz. Während die Kirche im weströmischen Reich von der lateinischen Sprache und Kultur geprägt wurde, prägte das griechisch-byzantinische Denken Kirche und Theologie im östlichen Teil des Reiches. Dies führte im Laufe der Zeit dazu, dass sich die Kirchen im Osten und Westen des Reiches immer mehr unabhängig voneinander weiterentwickelten und auch den Kontakt zueinander immer weniger suchten, bis schließlich am 16. Juli 1054 der päpstliche Gesandte Kardinal Humbert von Silva Candida ein Schreiben auf dem Altar der Hagia Sophia in Konstantinopel niederlegte, in dem die Exkommunikation des orthodoxen Patriarchen von Konstantinopel und damit zugleich der Bannfluch über ihn ausgesprochen wurde und die orthodoxe Kirche als „Quelle aller Häresien“ bezeichnet wird, weil diese nicht die Jurisdiktion des Papstes über sich anerkannte. Ein absoluter Tiefpunkt im Verhältnis von West- und Ostkirche war sodann die Plünderung Konstantinopels im Jahr 1204 durch die Kreuzfahrer des Vierten Kreuzzuges. Erst am Ende des II. Vatikanischen Konzils hoben Papst Paul VI. und Patriarch Athenagoras am 7. Dezember 1965 die gegenseitige Exkommunikation auf; dennoch ist das Verhältnis zwischen den orthodoxen Kirchen und der römisch-katholischen Kirche, nicht zuletzt wegen des Primatsanspruchs des Papstes, weiterhin sehr gespannt.
In der Zeit der Alten Kirche gab es noch gemeinsame, sogenannte Ökumenische Konzilien; diese haben für die Lehre der orthodoxen Kirchen besondere Bedeutung. Zu diesen ökumenischen Konzilien zählen das Konzil von Nicäa im Jahr 325, auf dem das Bekenntnis zur wahren Gottheit Christi ausgesprochen wurde, das Konzil von Konstantinopel im Jahr 381, auf dem die Gottheit des Heiligen Geistes bekannt und das Nicäno-Konstantinopolitanische Glaubensbekenntnis formuliert wurde, das wir noch heute in unseren Gottesdiensten beten, das Konzil von Ephesus im Jahr 431, auf dem die Einheit der Person Christi als Gott und Mensch festgehalten und bekannt wurde, dass Maria von daher zu Recht als Gottesgebärerin bezeichnet werden kann, sowie das Konzil von Chalcedon im Jahr 451, in dem festgehalten wurde, dass Christus eine göttliche und eine menschliche Natur hat, unvermischt und ungetrennt, die sogenannte „Zwei-Naturen-Lehre“. Diese Konzilsentscheidungen wurden auch in der Westkirche und damit auch in der lutherischen Kirche angenommen. Einige orientalische Kirchen stimmten jedoch den Beschlüssen der Konzile von Ephesus und Chalcedon nicht zu, was zum Teil auch einfach daran lag, dass ihre Vertreter aus praktischen Gründen daran gehindert waren, an diesen Konzilen überhaupt teilzunehmen. So zerbrach 431 die kirchliche Gemeinschaft der übrigen orthodoxen Kirchen mit den sogenannten „nestorianischen“ Kirchen und 451 mit den sogenannten „monophysitischen“ Kirchen, die daran festhielten, dass Christus nur eine göttliche Natur besitze, die die menschliche Natur gleichsam in sich aufgesogen habe. Diese „monophysitischen“ Kirchen werden auch als „altorientalische Kirchen“ bezeichnet, zu ihnen zählt auch die Koptische Kirche in Ägypten. Erst in den vergangenen zwanzig Jahren hat es wieder bedeutsame Annäherungsversuche zwischen den „byzantinischen“ und den „monophysitischen“ Kirchen gegeben, bei denen deutlich wurde, wie viele Missverständnisse zu der innerorthodoxen Spaltung im 5. Jahrhundert beigetragen hatten. Dennoch ist diese Spaltung als solche bis heute nicht überwunden.
In der Folgezeit entwickelten sich die orthodoxen Kirchen, die an den insgesamt sieben ökumenischen Konzilien festhielten, immer stärker zu Nationalkirchen. Diese Entwicklung wurde durch die Ausbreitung des orthodoxen Glaubens im slawischen Sprachgebiet, besonders mit der Entstehung der russisch-orthodoxen Kirche Ende des 10. Jahrhunderts verstärkt. Nach dem Niedergang des „zweiten Roms“ Konstantinopel stieg Moskau gleichsam zum „dritten Rom“ auf. Dennoch hatte der Moskauer Patriarch niemals einen ähnlichen Status wie etwa der Papst in Rom; die orthodoxen Nationalkirchen zeichnen sich vielmehr dadurch aus, dass sie jeweils „autokephal“ sind, das heißt, dass sie unabhängig von anderen Kirchen sind und keinem anderen Patriarchen unterstehen. Auch der Patriarch von Konstantinopel besitzt lediglich so etwas wie einen „Ehrenvorsitz“ unter den Patriarchen und Erzbischöfen der orthodoxen Kirchen, einmal ganz abgesehen davon, dass seine Handlungsfähigkeit heutzutage durch die Schikanen des türkischen Staates stark eingeschränkt ist.
Für orthodoxes Denken bezeichnend ist die unmittelbare Verbindung von Volkszugehörigkeit und Kirchenzugehörigkeit, die noch weit über das „volkskirchliche“ Denken im deutschen Protestantismus hinausgeht: Wer Russe oder Grieche ist, ist damit gleichsam automatisch (praktisch natürlich vermittelt durch die Taufe) russisch-orthodox oder griechisch-orthodox. Die orthodoxen Kirchen tun sich von daher sehr schwer mit dem Gedanken, dass es auf „ihrem“ Territorium noch andere Kirchen geben könnte; diese könnten nach ihrem Selbstverständnis höchstens für die Angehörigen anderer Volksgruppen zuständig sein. Als Kirchen im eigentlichen Sinne vermögen viele Vertreter der orthodoxen Kirchen alle nichtorthodoxen Kirchen jedoch auch ganz grundsätzlich nicht anzusehen; dies führt in der Praxis immer wieder auch dazu, dass in orthodoxen Kirchen die Wiedertaufe an Christen vollzogen wird, die aus einer anderen Kirche in die orthodoxe Kirche konvertieren. Dies geschieht leider auch immer noch hier in Deutschland, obwohl die Vertreter der orthodoxen Kirchen 2007 in Magdeburg eine ökumenische Erklärung mit unterschrieben hatten, in der sie die Taufe, die in den anderen Unterzeichnerkirchen (z.B. auch in unserer SELK) gespendet wird, als gültig anerkannt hatten.
Wie bereits erwähnt, ist es kennzeichnend für orthodoxes Denken, dass es die eigene Kirche sehr unmittelbar mit der ursprünglichen apostolischen Kirche identifiziert. Dies hat positiv zur Folge, dass orthodoxes Denken weitgehend immun gegenüber der Gefahr ist, Theologie und Gottesdienst den Strömungen des Zeitgeistes anzupassen. Der Gedanke, dass die Kirche dadurch ihre Zukunft sichern könnte, dass sie jeweils den neusten gesellschaftlichen Strömungen und Moden folgt, ist der Orthodoxie fremd. Die Zukunft der Kirche wird vielmehr allein durch ihren Rückbezug auf die Ursprünge der Kirche gewährleistet. Problematisch an diesem wesenhaft konservativen Denken ist jedoch, dass die Geschichte der eigenen Kirche mitunter überhaupt nicht mehr kritisch reflektiert, sondern vorschnell mit dem Wirken des Heiligen Geistes identifiziert wird. Dies führt dann dazu, dass in zahlreichen orthodoxen Kirchen Altgriechisch oder Kirchenslawisch als Gottesdienstsprache verwendet wird, obwohl diese Sprache von den Gottesdienstteilnehmern selber gar nicht mehr gesprochen und oft auch kaum noch verstanden wird, oder dass man dem alten Julianischen Kalender eine geradezu religiöse Bedeutung zuschreibt und an ihm festhält, obwohl er astronomisch ungenauer ist, wie dies etwa in der russisch-orthodoxen Kirche der Fall ist, deren 25. Dezember nach der Zählung des Julianischen Kalenders mittlerweile unserem 7. Januar nach dem Gregorianischen Kalender entspricht. Auch die rückblickende Verklärung der letzten Zarenfamilie, die mittlerweile in der russisch-orthodoxen Kirche als Märtyrer verehrt werden, ist ein Beispiel für diesen aus unserer Sicht wenig reflektierten Umgang mit der eigenen Geschichte.
Daran, dass die orthodoxe Kirche selber im Laufe der Zeit in ihrer Tradition dennoch manche Veränderungen und Neuerungen vorgenommen hat, wird sie vor allem in Russland durch die Existenz der sogenannten „Altgläubigen“ erinnert, die sich in den Jahren 1666/1667 von der russisch-orthodoxen Großkirche loslösten, als deren Patriarch Nikon veränderte Texte und Riten in der Kirche einführte – in dem, wie wir heute wissen: irrtümlichen Glauben, damit vorherige Fehlentwicklungen und Veränderungen in der russischen Liturgie wieder rückgängig zu machen. Die blutige Verfolgung der Altgläubigen durch die Vertreter der orthodoxen Großkirche gehört zu den dunkelsten Kapiteln der orthodoxen Kirchengeschichte. Erst 1971 hob der Moskauer Patriarch den Bann über den altgläubigen Ritus wieder auf; die altgläubigen Kirchen bestehen jedoch bis heute in Russland weiter.
Die orthodoxen Kirchen waren aufgrund ihres Verbreitungsgebietes in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder selber von massiven Unterdrückungen durch den Islam und im 20. Jahrhundert durch den Kommunismus betroffen. Dabei haben sie einen hohen Blutzoll zahlen müssen, wenn man etwa an das Martyrium unzähliger russisch-orthodoxer Priester oder an den Völkermord an den christlichen Armeniern denkt. Diese Erfahrung hat die orthodoxen Christen in vielfacher Hinsicht geprägt und sollte im Umgang mit ihnen stets mitbedacht werden.